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© picture alliance/dpa | Rolf Vennenbernd

Nachschlag: Der Gott der anderen

Von der »Multikulti-« zur Einwanderungsgesellschaft

Es war in den 80er Jahren, dass der Begriff der multikulturellen Gesellschaft aufkam. Nicht nur das Multikulturelle selbst war Gegenstand von politischer Auseinandersetzung (die einen begrüßten die Offenheit, die anderen suchten mehr oder weniger nach rigider Begrenzung), sondern auch die Ausgestaltung der Integration war strittig. Das nahm teils bizarre Züge an, etwa wenn die Forderung, dass die Menschen, die nach Deutschland kamen, die deutsche Sprache lernen müssten und auch mit Geschichte und Verfasstheit ihrer neuen Heimat vertraut gemacht werden sollten, mit dem giftigen Begriff des Zwangs zur Assimilation und Einschränkung von Freiheit verknüpft wurde.

Ich erinnere das deshalb so genau, weil ich zwischen 1988 und 1989 an der Universität Oslo studierte. Verpflichtend war die Teilnahme an einem Sprach- und Staatskundekurs mit abschließender Prüfung. Meine Sprachmitschüler waren: eine Französin, deren Mann wegen eines Jobs nach Norwegen gekommen war; eine Pakistani, von der ich nicht mehr erinnere, was sie nach Norwegen brachte, außerdem, es war die Zeit des Ersten Golfkrieges, einige Männer aus dem Irak und (!) dem Iran. Und ich. Was uns einte: Wir wollten – für wie lange auch immer – in Norwegen leben.

Die Debatten um das multikulturelle Konzept, die zeitgleich in Deutschland geführt wurden, empfand ich vor diesem Hintergrund befremdlich und unverständlich.

Das Bild einer multikulturellen Gesellschaft wurde in Deutschland von den einen gefeiert, andere begegneten ihm mit Argwohn bis Ablehnung. Verbanden die einen damit Bereicherung in Form neuer kulinarischer Genüsse, interessanter Begegnungen – gewissermaßen die Buntheit der Kulturen der Welt in der eintönigen Nussschale des Lokalen –, befürchteten andere Überfremdung, eine babylonische Sprachverwirrung und den Angriff auf Bräuche und Sitten, kurz: den Untergang der deutschen Leitkultur. Verlust statt Gewinn.

Heute mutet der Begriff des »Multikulti« geradezu folkloristisch an – er ist der nüchternen Faktizität des »Deutschland ist ein Einwanderungsland« gewichen. Das Gefühl von Ambivalenz (innergesellschaftlich wie auch intrapersonell) ist geblieben. Nun ist das Leben in einer kulturell und religiös pluralen Gesellschaft ja auch kein Idyll, es birgt Unverständnis, Streit und Konfliktpotenzial.

Oder, überspitzt formuliert: Wie lässt sich diese Pluralität ertragen. Die Freiheit der anderen gilt es zu respektieren, sie auch auszuhalten erfordert mitunter Toleranz. Ein Begriff, der manchmal darüber hinwegtäuscht, dass Toleranz erst dann nötig ist, wenn uns etwas zuwiderläuft, wir uns an etwas stören. Da wo wir akzeptieren, brauchen wir keine Toleranz. Auch Gleichgültigkeit macht Toleranz obsolet. Sie ist aber nötig, wenn wir eine Meinung, einen Wert nicht teilen, wenn wir Lebensentwürfe und -äußerungen ablehnen oder uns eine Einstellung schlicht nervt.

Wie lässt sich also in einer multikulturellen, multireligiösen Gesellschaft diese Vielfalt von Weltanschauungen und Werten nicht nur mit dem notwendigen Minimum eines friedfertigen Nebeneinanders leben, sondern tatsächlich ein gemeinsames, verbindendes Fundament schaffen? Für religiös unambitionierte Menschen liegt dieses Gemeinsame vielleicht hinreichend in der deutschen Sprache und in der Anerkennung von Verfassung und Gesetzen. Doch reicht das?

