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Nachschlag: Soviel Zeitenwende war nie

Es sind inflationäre Zeiten. Zwar hat das Institut der Deutschen Wirtschaft letztens die Überwindung des Inflationshöhepunkts frohlockend angekündigt. Doch offenbar hat die Inflation eben auch die Fähigkeit, in nicht-ökonomische Sphären überzuschwappen. So etwa in Bezug auf den Begriff der »Zeitenwende« im publizistischen Bereich.

Fragt man, ganz im Geiste einer Zeitenwende, den künstlich-intelligenten Chatbot »ChatGPT« »Was passiert, wenn ein Begriff inflationär verwendet wird?«, lautet dessen Antwort:

»Erstens: Bedeutungsverwässerung. Die ursprüngliche Bedeutung von Begriffen kann verloren gehen oder verwässert werden. Wenn ein Begriff häufig und unspezifisch verwendet wird, kann er seine präzise Definition und Konnotation verlieren, was zu Verwirrung oder Missverständnissen führen kann.

Zweitens: Abnutzungseffekt. Wenn Begriffe häufig und wiederholt verwendet werden, kann es dazu führen, dass sie abgenutzt oder abgestumpft wirken. Insbesondere in der Werbung kann dies dazu führen, dass Werbebotschaften an Wirkung verlieren, wenn die gleichen Begriffe und Phrasen immer wieder verwendet werden.

Drittens: Überstrapazierung. Wenn ein Begriff immer und überall genutzt wird, kann es dazu führen, dass er seine Wirkung verliert und von den Menschen nicht mehr ernst genommen wird.

Viertens: Verfälschung von Inhalten. Inflationäre Verwendung von Begriffen kann auch dazu führen, dass sie für politische Zwecke oder zur Manipulation von Meinungen missbraucht werden. Durch gezielte Verwendung von Begriffen können bestimmte Assoziationen oder Stimmungen hervorgerufen werden, was dazu führen kann, dass Menschen in ihrer Wahrnehmung beeinflusst werden.«

Abgesehen von den unzähligen journalistischen Arbeiten, die sich im letzten Jahr mit der »Zeitenwende« auseinandersetzten, nahm das Schlagwort auch in den Regalen der Buchhandlungen beinahe monopolistische Züge an. Dies ist kein Zufall, erinnern wir uns doch alle an die vielleicht historische Rede des Bundeskanzlers vom 27. Februar 2022.

Vermeintlich historisches Gewicht

Dementsprechend ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Gründe hierfür mit marktwirtschaftlichem Kalkül vonseiten der Verlage zu erklären sind. Eine Neuerscheinung verkauft sich nun mal besser, wenn der Titel historisches Gewicht impliziert. Aber wenn plötzlich alle Sachbücher von sich behaupten, Geschichte in der Gegenwart zu schreiben, entsteht doch die Gefahr, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr erkennt. Nicht umsonst übersetzt sich »Inflatio« aus dem Lateinischen mit »Sichaufblasen«.

Die jüngst ausgerufene Zeitenwende zeugt außerdem von keinerlei begrifflicher Originalität, denn wir finden sie schon bei Nietzsche oder Thomas Mann. Des Weiteren fällt auf, dass bereits 2019, als die Welt noch »in Ordnung« war, die historische Monografie Zeitenwende 1979 – Als die Welt von heute begann von Frank Bösch erschien, wie wenn der Autor das Ende der heutigen Welt vorwegnehmen wollte. Von Zeitenwende zu Zeitenwende eben. Auch die Prominenzen Michel Friedman und Harald Welzer bedienten sich in Zeitenwende – Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde (2020) des Begriffs, noch bevor er im Trend war.

Lag eine Zeitenwende also irgendwie in der Luft oder ist schlicht jede Zeit gut, um eine Zeitenwende – wohlgemerkt in Buchform – zu proklamieren? Woher wissen wir, ob es Zeitenwenden überhaupt gibt? Und vor allem: Kam das Huhn oder das Ei zuerst? Stammt die Scholz’sche Begriffsaneignung etwa von diesen Büchern oder beziehen sich die Bücher auf (frühere) politische Ausrufungen einer Zäsur?

Matthias Herdegen, Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Uni Bonn, macht in Heile Welt in der Zeitenwende (2023) zu solchen Fragen einen ausgewogenen Auftakt: Die »Zeitenwende« hätte zwar »die vertrauten Muster unseres Denkens tief erschüttert« und zwinge uns, »unbequeme Fragen nach der inneren und äußeren Sicherung unserer freiheitlichen Ordnung« zu stellen. Nichtsdestotrotz, oder gerade deswegen, liest sich das Werk als Plädoyer für einen »zuversichtlichen Realismus«, den Deutschland jetzt anscheinend dringend benötigt. Herdegens Neuerscheinung stillt die Sehnsucht nach kühlen Köpfen in der Republik mit einer nüchternen und weitsichtigen Rechtsanalyse zur »Zeitenwende«.

