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Wie wir eine echte deutsche Einheit erreichen können Nach vorn schauen!

Die AfD erreichte bei den Landtagswahlen am 1. September in Sachsen 27,5 %, in Brandenburg 23,5 %. Keines der beiden Ergebnisse überrascht, denn sie bestätigten nur die Resultate der Bundestagswahlen von 2017 und der Europawahlen 2019. Die sächsische AfD lag bei allen Umfragen der letzten Jahre bei ungefähr 25 %. Bei beiden Wahlen zeigte sich zudem ein »Görlitz-Effekt«: Bei den dortigen Oberbürgermeisterwahlen wollte die Mehrheit der Bevölkerung einen AfD-Politiker als Stadtoberhaupt verhindern, sodass im zweiten Wahlgang alle anderen Parteien den CDU-Kandidaten wählten. Bei den Landtagswahlen profitierte von diesem Görlitz-Effekt in Brandenburg die SPD, in Sachsen die CDU. Polarisiert sich die Wahl zudem zwischen zwei Personen oder Parteien, dann zeigt sich, dass die AfD noch eine Schippe drauflegen kann: Erreichte die AfD im ersten Wahlgang bei den OB-Wahlen über 9.000 Stimmen, kam sie bei der direkten Konfrontation mit dem CDU-Kandidaten und späteren Sieger auf über 11.000 Stimmen. Ähnlich konnte die AfD auch im Endspurt der Landtagswahlen zwei bis drei Prozentpunkte zulegen. Auch am Rest des bestehenden Bildes hat sich in den letzten Monaten wenig geändert: Die AfD wird besonders in den östlichen Landkreisen von Sachsen und Brandenburg gewählt. Das liegt zum einen daran, dass dort die wirtschaftlichen Probleme größer sind, zum anderen ist dort das Gefühl besonders ausgeprägt, abgehängt zu sein.

Ja, die AfD wird auch von Menschen mit extrem rechter Gesinnung gewählt. Sie hat die NPD aufgesogen, die in Sachsen 2004 noch 9,2 % erhalten hatte. Bei den Landtagswahlen 2019 landete sie bei 0,6 %. Immerhin die Hälfte der AfD-Anhänger sagt selbst, dass sich die Partei nicht genug von rechtsextremen Positionen distanziere. Mindestens die andere Hälfte der AfD-Anhängerschaft kann man daher mit gutem Recht als radikal oder extrem rechts bezeichnen. Und dieser rechtsradikale bzw. -extreme Teil der Wählerschaft ist dabei wohl nicht zufällig ähnlich stark wie der Anteil der Befragten an der sächsischen Bevölkerung insgesamt, der laut dem Sachsen-Monitor besonders starke menschenfeindliche und rechtsextreme Einstellungen hat. Doch dies erklärt eben nicht alles.

Mehr als die Hälfte (52 %) der AfD-Wähler sagen laut Infratest dimap, aus deren Erhebungen alle folgenden Aussagen und Daten stammen, sie machen sich Sorgen, »dass sie ihren Lebensstandard künftig nicht mehr halten können«. Bei den Wählern der Linkspartei sind dies nur 24 %, bei denen der SPD sogar nur 17 %. Und so bitter es ist: Die AfD ist inzwischen die Arbeiterpartei in Sachsen. Nur noch 20 % der Arbeiter wählten die Mitte-links-Parteien, die AfD aber 41 %. Die Hälfte ihrer Wählerschaft entscheidet sich also für die AfD aus Gründen sozialer Unsicherheit oder Ungerechtigkeit. Hier bildet sich auch die große Gruppe von Menschen im Osten ab, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben und dennoch im Alter unter die Armutsgrenze zu fallen drohen. Das stellt die Lebensleistung vieler in der Aufbaugeneration im Osten infrage, gerade in der Gruppe der heute 45- bis 65-Jährigen – also der Altersgruppe, in der in Sachsen am häufigsten AfD gewählt wurde. Die meisten haben sich in dieser Zeit durchgekämpft, etwas Neues gewagt, sich nach einem Scheitern wieder aufgerappelt. Und gleichwohl sagen 78 % der AfD-Wähler, deutlich mehr als der Durchschnitt (66 %): »Ostdeutsche sind an vielen Stellen immer noch Bürger zweiter Klasse.« Viele haben in der Nachwendezeit auf höhere Löhne und Mitspracherechte verzichtet, um ihren Arbeitsplatz zu sichern. Sie sind keiner Gewerkschaft beigetreten. Sie sind bis heute kritiklos gegenüber ihren Arbeitgebern. Oder sie hielten grundsätzlich den Mund. Viele sagen, »früher in der DDR durfte ich auf Arbeit alles sagen, musste aber den Mund halten, wenn es gegen die Regierung ging. Heute ist es umgekehrt«. Sie erwarten vom Staat höhere Löhne, sind aber defensiv, diese höheren Löhne selbst zu erkämpfen. 55 % der AfD-Anhänger (und 50 % der Linkspartei-Wähler) sagen, »zur DDR-Zeit hat der Staat mehr für die Bürger getan als heute«. Bei den anderen Parteien wie der SPD sagen dies weniger als 20 %. Die AfD droht die neue Ost-Partei zu werden. Immerhin die Hälfte ihrer Wähler behauptet, die AfD stehe in der Tradition der ostdeutschen Bürgerbewegung von 1989. Bei der Kompetenz, »die Interessen der Ostdeutschen zu vertreten«, liegt die AfD mit 23 % nur knapp hinter der Linkspartei (25 %), aber vor der CDU.

