Das Thema Klimawandel ist nicht nur deshalb so populär, weil es den katastrophalen Einfluss des Menschen auf seine Umwelt so plakativ vor Augen führt, sondern auch, weil man glaubt, mit dem CO2-Ausstoß eine Stellschraube zu haben, um diese Entwicklung aufhalten oder begrenzen zu können. Seitdem verströmt »jene zarte, luftige Säure«, als die Goethe diesen Stoff in seinen Wahlverwandtschaften beschrieb, einen beißenden Geruch und soll ausgetrieben werden. Leider hat die moderne Industriegesellschaft in den letzten zwei Jahrhunderten schon große Teile des zuvor über Jahrmillionen in Form fossiler Brennstoffe wie Kohle, Öl und Erdgas gebundenen Kohlenstoffs verbrannt und damit freigesetzt. Ein erheblicher Teil der daraus gewonnenen Energie wurde zur Ausbreitung der Menschheit und zur Umwandlung natürlicher Landschaften in landwirtschaftliche Nutzflächen, Siedlungen und Verkehrswege genutzt, ein weiterer großer Anteil für den Verkehr von Menschen und Waren.
Und was weg ist, ist weg. So lassen sich gerodete Wälder und Regenwälder, die sich in Jahrtausenden entwickelt haben, nicht durch großflächige Aufforstungen ersetzen, weil man die Artenvielfalt, die durch die Abholzung der Bäume verloren gegangen ist, nicht einfach nachsäen kann. Die Umweltschäden, die durch die Menschheit im Zuge der Industrialisierung und der industriell betriebenen Land- und Forstwirtschaft entstanden sind, beschränken sich nicht auf den Entzug oder die Freisetzung einzelner Stoffe, sondern sind systematischer Art, weil Biotope zerstört, beschädigt oder so umgestaltet wurden, dass ein Großteil der dort vorhandenen Arten nicht mehr oder nur noch in fragilen Restpopulationen überleben konnte.
»Tatsächlich sind wir Zeuge und zugleich Verursacher des größten weltweiten Rückgangs der biologischen Artenvielfalt seit dem Ende der Dinosaurier«, schreibt der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht in seinem über 1.000 Seiten umfassenden Buch Das Ende der Evolution. Er spricht von Tausenden und Hunderttausenden akut vom Aussterben bedrohten Arten, denen »ein weitgehend unbekanntes Millionenheer oft namenloser Tiere« bald folgen werde: »Bevor der Mensch umlenken kann, werden ihre Lebensräume verschwunden sein (…) Bald werden sämtliche Ökosysteme – egal ob Regenwälder oder Riffe, Savannen oder Seen, Flüsse oder Meere, Gebirge oder Inseln – ihre Natürlichkeit und mit dieser die in ihnen lebenden Organismen eingebüßt haben.« Schuld daran sei die »unangenehme Wahrheit«, dass sich die inzwischen mehr als 7,5 Milliarden Menschen bis Ende des Jahrhunderts auf voraussichtlich elf Milliarden vermehren werden.
Glaubrechts Spezialgebiet ist die Biodiversität, und damit ist er selbst ein Beispiel für jene kulturelle Evolution der Menschheit, die sie dem Naturzwang enthoben zu haben schien. Wildnis wandelte sich von etwas bedrohlich Unheimlichem zu einer scheinbar unerschöpflichen Ressource. Als »Kulturwesen« hat sich der Mensch die Erde untertan gemacht, indem er in einer immer differenzierter arbeitsteiligen Gesellschaft Fähigkeiten und Mittel entwickelte, die seine angeborenen weit übersteigen. Die Evolution unserer technischen Fähigkeiten hat sich von unserer Physis und deren langsamer Generationenfolge seit langem abgelöst, aber die Hyperkomplexität unserer Gesellschaft hat sich auf Kosten unserer biologischen Umwelt entwickelt, und nicht nur die Zahl der Menschen wächst, sondern auch deren Ansprüche steigen immer weiter.