Um zu verstehen, was in den Tagen, Wochen und Jahren vor der russischen Invasion innerhalb der russländischen Föderation geschah, welche innenpolitischen Dynamiken sich entwickelten, oder schlicht »wie Putin tickt«, dürfte Zeitenwende – Putins Krieg und die Folgen (2022) die treffenden Antworten liefern. Der Autor Rüdiger von Fritsch war zwischen 2014 und 2019 deutscher Botschafter in Moskau und dürfte somit der Diplomat gewesen sein, der die Entwicklungen im Kreml seit der Krim-Annexion aus unmittelbarer Nähe betrachtet hat.

Mangelnde Distanz aufgrund seiner diplomatischen Position könnte unter Umständen die Schwachstelle dieses Buches sein, jedoch zugleich auch seine Stärke. Denn Fritsch scheut offensichtlich nicht davor zurück, die außenpolitischen Fehler seiner Regierung, der EU und der Vereinigten Staaten beim Namen zu nennen.

Dass die Gegenwart als historisch relevant gelten wird, mag zwar im Interesse des Zeitgeistes sein, jedoch bleibt es eine gewagte These, da dies für Zeitgenossen häufig gar nicht erkennbar ist. Dafür ist in der Regel nämlich die Zunft der Historiker/innen zuständig. Diese haben generell die Tendenz, bezüglich politischer Aktualitäten eher die Ruhe zu bewahren. Viel lieber blicken sie auf längere Zeitspannen. Und dies führt häufig dazu, im Rückblick die Überbewertung angeblicher Zeitenwenden zu erkennen. Vielmehr suchen sie die Kausalitäten anhand von Tendenzen, Entwicklungen und Wandel, die sich nicht selten über ganze Jahrhunderte erstrecken.

In dieser Tradition steht auch Zeitenwende: Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft (2022) der österreichischen Wirtschaftshistorikerin Andrea Komsloy. Sie glaubt erkannt zu haben, dass »wir uns im Übergang vom industriellen zum kybernetischen Zeitalter« befinden, indem sie den Exkurs durch »Zyklen der Konjunktur«, das heißt vom Jagen und Sammeln zur Agrarrevolution und von da an zur Industrialisierung wagt. Trotzdem ist Vorsicht immer dann geboten, wenn Historikerinnen meinen, die Zukunft verstanden zu haben.

Zur durchaus zentralen Frage, von welcher Zeitenwende der Kanzler letztendlich sprach, scheint Jürgen Wagner von der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Im Rüstungswahn – Deutschlands Zeitenwende zu Aufrüstung und Militarisierung (2022) eine plausible Antwort gefunden zu haben: Eine Zeitenwende wäre nirgendwo anders zu diagnostizieren als beim Elefanten im Raum, nämlich dem Militärisch-Industriellen Komplex. Doch auch er relativiert das Gewicht der Zeitenwende, indem er die Entwicklung eines Landes nachzeichnet, welches angeblich seit mehreren Dekaden an einer »Enttabuisierung des Militärischen« (nach Gerhard Schröder) arbeite und es schließlich auf »neue Weltmachtansprüche« abgesehen habe. Demnach wären die 100 Milliarden nur der Höhepunkt einer bereits eingeschlagenen, geradlinigen Laufbahn, die der Bedeutung einer eigentlichen Wende nicht gerecht wird.

Breit aufgestellte Meinungsvielfalt

Will man in ernsten Zeiten den Verstand nicht verlieren, darf der Humor nicht zu kurz kommen. Deshalb haben die Karikaturisten Heribert Lenz und Achim Greser die deutschsprachige Buchlandschaft zum Jahresende mit Zeitenwende in Deutschland – Die Chronik des Jahres 2022 bereichert. Damit wir die Absurdität des Ganzen nicht vergessen.

Zunächst also die gute Nachricht: Trotz immer wiederkehrender Vorwürfe einer »gleichgeschalteten Meinungsmache«, stellt sich zumindest abseits der Tagespresse das genaue Gegenteil als wahr heraus. Eine breit aufgestellte Meinungsvielfalt, aus verschiedensten Blickwinkeln kommend, ist in den Neuerscheinungen des letzten Jahres durchaus vorhanden.

Gleichzeitig lässt sich das Problem inflationärer Begrifflichkeiten erkennen: »Zeitenwende« ist eher als Gefühlslage zu verstehen, nicht aber als Tatsache. Sie kommt so lange mit keiner ihr innewohnenden Bedeutung daher, bis sie von jemandem hineininterpretiert wird. Der Begriff kann also geformt, ausgeweitet oder begrenzt werden, wie es den Autor/innen am besten zugutekommt. Erinnern wir uns an die vier Gefahren inflationärer Begriffe der Künstlichen Intelligenz – Bedeutungsverwässerung, Abnutzungseffekt, Überstrapazierung und Verfälschung von Inhalten – und behalten diese während der Lektüre im Hinterkopf, dann ist die Inflation der Zeitenwende kein Problem, sondern eine Chance.

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