Dieses Ost-Thema wurde lange unterschätzt. Wenn wir Antworten darauf finden wollen, warum das Misstrauen in und die Distanz zur Demokratie und Politik in Sachsen und Ostdeutschland so groß sind, woher all die Wut kommt und weshalb Rechtspopulisten hier erfolgreicher sind als im Westen, dann müssen wir uns ehrlich und offen mit der Nachwendezeit beschäftigen. Es wird im Nachhinein oft übersehen, wie hart es viele damals traf. Familien gingen kaputt. Arbeitslosigkeit, Scheidungen und psychische Belastungen betrafen sehr viele Menschen. Heute sind die meisten zwar wieder gesundet, aber ein Hass auf »das Westdeutsche« und »die Politik« ist bei nicht wenigen geblieben. 86 % der AfD-Wähler in Sachsen sind mit der Demokratie weniger oder gar nicht zufrieden. Dies zeigt sich allein schon daran, dass diese Partei vor allem frühere Nichtwähler mobilisiert. Fast 40 % der AfD-Wähler waren vor fünf Jahren noch zu Hause geblieben.

Viele tragen Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten mit sich herum, unabhängig, ob sie sich nach 1990 erfolgreich durchgekämpft haben oder nicht. Hartz IV hat diese Gefühle noch einmal verstärkt: In Ostdeutschland war man noch wütender über Hartz IV, weil viele Menschen einfach keine Arbeit finden konnten, obwohl sie es wollten. Wenn es nichts zu fördern gab, konnte man auch nichts fordern. Flüchtlinge wurden am Ende »nur« eine Projektionsflache für eine tiefer liegende Wut und Kritik.

Der radikale Umbruch nach 1990, der ja nicht nur wirtschaftliche Folgen hatte, sondern die gesamte Lebenswelt betraf, hat manche Leute im Osten zudem konservativer gemacht. Dass man sich große und sehr große Sorgen mache, »dass sich die Art und Weise, wie wir in Deutschland leben, zu stark verändern wird«, sagen 84 % der AfDler, unter SPD-Wählern sagen dies nur 29 und in der konservativen CDU nur 34 %. Angst vor dem Verlust der deutschen Kultur und Sprache, Angst vor einem Anstieg der Kriminalität und Angst vor einem größeren Einfluss des Islams – das sind die wichtigsten Triebkräfte.

Die AfD wird vor allem von Männern gewählt, doch die Daten zeigen auch, dass die AfD gerade bei Frauen über 60 Jahren in den Städten relativ hohe Zuwachsraten erzielte – die Angst-Debatte hat funktioniert. Nicht überraschend ist, dass die Zuwanderung für 59 % der AfD-Wähler das wichtigste Thema für die Wahlentscheidung war. Es gibt ein großes Unbehagen, dass sich in den letzten Jahren wenig zum Besseren geändert hätte und die alltäglichen Probleme durch die Politik nicht angegangen würden. »Für Flüchtlinge wird etwas getan, für mich nicht«. So ist das Gefühl vieler. Es ist fatal, dass sich viele auf dieses Spiel einlassen: »Nehmt den anderen was weg, damit ich mehr bekomme.« Streitet euch nur »da unten«! Redet nur über Flüchtlinge! Die »da oben«, die Milliardäre und konservativen Eliten freuen sich drüber, denn dann wird nicht über Umverteilung und soziale Gerechtigkeit geredet!