Ich bin aufgewachsen in den 70er Jahren in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen an der Schnittstelle vom Bergischen Land zum Sauerland. 8.000 Einwohner, verteilt auf einem ausgedehnten, ländlichen Gebiet mit zahlreichen Bauernhöfen; ein kleiner Stadtkern mit einer Durchgangsstraße, der von zwei Kirchtürmen, dem der katholischen und dem der evangelischen Kirche, städtebaulich dominiert wurde. Und nicht nur städtebaulich. Das Leben folgte dem christlichen Kalender wie das Jahr den Jahreszeiten.

Karfreitags Fisch

Ich erinnere mich: Karfreitags der Fisch auf dem Teller und getragene, klassische Musik aus dem Radio. Tanzveranstaltungen waren verboten. Dann, »vom Eise befreit sind Ströme und Bäche durch des Frühlings holden, belebenden Blick« und so weiter, die Ostertage. Damals wie heute berührt mich in der christlichen Feier der Osternacht, wie das Dunkel des Kirchenschiffes erst vereinzelt von Kerzen, dann gleißend von Licht erstrahlt.

Ich erinnere mich weiter an den sonntäglichen Gang durch ruhige Straßen zum (katholischen) Gottesdienst und an die plötzliche erwartungsvolle Stille, die sich alljährlich am frühen Nachmittag des 24. Dezembers einstellte. Die christlichen Rituale gaben dem Alltagsleben den Rhythmus und die Lautstärke vor. Ich erinnere, dass die Frage: katholisch oder evangelisch? Bedeutung und Gewicht hatte; Toleranz (!) wurde gegenüber protestantischen Christen geübt (schien also nötig zu sein).

Katholisch-protestantische Mischehen waren eine Bemerkung wert und Weltoffenheit zeigte sich darin, diese zu akzeptieren. Die Toleranz der katholischen Kirche endete allerdings bei den zukünftigen Kindern dieser Ehen: Sie waren katholisch zu erziehen, sonst gab es keine ökumenische Trauung. Ich erinnere auch die Worte meiner Großmutter, dass der neue evangelische Pastor doch »eigentlich« ganz nett sei – das »eigentlich« ein Synonym für überraschenderweise. Ich erinnere schamhaft auch ein gewisses Gefühl von Überlegenheit, gehörte ich doch der wahren, der richtigen Religion an.

Mit dem Erwachsenwerden wurde diese kindlich unmittelbare Glaubenspraxis brüchiger. Ich wurde kritischer und kritisch sein heißt ja bekanntlich, zu etwas in Distanz zu treten. Anlässe für Kritik gab es zuhauf: die Rolle der Frau in der katholischen Kirche, die Frage der Sexualität und Verhütung, die mehr oder weniger unverhohlenen Wahlaufrufe für die CDU von der Kanzel. Mein Katholischsein wurde mir peinlich. Später musste ich mich korrigieren: Das religiös-kulturelle Gefühl der Zugehörigkeit war geblieben.

Religion – eine reine Privatangelegenheit?

Der Glaube ist eine sehr persönliche Angelegenheit und die Frage »Wie hältst Du es mit Gott?« eine der intimsten Fragen. Diese besondere Beziehung respektiert und schützt unser Grundgesetz. Zugleich überschreitet die Religion immer und notwendig diesen persönlichen Raum, stiftet Gemeinsamkeit, wird öffentlich, wird Kultur. Beispiele sind die gesetzlichen Feiertage (wo sie nicht politische Gedenktage sind); die jahrhundertelange Dominanz von Bibelmotiven auf Gemälden, die kirchlichen Bauten, die Sonntagsruhe (»und am siebten Tage sollst du ruh'n«).

Herrscht über die Religion, als zur Sphäre des schützenswerten und zu respektierenden Privaten gehörend, weitestgehend Einigkeit, so ist es um die Frage ihrer Sichtbarkeit im öffentlichen Raum mittlerweile geradezu konträr bestellt. Glockengeläut wird als Lärmbelästigung wahrgenommen, um das Kreuz in Schulen und Behörden, nicht nur an der Wand sondern auch als Halsschmuck, wird heftig gestritten und an dem Kreuz auf der Kuppel des restaurierten Humboldt Forums entzünden sich leidenschaftliche Auseinandersetzungen.

Gleichzeitig erfreut sich die Buddha-Statue in Vorgärten, auf Balkonen, in Eingangshallen und Regalen zunehmender Beliebtheit. Ist das »Religion light«? Ein Wellnessaccessoire für Menschen mit vagem Transzendenzbedürfnis? Die Interpretationsspielräume scheinen hier größer zu sein, kompatibler mit einer Moderne, die das Hohelied der Subjektivität singt. Andere Religionen sind womöglich (über-)fordernder?

