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© picture alliance / Fabian Stratenschulte | Fabian Stratenschulte

Wiedergelesen: Aldous Huxley und George Orwell Nah an der Realität

Friedrich Nietzsches Zarathustra hat, den Menschen zur Warnung, ein Bild des letzten Menschen gezeichnet: »›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.« Der letzte Mensch hat alles erreicht, hat sich seine Umwelt untergeordnet. Er lebt bequem ein Leben voller Annehmlichkeit: »Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben«, sagt er. Man »hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit«. Außerdem »ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben«. Mehr brauchen die letzten Menschen für ein angenehmes Vegetieren am Abend der Zivilisation nicht. »Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann«, so sprach Zarathustra.

Der letzte Mensch bei Nietzsche blinzelt. Aldous Huxley blinzelt zwar nicht, wenn er die Konsequenzen der Industrialisierung (oder eher der fortgeschrittenen Technologien und Wissenschaft) für die Zukunft prognostiziert und die Sünden der Gegenwart subsumiert. Trotzdem ist seine Vision der Welt im Jahr 2541 in Schöne neue Welt zwar eine Warnung und eine Dystopie, allem voran ist es aber eine Satire, die ins Herz der Idee der Spaß- und Konsumgesellschaft trifft. Huxleys Schöne neue Welt und 1984 von George Orwell: zwei Visionen der Zukunft und kritische Gegenwartskommentare, die etwa zur selben Zeit entstanden sind und die nicht unterschiedlicher sein könnten.

George Orwell schrieb seine Dystopie 1984 in den Jahren 1946 bis 1948 und veröffentlichte sie 1949. Seine Vision der Welt ist die einer totalitären Überwachungsgesellschaft, strikt reglementiert und reguliert, in einer Welt, die sich im Dauerzustand eines Krieges befindet. Für die Grundbedürfnisse der Bewohner Ozeaniens, wie Essen, Arbeit oder Wohnen, wird gesorgt. Eine nicht näher bekannte Parteielite lenkt das Geschehen; die Gedankenpolizei überwacht die Massen, wobei man nie wissen kann, ob und wann man überwacht wird.

Der Preis, den man für die wenigen Annehmlichkeiten bezahlt, sind der Konformismus und die Selbstaufgabe persönlicher oder individueller Ziele und Freiheiten zugunsten des Kollektivs und übergeordneter Ziele: »Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Ignoranz ist Stärke.« Wer sich fügt, gehört dazu. Wer sich nicht fügt (…) Nun, Menschen verschwinden, beobachtet bisweilen der Hauptprotagonist und zeitweise Nonkonformist, Winston Smith.

Indoktrination ist essenziell, damit die dystopische Überwachungsgesellschaft in der totalitären Diktatur des 1984 funktioniert. Doch anders, als in Huxleys Dystopie der britischen Insel aus dem 25. Jahrhundert wird die mentale Manipulation nicht mit weichen Mitteln, wie unterbewusster Konditionierung, Suggestion oder Schlafhypnose erreicht, sondern mit Folter und Gewalt. Die Umerziehung von Winston Smith nach seinem kurzen Ausflug gen Nonkonformismus ist brutal, seine Rückkehr zum Konformismus wird durch Schmerz und Verstümmelung erzwungen.

Beide Arten der Indoktrinierung scheinen dennoch ungemein effektiv zu sein. Aldous Huxley erkannte, dass seine Vision realistischer und naheliegender ist, als es ihm ursprünglich erschien – die Kastengesellschaft von Alphas, Betas oder Epsilons basierte auf biologischer Manipulation. Er war der Überzeugung, dass künftig gerade die mentale Konditionierung der Kinder eine wesentliche Rolle für die Entwicklung der Konsumgesellschaft spielen wird.

Dabei ist es nicht nur so, dass Technologie und Entwicklungen von heute unsere Visionen der Zukunft beeinflussen – ebenfalls unsere Vorstellungen von der Zukunft wirken sich darauf aus, wie wir uns heute verhalten und welche Technologien wir protegieren. In Schöne neue Welt darf es technologischen Fortschritt geben. Aber nicht zu viel. Und nicht zu schnell.

Freiheit in Gefahr

Es wäre unverantwortlich, Warnungen von Dystopisten zu ignorieren. Unsere Freiheit, wie Huxley betonte, sei nämlich ständig in Gefahr. Doch auch, wenn wir davon sprechen, die Freiheit zu bewahren, sie wiederzuerlangen oder sie zu verteidigen, ist die Freiheit nur in einer Gesellschaft sinnvoll, in der man das Recht hat, Entscheidungen selbst zu treffen. Und in der man die Wahl zwischen signifikant unterschiedlichen Handlungsalternativen hat.

Hierbei ist eine Unterscheidung von David Graeber und David Wengrow in ihrem Buch Anfänge von Bedeutung, wonach drei Grundformen der Freiheit zu unterscheiden sind – die Freiheit, sich zu bewegen, die Freiheit, Befehle zu missachten, und die Freiheit, soziale Beziehungen neu zu organisieren. Diese Freiheiten, so Graeber und Wengrow, seien für jeden Menschen selbstverständlich, es sei denn, er wurde entschieden zum Gehorsam erzogen. Freiheit wird zum leeren Begriff in einer Gesellschaft, die auf Bestreben der (politischen) Eliten ihren Bürgern eine optimale Fürsorge und maximale Sicherheit bieten kann, perfekt organisiert und verwaltet, geordnet und reguliert, reglementiert und absolut sicher ist.