Die Wahrnehmungen der Menschen

Die Studie »Rückkehr zu den politisch Verlassenen« (Das Progressive Zentrum) hat es auf den Punkt gebracht: »Menschen fühlen sich abgewertet, weil ihnen in ihrer Wahrnehmung Unterstützung vom Staat verweigert wird, Geflüchteten aber sehr wohl angeboten wird, weshalb sie als Reaktion darauf die Zugewanderten abwerten«. Zudem wird die Tatsache, dass sich viele negative Aspekte der eigenen Lebenswelt nicht zum Besseren ändern, »mit einer Problemverweigerung der Politik erklärt. Das Unbehagen über die mangelnde Anerkennung der alltäglichen Probleme durch die Politik, z. B. dass der Lohn nicht zum Leben reicht, wird in dieser Wahrnehmung durch eine zu hohe Priorisierung von außenpolitischen Themen verstärkt«. Drittens präge die Wahrnehmung der Menschen aus den ländlichen, aber auch klein- und vorstädtischen Gebieten ein Wegbrechen von Sozial- und Verkehrsinfrastruktur. »Das Miterleben der Strukturschwächung der eigenen Umgebung, sei es durch das Abmontieren des öffentlichen Briefkastens oder der Streichung von Busverbindungen, führt zu einem persönlichen Entwertungsgefühl.« Gerade Bewohner in Dörfern und ehemals stolzen Klein- und Mittelstädten Ostdeutschlands bzw. der DDR sehen zunehmend ihre Sozial- und Verkehrsinfrastruktur wegbrechen. Wenn Sparkassenautomat und Dorfkonsum verschwinden, dann gelingt es den meisten, ihren eigenen Alltag daran anzupassen. Doch viele erleben dies dennoch als persönliche Entwertung: »Der Staat kümmert sich um so vieles, aber nicht um uns.«

Zudem werden die negativen Folgen der vielen Kreisreformen im Osten sichtbar, die nur auf das Sparen ausgerichtet waren. Landkreise wurden zu riesigen Gebilden zusammengelegt, Polizeireviere eingespart, Finanzämter fusioniert, Krankenhäuser ebenso. Die Verwaltung wurde immer ferner. Kreistage und Gemeinderäte immer unnahbarer. Lokale Politiker haben kaum noch direkten Kontakt zu ihren Bürgern. Manche behaupten sogar, dass der Populismus umso besser gedeihe, je größer die Gemeindezusammenschlüsse und Landkreise werden.

Alle schlechten Erfahrungen und Ungerechtigkeiten entschuldigen natürlich keine menschenfeindlichen Positionen. Doch im Zuge der Aufmärsche von Pegida und der Wahlerfolge der AfD ergoss sich Spott, Schulmeisterei und Häme über den Osten, die hierzulande – wie meist in solchen Fällen – zu einer typischen Wagenburgmentalität führte. In Wagenburgen beginnt man aber keine kritischen Diskussionen unter sich, sondern man verteidigt sich verbissen gegen Angriffe von außen.

Doch der teils überhebliche Blick auf den Osten ist falsch: Es ist eben kein Phänomen, das es allein in Ostdeutschland gibt. Das zeigen die Wahlerfolge rechter Parteien in den USA, in der Türkei, in Italien, in Frankreich oder Osteuropa. Und es erzeugt in all diesen Gesellschaften zusätzlich Wut bei jenen, die sich durch eine »exklusive Welt« – in unserem Fall von »dem Westen« – verhöhnt und missachtet sehen. So beschreibt Pankaj Mishra in seinem sehr lesenswerten Buch Das Zeitalter des Zorns ein immer wiederkehrendes Muster. Solche Gesellschaften reagierten, indem sie »sich selbst genügen, leidenschaftlich patriotisch, trotzig nichtkosmopolitisch und nichtkommerziell« sein wollen. Es sei eine Gegenreaktion gegen den »korrumpierenden Drang, sich über andere zu erheben, die Täuschung der Armen durch die Reichen und das Gefühl, von einer egoistischen Minderheit abgehängt oder zurückgestoßen zu werden«. In den USA nennen übrigens viele Liberale die ländlichen Gebiete zwischen Ost- und Westküste »Flyover States« und meinen, diese seien eigentlich nicht wichtig oder zurückgeblieben, jedenfalls nichts, was zu einem Zwischenstopp einlädt. Genau diese Flyover States wählten mehrheitlich Trump. Man sollte dasselbe nicht mit Ostdeutschland machen – oder mit anderen Regionen in Deutschland.

Was also tun?

