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© picture alliance / Sergey Nivens/Shotshop | Sergey Nivens

Nachschlag: Wie ich mich in die Streitkultur verliebte

Wir suchen Streit. Wir alle. Die Lust am Provozieren, die Genugtuung, wenn dem Gegenüber die Argumente ausgehen, verleiten uns dazu. Auch Sie, die Sie sich diesen streitbaren Text zumuten. Dem wohlig warmen Gefühl der Überlegenheit widerstehen? Gelingt Harmoniesüchtigen, die Auseinandersetzungen so gar nichts abgewinnen können. Aber zu welchem Preis?

Lifestyle-Magazine werben damit, wie man mit seinem Partner »richtig streitet« und wollen im Grunde ihrer meist weiblichen Leserschaft beibringen, Konfliktsituationen gänzlich zu vermeiden. Nicht deren Eskalation. Meine eigene Großmutter verbat sich scheinheilig jeglichen familiären Streit, »um den Frieden zu wahren«. Moderne Tipps, um Streitigkeiten »souverän zu meistern«, klingen nach Paartherapie. Oder Kindererziehung: Selbst Kinderbücher wollen Heranwachsenden Mittel und Wege an die Hand geben, wie man Streitigkeiten umgeht. Sind wir so friedliebend – oder tun wir nur so?

Wo nur um der reinen Zorneswut willen und ohne Not gestritten wird, geht die Sinnhaftigkeit der Reibung verloren, keine Frage. Gleichzeitig lässt sich nicht leugnen, dass Katharsis unerlässlicher Bestandteil derselben Reibung ist. Die alten Griechen gönnten den Frauen mit Nemesis immerhin eine »Göttin des gerechten Zorns«. Auf Krawall gebürstet in jede Konfrontation zu gehen, verursacht Schaden. Aber heikle Diskussionen lassen sich aus unserem komplexen Alltag nicht herausdeklinieren. Im Gegenteil, Meinungsverschiedenheiten signalisieren schlicht Diskussionsbedarf.

Handlungsauftrag der Kategorie Streit ist verpflichtendes Infragestellen von Vorgaben und Entscheidungen anderer. Ebenso will das Eintreten für sich selbst gelernt sein, für eine Sache, die aristotelisch betrachtet »größer ist als die Summe ihrer Einzelteile«. England, selbsternanntes Mutterland der Debattiertradition, pflegt seit dem 18. Jahrhundert mit Debattierclubs Rhetorik, Argumentationsfähigkeit und den Partizipationsgedanken seiner Bürger, später auch Bürgerinnen. Kontroversen, so der Tenor, sollen Resonanzräume bieten, nicht dem Besserwissertum frönen. Mit klaren Spielregeln versehen entwickelt sich aus dem profanen Disput was man heute anerkennend Streitkultur nennen darf. Mag auch die Realität dieser Theorie nicht immer entsprechen.

Konfliktscheue Gemüter sind hier fehl am Platz. Sie gehen möglichst geduckt durch's Leben – und bloß nicht auf Social-Media-Plattformen. Erkennt man im Streit im besten Fall die Einladung zum Dialog, vergeht man sich hier systematisch an der Idee eines fairen Wettstreits um die besseren Argumente oder wissenswerte Inhalte. Auf Twitter lässt sich dem Beifall klatschen, der losstürmt und wild seine Follower nach allen Regeln der Kunst aufzumischen weiß. Übertreibung und Zuspitzung stehen auf der Tagesordnung. Kontroversen sorgen hier für Klicks. Kein Wunder, dass Kommentare, die Abwägung und Einordnung vermissen lassen, das Netz fluten.

Bei Twitter bin ich zwiegespalten. Ich bin kommunikationsfreudig, will mich nicht abschotten. Aber vergebe ich mangels eigenem Twitter-Account tatsächlich die Chance, die Macht meiner Worte zu demonstrieren, mit ihnen zu überzeugen und nicht einfach durch unaufhörliches Mitdiskutieren zu überreden? Mein Anspruch, Substanzielles mit der Welt zu teilen, andere Ansichten herauszufordern, zerschellt an der Widerwärtigkeit dieses schmutzigen Mediengeschäfts, das mit der Zeit den Reiz der Durchsetzungsfähigkeit schmälert und einem den Charakter verdirbt – oder zumindest die Laune.