So hat die Überbevölkerung der Erde neben dem quantitativen auch einen qualitativen Aspekt. Wir sind zu viele und wollen zu viel, wobei der größte Teil der Menschheit den Standards der »westlichen« Länder weit hinterherhinkt. Mag es auch technisch möglich sein, elf Milliarden Menschen mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen, so erscheint es ausgeschlossen, ihnen ein Leben auf dem Niveau des globalen Nordens zu ermöglichen. Statt wie Greta Thunberg auf einigen Tonnen künftigen Plastikmülls über den Atlantik zu segeln, um an Klimakonferenzen teilzunehmen, sollten sich die Menschen allgemein vornehmen, anspruchsloser und vor allem deutlich weniger zu werden. Hätten sie damit rechtzeitig begonnen, so würden die Ebenen Nordamerikas noch immer den Bisons gehören, aber dann wäre ein sehr lesenswertes Buch nie geschrieben worden.
Wirkungsweisen der Natur
Aldo Leopolds 1949 veröffentlichtes Werk Ein Jahr im Sand County ist eine Mischung aus essayistischem Tagebuch, Naturbeschreibungen und Reflexionen eines zu seiner Zeit führenden Forstexperten der USA. Es führt in die sandigen Marschen Wisconsins, wo Leopold eine Farm erwarb, auf der er die verheerenden Eingriffe des Menschen in die Ökosysteme Nordamerikas vor Augen hatte. Während er den Stamm einer umgestürzten Eiche durchsägt, durchschneidet das Sägeblatt Jahre und Jahrzehnte ihrer Wachstumsringe und dringt damit immer tiefer in deren Chronik der lokalen Naturgeschichte ein, der Leopold die menschliche zur Seite stellt: »Jetzt frisst sich die Säge in die Jahre 1910 bis 1920, ein Jahrzehnt der Bewässerungsträume, als Dampfbagger die Marschen im Mittelwesten trockenlegten, damit Farmen entstehen konnten, doch stattdessen Aschehaufen produzierten.« Bis ins Jahr 1865 reichen die Wachstumsringe zurück, bis zu Dürren und Waldbränden, Überflutungen und hemmungslosen Jagden, die Enten und Präriehühner dezimierten und die Wandertaube ausrotteten. Und es geht weiter zurück. Auf Basis von Pollendiagrammen erzählt Leopold von einem 20.000 Jahre währenden »Präriekrieg«, der ohne menschliche Beteiligung stattfand. Es war ein Krieg zwischen Wald und Grasland, in dem auf grandiose Geländegewinne verheerende Verluste folgten. Feuer spielte darin ebenso eine Rolle wie Mäuse und Kaninchen, die im Sommer Präriegräser fraßen und im Winter die Eichenschösslinge, die das Feuer überlebt hatten. Füchse und Greifvögel wiederum fraßen die Nagetiere und trugen ihren Teil zur Entstehung von Vielfalt bei: »Ohne dieses Hin und Her der Verbündeten – weshalb auch kein klarer Sieg zustande kam – besäßen wir heute das reiche Mosaik der Prärie- und Waldböden nicht, das sich auf der Karte so dekorativ ausnimmt.«
Das Bemerkenswerte und Lehrreiche an diesem Beispiel ist, dass sich dieses Hin und Her nicht nur über Jahrhunderte und Jahrtausende hinzieht, sondern auch das Mit- und Gegeneinander von Arten umfasst, deren Lebensspanne teils kaum ein Jahr, teils Jahrhunderte beträgt. Das Bild einer unberührten und in sich ruhenden Natur ist ein Beobachtungsfehler, ein Stillleben, das eine Momentaufnahme als Zustand eines natürlichen Gleichgewichts erscheinen lässt.
Aldo Leopolds Buch ist ein Kleinod des amerikanischen Nature Writing und der von Judith Schalansky im Verlag Matthes & Seitz herausgegebenen Reihe Naturkunden. Es wirft ein Licht auf die seltsame amerikanische Angewohnheit, stolz darauf zu sein, ein Land, dessen Naturschätze unerschöpflich schienen, »urbar« gemacht zu haben. »They paved paradise / And put up a parking lot«, heißt es dazu bei Joni Mitchell, aber die ist ja auch Kanadierin.
Vor dem globalen Kollaps?
Was Mitchells Text verschweigt, gehört seit den Arbeiten Edward O. Wilsons zur Grundlage der Biodiversitätsforschung. Bevor man auf dem Paradies einen Parkplatz gebaut hat, musste man das entsprechende Areal abtrennen. Parzellierung allein aber mindert schon die Artenvielfalt, weil mit der Isolierung und Verkleinerung von Populationen das Aussterberisiko steigt. Vor allem, wenn sie dem Menschen nahe sind. Laut Glaubrecht verbraucht die Menschheit inzwischen ein Viertel der sogenannten Nettoprimärproduktion der gesamten Biosphäre, also der durch Pflanzen erzeugten Biomasse, gemessen in Kohlenstoff.