Die Realität kann nämlich nicht nur durch Rebellion oder Anarchie unterdrückt und vernichtet werden – eine Rebellion, die in 1984 durch den vermeintlichen Konterrevoluzzer Emmanuel Goldstein verkörpert wird –, sondern auch durch ein Übermaß an Regulierung, wie es durch Big Brother bei Orwell oder in der schönen neuen Welt praktiziert wird. Wir lassen uns, so Huxley, einfach zu bereitwillig manipulieren.

Die Mechanismen moderner Gesellschaften, dies verdeutlichen die Visionen von Orwell und Huxley, bringen uns dazu, unsere Unfreiheit zu lieben. Sie würden uns das trügerische Gefühl vermitteln, dass wir frei entscheiden, obwohl wir nur das tun, was uns gesagt wird: »Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?« – so fragt der letzte Mensch und blinzelt« (Zarathustra).

Es ist nicht nur so, dass man die Sklaverei akzeptiert oder ihr freiwillig zustimmt. In Schöne neue Welt bemerkt man nicht mal, dass man versklavt wird. »Ich bin doch glücklich«, antwortet Lenina Crowne auf die Frage, ob sie frei sei. In Huxleys entworfener Dystopie ist das oberste Prinzip die Konditionierung und Prädestinierung, die Menschen dazu zu bringen, dass sie ihre unumgängliche soziale Bestimmung lieben. Egal, ob sie (wie Alphas) die Aufzuchtcenter leiten, oder (wie Epsilons) Hilfsaufgaben erledigen und nicht mal lesen lernen.

Die Parallelen zwischen 1984 und Schöne neue Welt enden auch nicht dort, wo die wenigen Individuen, die sich ihrer Unfreiheit und Sklaverei bewusst werden und zu Nonkonformisten mutieren, den freiwilligen oder unfreiwilligen Tod finden. Es sind die restlichen 99,9 Prozent der systemkonformen Bürger, die nicht verstehen, worum es eigentlich geht, wenn man ihnen Freiheit oder auch nur Veränderung anbietet.

Es scheint zwecklos, die neue Ordnung zu hinterfragen, ob sie auf omnipräsentem Glück und Drogen, wie in Schöne neue Welt oder auf Repressalien und Angst wie in 1984 basiert. Es ist lediglich möglich, die Mittel zu hinterfragen, die zu der Ordnung geführt haben und die letztendlich eine Vernichtung jeglicher Ziele mit sich bringen – bis auf das alleinige Ziel der Aufrechterhaltung des Status quo.

Zuckerbrot und Peitsche

Heute fragt man sich, welcher der beiden Autoren, George Orwell oder Aldous Huxley, die Zukunft treffender vorhergesagt hat. Steuert die Menschheit eher auf eine totalitäre Welt à la 1984 zu, oder leben wir womöglich schon in der hedonistischen schönen neuen Welt? Wie die Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury vermutet, werden die Menschen eine Mischung aus Huxley und Orwell bekommen. Der Grund dafür sind sowohl die sozialen Medien, die zwar keinen Big Brother, dafür aber eine Menge Little Brothers als ein ultimatives (Selbst-)Überwachungsmodell mitbringen. Ergänzt um Verbraucher- beziehungsweise Social-Credit-Systeme, die in den USA, in China oder Deutschland an Popularität und Verbreitung gewinnen. Sie stellen sehr wirksame Instrumente dar, um für Konformismus und Gehorsam zu sorgen.

Das »Zuckerbrot«, erklärte Cynthia Fleury, also die Belohnung für das regelkonforme Verhalten, sei die Spaß- und Konsumgesellschaft, an der die gut Benoteten teilhaben dürfen. Die soziale Bewertung kann sowohl negativ als auch positiv ausfallen. Und Letztere bringt viele kleine Privilegien mit sich: Die persönliche Freiheit wird gegen kleine narzisstische und materialistische Vorteile eingetauscht.

Die »Peitsche«, also die Bestrafung für den (sozialen) Ungehorsam, könnte laut Cynthia Fleury tatsächlich an Orwell in einer abgeschwächten Version erinnern: Wenn man das nicht tut, was von einem erwartet wird, wird man an den Rand der Gesellschaft gedrängt. In Deutschland bedeutet beispielsweise eine sogenannte »negative Auskunft« der Scoringgesellschaft Schufa zurzeit, dass man keinen Kredit erhalten, kein Girokonto eröffnen und keine Wohnung mieten kann. Ebenfalls bleibt verborgen, welche Kriterien die Schufa wann für ihre Bewertung hinzuzieht.

Der Science-Fiction-Autor und Futurologe Stanislaw Lem hat im Roman Eden die Bezeichnung »Prokrustik-System« erfunden, um die Anpassung von Individuen oder Gesellschaften an vorgegebene Muster zu beschreiben, wie es Prokrustes, ein Räuber aus einer altgriechischen Sage, mit seinen Gefangenen mittels Prokrustesbett zu tun pflegte: Waren sie zu groß für das Bett, kürzte er ihre Körper auf dessen Länge; waren sie zu klein, streckte er sie, bis sie die Länge des Bettes erreichten.

In den totalitären Gesellschaften des 20. Jahrhunderts stand die Prokrustik für das Kreieren eines neuen, angepassten Menschen. Ähnlich, wie das Prokrustik-System, das den Menschen auf das vorgegebene Maß zuschneiden oder strecken sollte, ist das Bestreben der Scoring- und Bewertungssysteme letztendlich auch nur die Herstellung einer falschen Gleichheit. »Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus«, sagt der letzte Mensch in den Worten Zarathustras und erinnert sich: »Ehemals war alle Welt irre.« Und dann – blinzelt er.

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