Heimatgefühl und Fremdheitserfahrung

Ich erinnere: Glockengeläut und Fastenzeit, Begräbnisritual, Erstkommunion und kirchliche Trauungen. Feste Koordinaten im Jahres- und Lebenslauf.

Was mir das Glockengeläut ist, ist anderen der Ruf des Muezzins, der zum Gebet aufruft: Heimatgefühl. Würde mich der Ruf des Muezzins in meinem Wohngebiet befremden, würde ich mich sogar dagegen aussprechen? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.

Ich erinnere mich an den Umzug fürs Studium in »die große Stadt«. Ich erlebte, dass die kirchlichen Feiertage und Rituale (nur) meine persönlichen waren – anderen waren sie schnuppe. Aus dem türkischen Café an der Ecke dudelte an Heiligabend wie an jedem anderen Tag die Musik, der Karfreitag war kein Tag der Ruhe, des Stillstandes mehr, weil dieser Tag für viele Nachbarinnen und Nachbarn einfach genau das war: ein Tag wie jeder andere.

So, nur mit anderer Erzählung, wird es Zuwanderern zum Beispiel aus muslimischen Ländern gehen.

Die kulturelle (und also religiöse) Vielfalt (einschließlich des Nichtglaubens) hat einen Preis: den der gesellschaftlichen Beliebigkeit bei zugleich womöglich hoher individueller Bedeutung. Oder, anders ausgedrückt: Ist ein fester Glauben nicht immer und notwendig intolerant, insofern ihm der andere Glauben zwangsläufig als falsch gelten muss? Ich weiß es nicht.

Was ich weiß ist: Dass wir (gerade) in einer multikulturellen, multireligiösen Gesellschaft ein tragfähiges Fundament für den Zusammenhalt brauchen. Etwas das uns, bei aller Verschiedenheit eint. Dieses Fundament bietet unsere Verfassung und unser demokratischer Rechtsstaat. Deshalb stößt es gerade in einer ausdifferenzierten, vielfältigen Gesellschaft auf lauten Protest, wenn auch da Erosionen spürbar sind, wenn sich Parallelgesellschaften entwickeln und verfestigen mit ihrem ganz eigenen Wertekodex.

Deshalb schlagen die Wellen von Empörung und Entrüstung (und im Windschatten davon offene Ausländerfeindlichkeit) so hoch angesichts etwa der gewalttätigen Exzesse von Mitbürgern mit zumeist migrantischem Hintergrund an Silvester in Berlin-Neukölln. Und so wie seinerzeit die Frage verpflichtender Deutschkurse ideologisch vereinnahmt und der Integration wenig förderlich diskutiert wurde, so ist heute die manchmal verdruckste Weise, wie diese Straftaten politisch verhandelt werden, wenig hilfreich. Justitia soll blind sein, aber nicht dumm.

Ecce Homo

Das formale juristische Fundament reicht eben nicht aus. Es braucht ein humanes Gemeinsames. Christen nennen es Nächstenliebe.

Der Mensch ist das Lebewesen, das um seine Sterblichkeit weiß. Kinder wissen das noch nicht. Für sie ist der Tod immer der Tod der anderen und ficht sie selbst nicht an. Mit der Pubertät ändert sich das. Ich erinnere mich: Auf einmal ist die da, die Vorstellung, dass wir alle sterben müssen. Für eine Weile war bei jeder Begegnung, auch auf der Straße, im Bus, beim Einkaufen der Gedanke präsent: Der/die wird auch sterben. Das hatte, so verrückt es sich anhört, etwas zutiefst Tröstliches, war Auslöser für eine tiefe Humanität. Der Wunsch danach, das zu verstehen und zu bearbeiten ist der Urgrund für jedwede Religion, für jeden Glauben. Das Bedürfnis nach Transzendenz (oder: die Beantwortung der Sinnfrage) ist es, was uns über alle Glaubensunterschiede hinweg eint. Und das ist ein Gedanke, der uns mit Großzügigkeit und Langmut ausstatten könnte gegenüber dem Anderssein der Anderen.

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