Angst vor der Bedeutungslosigkeit

Getrieben von der Angst, ohne genügend Aufmerksamkeit in der historischen Bedeutungslosigkeit zu verschwinden, lassen sich zu viele Menschen auf Wortgefechte ein, die nicht selten in personalisierte Attacken münden. Sich im Zweifel Verleumdung und dreisten Anschuldigungen auszusetzen, die als Shitstorm wie Starkregen auf einen herunterprasseln, muss man ertragen können. Öffentliche Personen mögen als häufig Attackierte ein dickeres Fell haben, umgekehrt sind sie Vorbilder. Die Qualität ihrer Stellungnahme bemisst sich an ihrer konkreten, achtsamen Wortwahl.

Der Verweis auf den aggressiven, unsäglich rauen Ton à la Trump erübrigte sich hier, wäre da nicht die hartgesottene Truppe ausdauernder Kandidaten, die um die Bezeichnung »toxische Männlichkeit« regelrecht buhlt. An vorderster Front steht heute mehr denn je Russlands tickende Zeitbombe Wladimir Putin. Seine Devise: je autoritärer der Auftritt, desto unwahrscheinlicher seine Verletzlichkeit. In den Worten des deutschen Rappers Marteria, dessen Name unter anderem auf den lateinischen Begriff für Stoff zurückgeht, läuft diese Feststellung auf die Schlussfolgerung hinaus: »Du bist hart, du willst streiten, wir haben leider ein Problem/Die Stadt ist zu klein für uns beide, einer muss gehen.« (Du willst streiten von 2011)

Die nur bedingt sozialen Medien liefern den Stoff, aus dem der raumgreifende Hang zur Selbstglorifizierung und zum Starrsinn ist.

Streiten können ist eine Kompetenz. Darin liegt eine didaktisch sinnvolle, emanzipatorische Kraft, die man sich ebenso aneignen sollte wie Lesen oder Schreiben. »Wokes« Blockadetraining wiederum entbehrt jeder Moral. Bei allem Verständnis für zivilen Ungehorsam als nonverbale Ausdruckweise: Der geplante Einsatz von Gewalt gerade seitens Aktivisten, die sich selbst als verantwortungsbewusst wahrnehmen, ist niemals geeignet als Ersatz für eine Diskussion, egal wie unverschämt subjektiv diese geführt wird. Zu ihrem Wesensmerkmal gehört das Aushalten anderer Ansichten. Was sich als schwierig erweist, wenn man sich qua steinerner Weltanschauung im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt.

Dass wir in einer Informationsgesellschaft leben, suggeriert eine normative, aber nicht vorhandene Nüchternheit im sachlichen Konfliktlösen. Konstruktiv sollen unser Handeln und unsere »Sprechakte« sein. Widerworte, sofern in ihrer Sprengkraft nicht zu emotional, wären in diesem Konzept nichts anderes als kritisches Denken, um den Einigungsprozess in Gang zu setzen, und damit tugendhaft. Doch das bleibt größtenteils Wunschdenken. Auch das von Philosophen.

Im Sinne der Diskursethik könnten gesellschaftliche Streitfragen etwa zur Stammzellenforschung in institutionalisierten Diskussionsverfahren erörtert werden. Die von Habermas geforderte »Einhaltung der Geltungsansprüche« solle durch eine Moderation gewährleistet werden und so zur Konfliktbearbeitung beitragen. Diese Organisationsweise erinnert an TV-Duelle in Wahlzeiten und den unter jungen Erwachsenen beliebten Debattiersport. Ganz sicher ein löblicher, vielleicht nur nicht ganz zielführender Ansatz.

Streitkultur ist Informationskultur ist Bildung? Dieser Dreiklang exisitiert da, wo man sich Irrtümer eingestehen kann, anstatt sich in haltlose Argumente zu verrennen. In der Figur des hauptberuflichen Streithahns – des Politikers, der Politikerin – kann das tragische Züge annehmen: Verachtung statt Respekt gegenüber konkurrierenden Parteianhängern. Und alles vor Publikum. Gefährlich wird es einmal mehr bei Politikern, deren Rechthaberei auf Kosten der Demokratie geht. Und nicht nur dort.