Vor allem die sogenannte untere Mittelschicht wurde zu lange vergessen! Es kann nicht sein, dass jemand viele Jahre in die Renten- und Arbeitslosenversicherung einzahlt und bei Arbeitslosigkeit fast genauso schnell bei Hartz IV oder im Alter in der Grundsicherung landet wie jemand, der nie oder nur selten eingezahlt hat. Die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung muss kommen – ohne Wenn und Aber. Und ohne scheinheilige Kompromisse durch die Hintertür und bürokratische Tricksereien. Arbeitnehmer, die länger in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, sollen länger Arbeitslosengeld I erhalten. Und wir brauchen perspektivisch einen Mindestlohn von über zwölf Euro. Das System des Sozialstaats muss gerechter und damit zukunftsfähig gemacht werden. Die Idee, Hartz IV durch ein Bürgergeld zu ersetzen, ist ein erster guter Vorschlag. Eine Vermögensteuer würde zudem helfen, öffentliche Daseinsvorsorge und Infrastruktur besser zu finanzieren.

Bei kulturellen Fragen wie Integration, Klimaschutz oder Gleichstellung muss die SPD wieder eine Brückenpartei sein. Sie kann gar nicht anders. Es ist falsch, wenn manche vorschlagen, die Sozialdemokratie müsse sich für eine Scholle entscheiden. Die breite Bevölkerung diskutiert kulturelle Fragen viel differenzierter als manche Medien oder Interessengruppen dies behaupten. Ja, wir brauchen einen großen Wurf in der Klimapolitik, aber in diesem großen Wurf darf es zu keiner Mehrbelastung der Menschen kommen – sondern wir sollten über Anreize reden, die es Handwerkern ermöglichen, ihre Fahrzeugflotte zu erneuern oder einer Familie, ihr Haus zu sanieren. Und ja, ich will Integration von Flüchtlingen. Wer unter den Flüchtlingen eine Ausbildung macht und sein Leben selber finanzieren kann, der muss die Chance haben, hier zu bleiben. Der darf auch nicht nach dem Ende der Lehre plötzlich abgeschoben werden. Alles andere versteht der Ausbildungsbetrieb nicht und auch nicht die Kolleginnen und Kollegen mit Verstand und Herz. Wer mehrfach kriminell wird und gefährdend das Grundgesetz missachtet, muss ebenso schnell abgeschoben werden. Dazu darf und muss das Asylrecht nicht verschärft werden.

Um eine echte deutsche Einheit zu erreichen, brauchen wir nicht nur eine politische und historische, sondern eine gesellschaftliche Aufarbeitung der Nachwendezeit mit den Menschen, die die Wucht der Brüche und Umbrüche bis heute nicht vergessen und zu einem gewissen Teil nicht verarbeitet haben. In der Nachwendezeit tobte ein Turbokapitalismus durch Ostdeutschland, den manche westdeutsche Berater in Ostdeutschland umsetzten, weil sie daheim im Westen bei einer solchen Politik auf Widerstand gestoßen wären. Diese Zeit muss ein Teil der gesamtdeutschen Geschichte werden, um zu verstehen, wie der Osten zu dem wurde, was er heute ist. Untersuchungsausschüsse sind aber der falsche Weg. Wir brauchen etwas Neues! Wir brauchen eine Bewegung für Versöhnung und keine neue Spaltung! Es geht darum, aus der Aufarbeitung einen Aufbruch in die Zukunft abzuleiten. Wir müssen bedenken: Mit den Betrieben verschwanden oft die sozialen Strukturen, die menschlichen Kontakte. Neue Bindungen wurden selten geschaffen.

Nicht zuletzt brauchen wir einen neuen demokratischen Aufbruch in Ostdeutschland! Ich bin für eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Es war Willy Brandt, der in der alten Bundesrepublik das Wahlalter von 21 auf 18 senkte. Die Argumente gegen eine weitere Absenkung des Wahlalters sind heute übrigens dieselben, welche die Konservativen und die Rechte damals in der alten Bundesrepublik vorbrachten. Wir sollten zudem die demokratische Mitbestimmung vor Ort stärken, indem wir Bürgerhaushalte in allen Gemeinden einführen, um die Politik wieder näher an die Menschen heranzuführen: Warum bekommt nicht jede Gemeinde mit über 1.000 Einwohnern ein umfangreiches Budget für Projekte vor Ort, über welche mit Bürgerbeteiligung frei entschieden werden kann?

Wir können aus der jetzigen Situation lernen; wir können von den Erfahrungen der Nachwendezeit lernen. Im Guten wie im Schlechten. Und wir können vor allem lernen, wie wir bei all den anstehenden Veränderungen mit den Menschen umgehen, sie informieren, ihnen zuhören, sie mitnehmen und ihre eigenen Erfahrungen ernst nehmen. Das muss die große Lehre aus 30 Jahren Wiedervereinigung sein.

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