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Nachschlag: In Resonanz mit der Zeit

Wir sind pleite. Das meine ich keinesfalls in einem monetären Sinne, nein, hier geht es um unser Zeitbudget. Sei es die Familie, die wir schon seit Wochen nicht mehr besucht haben, die Freundin, welche auf das Kaffeetreffen wartet, die staubigen Sportschuhe oder auch die knitterigen Klamotten im Wäschekorb. Ständig heißt es: Das mache ich morgen, nächste Woche, in einem Monat schaffe ich es; sorry, mein Tag ist so voll, ich habe keine Zeit mehr übrig. Umschuldungen funktionieren nicht mehr. Eigentlich sind wir schon längst (zeit)insolvent.

Die Geschichte der Moderne ist eine Geschichte des Zeitsparens. Es gibt kaum eine Technologie, bei der es nicht darum geht, Zeit einzusparen oder sie effektiver zu nutzen. Heutzutage können wir einfach den Wasserhahn aufdrehen, wir haben Turbo-Mais entwickelt, verfügen über Schnellladestationen für unsere E-Autos, wir essen Fast Food und machen Speeddating. Je zeitsparender, desto attraktiver scheint es für den Konsumenten. Zeit ist zu einem Verkaufsschlager geworden und trotzdem haben wir gefühlt immer noch zu wenig Zeit. Woran könnte das liegen?

Je reicher eine Gesellschaft an materiellen Gütern wird, umso mehr scheint der Zeitwohlstand zu sinken. Übermäßiger Güterbesitz bedeutet auch, dass wir mehr produzieren, mehr konsumieren, mehr verteilen und damit einhergehend auch viel mehr Möglichkeiten sowie Kontakte haben. Ganz klar also, dass für jede Einzelheit dann weniger Zeit übrigbleibt. Wenn wir heutzutage gleichviel täten wie unsere Vorfahren vor 300 Jahren, wären wir reich an Zeit. Die Menge der Dinge, die wir erledigen, ist im Laufe der Jahre aber in einem noch größeren Maße gewachsen als die Geschwindigkeitszunahme. Eine Nachricht über das Smartphone mag dreimal so schnell wie eine Postkarte geschrieben werden können, wenn davon aber zehnmal so viele versandt werden, nimmt die eigene Netto-Zeit ab.

Gestörtes Verhältnis zum Umgang mit Zeit

Das Tragische an diesem Zustand ist, dass die Gesellschaft ihr Versagen im Zeitmanagement sich selbst als Niederlage anrechnet. Das geht sogar so weit, dass wir die Zeit als unseren persönlichen Feind ansehen. Nicht umsonst spricht man von einem »Wettlauf mit der Zeit« oder davon, dass einem die Zeit »davongelaufen« sei. Die Resonanz auf die Zeit ist heute eine ganz andere geworden: Am Ende eines Tages wird nicht mehr wahrgenommen, was alles geschafft wurde, stattdessen wird beklagt, dass die Wäsche schon wieder liegengeblieben ist, wir keine Zeit hatten, mit den Kindern etwas zu basteln oder die Mutter anzurufen. So wird nicht mit Freude auf die Uhr geblickt, dass die eine Aufgabe schneller als gedacht erledigt wurde und nun eine kleine Pause eingelegt werden kann, sondern man erschrickt und überlegt hektisch, was jetzt noch gemacht werden könnte.

Die Welt ist zu einer Welt der To-Do's und »Bucketlists« geworden. Resonanzwahrnehmung? Fehlanzeige. Ein Treffen mit einer Freundin wird schlichtweg als Termin abgehakt, wie auch die Wanderung im Urlaub. Hauptsache es wurde etwas erledigt und es gibt einen Stichpunkt weniger auf der Liste. Ja, es stimmt, das psychische Wohlbefinden ist in den letzten Jahren immer mehr in den Vordergrund gerückt, aber im Alltag findet ein Hinterfragen der eigenen Gefühle in den meisten Augenblicken doch tatsächlich kaum statt. Beim Putzen wird ein Podcast angemacht, am Mittagstisch läuft das Radio im Hintergrund und zum Einschlafen brauchen wir auch irgendeine Art der Beschallung. Wir fragen uns nicht, ob es uns gerade Spaß macht oder mit Glück erfüllt. Nein, wir wollen einfach etwas machen, es erledigen und aus dem puren Schaffen ein positives Gefühl ziehen, auch wenn der Weg dahin eine Qual war. Solange unser Leben nicht langweilig wirkt, ist doch alles gut…

Das ist natürlich sehr verallgemeinert dargestellt, aber auf diese Weise kommen wir einem Lösungsansatz des Pleite-Problems näher. Wir müssen jetzt nicht alle dringend entschleunigen, denn sicherlich wird es Menschen geben, denen der übervolle Terminkalender gefällt. Wichtig ist, dass ein Resonanzraum in unserer Lebenszeit existiert. Resonanz, also der Beziehungsmodus, in dem gegenseitige Schwingungen erzeugt werden und der die Relation mit dem äußeren Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt sowie im inneren zwischen seinem Körper und seiner Psyche meint. Erst wenn der Körper und die Seele oder der Mensch und die Umwelt miteinander in Einklang gebracht werden, kann ein Resonanzraum entstehen.

Resonanzräume schaffen

Damit wir aus der Pleite rauskommen, müssen Räume für mentale Freiheit, für den Einklang zwischen Mensch und Umwelt geschaffen werden. Es muss Momente geben, in denen wir etwas nicht bloß abarbeiten, sondern in Kontakt mit dem Leben sein wollen. Findest du beispielsweise darin körperliche und gedankliche Freiheit, morgens zur Arbeit zu laufen, den Abwasch oder das Rasenmähen nicht mit einer Maschine, sondern händisch zu erledigen, dann mach es, auch wenn es länger dauert.

Es geht darum, den Stress zu reduzieren, denn Stress vermindert die Möglichkeit in Resonanz mit seiner Umwelt zu treten. Stresserfahrungen entstehen nicht immer aus einer Frage nach Ressourcen, sondern häufiger aus einem Sequenzierungsproblem, wenn wir also das Gefühl haben, alles gleichzeitig erledigen zu müssen. Wir sind beispielsweise bei der Arbeit, die Schule ruft an, weil das Kind sich verletzt hat und abgeholt werden muss, gleichzeitig hat der Chef eine Aufgabe übertragen, die schnellstmöglich erledigt werden muss und du zudem deiner Kollegin nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern auch noch psychische Unterstützung geben möchtest.

Dieses gleichzeitige Anhäufen von Aufgaben, deren Relevanz schwer abzuschätzen ist, ist eine Überforderung. Wenn aber neben den Resonanzräumen auch die Priorisierung klar wäre, hätte man am Ende des Tages vielleicht immer noch ein Gefühl der Erschöpfung, aber der Stressfaktor wäre wesentlich geringer.

Sein Zeitbudget zu planen, ist sicherlich kein leichtes Unterfangen, aber im Sinne der eigenen Gesundheit und für die Beantwortung der Frage nach einem guten Leben muss das Budget selbst auf die individuellen Bedürfnisse angepasst werden.

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