Im Medienrummel droht die Glaubwürdigkeit der Informationsgewinnung und -vermittlung verloren zu gehen. Kritik daran darf somit nicht an der Schelte sozialer Medien Halt machen. Wo Journalisten im öffentlichen Diskurs ein Wörtchen mitreden wollen, fehlt es manchmal an professioneller Distanz zum politischen Betrieb. Sich auseinandersetzen, Abstand wahren durch eigens herbeigeführte Streitgespräche findet dann nur bedingt statt. Wird so die presserechtliche Kontrollfunktion ausgeschaltet? Normalerweise ist es nicht die Stärke von Journalisten, über ihr eigenes Fehlverhalten zu sprechen. Sie betonen lieber das der anderen. Dumm nur, dass Fehler zuzugeben zum Kern einer offenen Streitkultur gehört. Alles andere ist Etikettenschwindel.

Halten wir fest: Diskursdeformation besteht einerseits in der Verweigerung des Diskurses, andererseits in der verstörenden Bereitschaft zur Konfliktreproduktion. Dem Vernunftmenschen erscheint so manche mediale Plattform deshalb als gedankliche Abfallverwertungsmaschinerie. Geschuldet einer egoistisch grundierten »Komm, hau raus!«-Mentalität.

Wofür es sich zu streiten lohnt? Demokratische Zustände, soziale Infrastruktur, ökologisches Bewusstsein. Darauf zumindest sollten sich alle einigen können. An Ausgestaltung und Umgang mit diesen Forderungen hapert es ohnehin. Der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld brachte das Phänomen schleppender und nicht immer manierlicher Debatten auf die Formel: »Democracy is messy.«

Solange aus regelbasierten, demokratischen Strukturen eine funktionale Gewaltenteilung hervorgeht und keine Diktatur der Mehrheit erwächst, lassen sich die Kosten der Unübersichtlichkeit und Langatmigkeit verschmerzen. Dem Damoklesschwert der »gesellschaftlichen Spaltung« sollte dabei nicht mehr Wirkmacht zugestanden werden als nötig.

Bleibt die Frage, wer teilhaben darf am Meinungsaustausch. Wer ist würdig, mit am Tisch zu sitzen und angehört zu werden? Von »falscher Ausgewogenheit« ist bei manchem Blogger die Rede, wenn in Talkrunden, die sich durchaus der Einseitigkeit verdächtig machen, das Meinungsspektrum vermeintlich inakzeptable Positionen umfasst. Auch dann ist Ausschluss nicht verhandelbar. Von derart befremdlichen Annahmen abgesehen sollte vielmehr interessieren, ob der Stimme einer wissenden Elite oder informierter Arbeiterkinder mehr Gewicht zugesprochen wird. Freie Rede alleine reicht nämlich nicht, um die Verhältnisse zum Besseren zu wenden. Es geht um Deutungshoheit und Führungsanspruch zugunsten eines Gemeinwillens.

Das rare Gut der Einsichtigkeit hilft, im Gespräch zu bleiben. Als noch viel bedeutendere zivilisatorische Errungenschaft angesehen wird, sich – auch dank internationaler Organisationen – zunächst wortgewaltig gegenüberzutreten, nicht bewaffnet. Wie fragil Konstruktionen dieser Art sind, ist aktuell unverkennbar. Sie abzuschaffen, steht zum Glück aber nicht zur Debatte. Der Flurschaden wäre unermesslich.

Lässt sich abschließend sagen, wie viel Meinungsvielfalt – oder Meinungswahnsinn – ein demokratisches System und die ihm zugedachte Streitkultur verträgt? Ich bin uneins mit mir selbst. Abwägend, nicht aufwieglerisch sollen die Kommentatoren ans Werk gehen, lautet meine Hoffnung. »Der Text ist klüger als sein Autor.« Heiner Müllers berühmter Aphorismus ist kein schlechter Vorsatz. Eines steht für mich jetzt schon fest: Eine Streitkultur, die diesen Namen verdient, gibt es nur ohne Sprechverbote.

Doch es gilt auch, was der Kabarettist und Liedermacher Mark-Uwe Kling sagt: »Ihr habt da was falsch verstanden/zu meinem Verdruss/Meinungsfreiheit heißt, dass man seine Meinung kundtun darf/nicht, dass man es muss.« (aus: Das Känguru-Manifest)

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