Zusammengenommen machen wir Menschen inzwischen »beinahe zehnmal mehr Biomasse aus als alle wildlebenden Säugetiere«. Unsere Nutztiere wiederum brächten zusammen mehr als zehnmal so viel auf die Waage wie alle wildlebenden Säugetiere und Vögel. So seien die häufigsten Säugetiere heute vor allem Rinder, Schweine und Ziegen. Wobei sich der Nutzen all dieser Tiere seit der Motorisierung weitgehend auf die Verwertung ihrer Körper beschränkt. Kaum weniger utilitaristisch erscheint der Umgang mit Menschen, wenn in scheinheiliger Weltoffenheit die Zuwanderung als Heilmittel für Bevölkerungsrückgang und Fachkräftemangel propagiert wird. Gegen Überbevölkerung, akuten Wohnraummangel und Überlastung der Ökosysteme hilft kein Fachkräftetransfer, der das verhängnisvolle Wachstum weiter vorantreibt.
Dieses Wachstum aber läuft auf einen globalen Kollaps zu, den Glaubrecht in einer »Rückschau auf 2062« antizipiert: Überschwemmungen aufgrund des steigenden Meeresspiegels haben Großstadtregionen unbewohnbar gemacht; die auf wenige Getreidesorten konzentrierte Landwirtschaft hat sich nicht auf Dauer gegen Infektionen durch Pilze, Bakterien und andere Schädlinge schützen lassen. Neben der Grundversorgung mit Nahrung ist auch die mit Trinkwasser zusammengebrochen. Die einen Menschen sind verhungert oder verdurstet, die »anderen an den Folgen der Knappheit, von gräulichen Krankheiten bis zu den ewigen Verteilungskämpfen und -kriegen« gestorben. In Richtung der Nahrung und Waffen hortenden Survivalists und Preppers sei hier hinzugefügt, dass sich mörderische Zahnschmerzen oder eine Blinddarmentzündung weder mit Dosenöffnern noch Schusswaffen bekämpfen lassen.
Glaubrecht hat auch eine alternative Version des Jahres 2062 zu bieten, in der die Menschheit vernünftig und rechtzeitig reagiert hat – vor allem durch Konsumverzicht, Geburtenkontrolle und umfassende Transferleistungen der »reichen Nationen« an die Länder des Südens und daraus finanzierte umfangreiche Schutzmaßnahmen zum Erhalt der Biodiversität. Die aber ist als Produkt der Evolution auch die Folge eines Kampfes ums Dasein. Das Aussterben von Arten gehörte immer dazu, nur wurden diese im natürlichen Rahmen von anderen verdrängt oder verwandelten sich selbst in andere. Die Natur liebt die Eisbären nicht, und auch unsere menschlichen Schicksale sind ihr egal. Unsere viel gescholtene »Konsumgesellschaft« hingegen ist auch eine wohlwollende und wohltätige, die Behinderten und Kranken, Verfolgten und Benachteiligten Versorgung und Zuflucht, Zuwendung und Sicherheit gewährt und die auch Lebensbedingungen für Eisbären in Tierparks zu erhalten sucht, die ihnen in der Natur verlorengehen. Das verursacht nicht nur eine hohe Belastung durch Steuern und Sozialabgaben, sondern auch einen ausufernden Verbrauch natürlicher Ressourcen. Wo es um den Bestand der Artenvielfalt und um das Fortleben der Menschheit zugleich geht, geht es immer auch um die Errungenschaften unserer kulturellen Evolution, um den Erhalt einer wohlwollenden Gesellschaft. Unmenschlichkeit bringt uns der Natur nicht näher. Wer die Artenvielfalt bewahren und dafür breite Zustimmung finden will, muss deshalb vor allem auch die Sozialbindung des Eigentums, die besondere Verpflichtung der Reichen und Konsumfreudigen im Blick behalten.
Matthias Glaubrecht: Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten. C. Bertelsmann, München 2019, 1.072 S., 38 €. – Aldo Leopold: Ein Jahr im Sand County (Aus dem Englischen von Jürgen Brôcan). Matthes & Seitz, Berlin 2019, 258 S., 34 €.
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