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Deutsche Moral, Außenpolitik und die Menschenrechte Neinsager und Besserwisser

Als 2022 die Olympischen Winterspiele und Paralympics in Peking stattfanden, schlugen schon Monate zuvor in Deutschland die Wellen hoch. Nicht nur wegen der Tennisspielerin Peng Shuai, die einen chinesischen Politiker öffentlich der sexualisierten Gewalt beschuldigt hatte und plötzlich von der Bildfläche verschwand, offensichtlich von den Behörden zum Verstummen gebracht. Auch die Unterdrückung der Uiguren in der Provinz Xinjiang sowie fehlende Presse- und Meinungsfreiheit wurden diskutiert und das Internationale Olympische Komitee (IOC) für die Vergabe in ein Land, das »unsere Werte« nicht teilt, kritisiert. Zeitgleich wurde der Boykott des FIFA World Cup Qatar 2022 gefordert, insbesondere gestützt auf fehlinterpretierte Sterberaten von Migrant*innen. Seriöse Medien bis hin zu den öffentlich-rechtlichen Sendern griffen die Zahlen ohne Quellenprüfung und nachzudenken beziehungsweise nachzurechnen auf.

»Vom völkerverbindenden Charakter des Sports wäre nichts übriggeblieben.«

Deutsche Sportfunktionäre und Politiker überboten sich mit dem Ruf nach neuen Vergaberichtlinien bis hin zu dem Vorschlag einer Liste mit menschenrechtlich unbedenklichen Ländern für künftige Vergaben. Wie diese Liste auszusehen hätte angesichts der Tatsache, dass drei Viertel der Weltbevölkerung in Autokratien lebt und Demokratien wie Mexiko, Indien, Ungarn – um nur einige zu nennen – nicht unbedingt leuchtende Beispiele für die Menschenrechtslage sind, wurde nicht gesagt. Vom völkerverbindenden Charakter des Sports wäre mit einer solchen Ausschlussliste nichts übriggeblieben.

Was bei alldem nicht beachtet wurde: Die Spiele 2022 waren 2015, der FIFA World Cup 2022 sogar schon Ende 2010 vergeben worden. Damals spielten in der Tat menschenrechtliche Erwägungen keine Rolle. Inzwischen hatte sich allerdings einiges getan, nicht zuletzt auf Druck der internationalen Zivilgesellschaft. IOC und FIFA arbeiteten 2022 noch Altlasten ab, hatten ihre Vergabeprozesse aber längst grundlegend geändert. Die 2011 vom Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen beschlossenen Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (UN-Leitprinzipien) sowie Compliance- und Transparenzvorgaben wurden in den Ausrichterverträgen verankert. Die FIFA hatte zudem in Zusammenarbeit mit der globalen Gewerkschaft Building and Woodworkers International und der International Labour Organisation in Qatar eine weitgehende Änderung des berüchtigten – übrigens 1936 von den Briten (!) eingeführten – KAFALA-Systems, unter dem Migrantenarbeiter*innen die Pässe abgenommen werden und ein selbstbestimmter Arbeitsplatzwechsel ausgeschlossen ist, erreicht. Dass es in der Umsetzung vielfach noch hakte, wurde in Deutschland pauschal als Beleg für ein Scheitern der Reformen gewertet.

»Deutschland stand mit der oft maßlosen Kritik an IOC und FIFA weitgehend allein da.«

Von einigen europäischen Ländern abgesehen stand Deutschland mit der oft maßlosen Kritik an IOC und FIFA allein da. Die Nationalspieler mit Hand vor dem Mund und die One–Love-Binde auf der Tribüne in Qatar waren dann nur noch der traurige Schlusspunkt einer Selbstisolierung. Die internationalen Reaktionen reichten von Kopfschütteln bis Spott. Die Beurteilung des Landes war einseitig und selbstgerecht – hatte Qatar im Sommer 2021 nicht wesentliche Unterstützung beim Ausfliegen deutscher Ortskräfte aus Afghanistan geleistet? Und was war mit Robert Habecks Verbeugung beim Bitten um Gaslieferungen? Die Ignoranz der Entwicklungen im internationalen Sport zeigten Deutschland als außenpolitisch naiv und sportpolitisches Leichtgewicht.

Diese Kulmination 2022 kam nicht aus dem Nichts. Sie gründete in selbstgewisser jahrelanger Überschätzung der eigenen Integrität. Sportfunktionäre hierzulande distanzierten sich von Korruptionsskandalen bei der FIFA und anderen internationalen Sportverbänden mit Verweis auf die eigenen hehren Werte und meinten, so ihren Kopf aus der Schlinge ziehen zu können. In Wirklichkeit sorgten sie jedoch dafür, dass das Ansehen des gesamten Spitzensports in Deutschland sank, ein realistischer Umgang mit Chancen und Herausforderungen des internationalen Sports unterblieb und die Einflussmöglichkeiten der deutschen Sportpolitik wurden deutlich reduziert.

Schließlich waren die Deutschen an jahrzehntelangen Fehlentwicklungen im Sport nicht unbeteiligt, im Gegenteil. Vor gut 50 Jahren unterliefen adidas und PUMA mit heimlichen Geldüberweisungen zum Beispiel an Leichtathlet*innen für das Tragen der jeweiligen Schuhe den bis 1982 geltenden Amateurparagrafen der Olympischen Charta. So machten deutsche Unternehmen die Missachtung von Regeln im internationalen Sport salonfähig. 1982 gründete der damalige adidas-Chef Horst Dassler in der Schweiz die Vermarktungsagentur International Sport & Leisure (ISL). Nach deren Konkurs 2001 zeigte sich, dass von der ISL in großem Umfang Schmiergelder an Offizielle der FIFA, der Leichtathletik und weiterer Sportarten geflossen waren. Zur selben Zeit war das deutsche Team Telekom tief verankert in der Dopingkultur im Radsport.

Auch menschenrechtlich gab und gibt es Defizite. 50 Jahre hat es gedauert, bis die Bundesregierung im September 2022 eine Einigung mit den Hinterbliebenen der bei den Olympischen Sommerspielen in München 1972 durch palästinensische Terroristen ermordeten israelischen Olympiateilnehmer zustande brachte. Eine auf die UN-Leitprinzipien gestützte Aufarbeitung und Wiedergutmachung des staatlich orchestrierten Dopings in der DDR fehlt dagegen bis heute. Die Situation insbesondere der ausländischen Bauarbeiter in Qatar war für die Deutsche Bahn AG kein Thema, als sie vor rund 15 Jahren mit der DB Engineering & Consulting das Projektmanagement für den Bau der Metro in dem Golfstaat übernahm. Auch sonst war eine Vielzahl von deutschen Unternehmen in Qatar gut im Geschäft, ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz nahm. Es brauchte erst die FIFA, um das deutsche Gewissen aufzuwecken.

»Der schwierige Balanceakt des IOC wurde in Deutschland kaum anerkannt.«

Inzwischen bekennt sich neben dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) in seiner Satzung zur Achtung der Menschenrechte, beide Verbände haben eine Menschenrechts-Policy beschlossen (DFB 2021, DOSB 2023). Bei der Diskussion um die Teilnahme von Athlet*innen mit russischer oder belarussischer Nationalität an den kommenden Olympischen Sommerspielen in Paris geriet der DOSB jedoch ins Schleudern. Nicht nur dass er lange auf der völligen Ablehnung beharrte und das Argument einer Diskriminierung wegen der Nationalität vom Tisch wischte. Der DOSB verkannte die unterschiedliche Wahrnehmung in anderen Kontinenten ebenso wie die Notwendigkeit, für die eigene Position Überzeugungsarbeit zu leisten und Mehrheiten zu schaffen, statt sich ein weiteres Mal bloß moralisch im Recht zu sehen. Weder menschenrechtlich noch außenpolitisch versiert, galten die Deutschen erneut nur als Neinsager und Besserwisser. Der schwierige Balanceakt des IOC, ein Auseinanderdriften der Olympischen Bewegung in Zeiten zunehmender Spannungen und Multipolarität zu verhindern, wurde in Deutschland kaum anerkannt, geschweige denn unterstützt.

Das liegt aber nicht nur an den Verantwortlichen im Sport. Bis weit in die deutsche Politik und Medienlandschaft hinein fehlt es am Verständnis für die Mühen der Ebenen, wenn es darum geht, Fortschritte bei Transparenz und Menschenrechten zu befördern. Schaut man sich an, wie lange es im eigenen Land gebraucht hat, die Menschenrechtserklärung für die UEFA EURO 2024 zu erarbeiten, dann sollte ein bisschen Geduld für Entwicklungsphasen in anderen Ländern eine Selbstverständlichkeit sein. Schließlich setzt auch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz auf eine Bemühens-, nicht auf eine Erfolgspflicht. Dies der breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, dafür bietet die EURO 2024 eine gute Gelegenheit. Neben der Thematisierung von globalen Lieferketten kann man damit zugleich ein Bewusstsein für prekäre Arbeitsverhältnisse in Deutschland im Sicherheits-, Reinigungs- und Gastgewerbe sowie auf dem Bau – alles Branchen, die bei Sportgroßveranstaltungen eine Rolle spielen – wecken und weitere nationale Menschenrechtsrisiken wie Antisemitismus, antimuslimischer Rassismus, Diskriminierung, interpersonale Gewalt adressieren.

Man darf also gespannt sein, was die von den Sportministerinnen Frankreichs und Deutschlands, Amélie Oudéa-Castéra und Nancy Faeser, am 13. März 2024 unterzeichnete »Gemeinsame Erklärung über ein neues Modell für nachhaltigere, verantwortungsbewusstere und inklusivere internationale Sportveranstaltungen« bewirkt. Immerhin sollen »neue Maßstäbe bei der Ausrichtung von Sportgroßveranstaltungen« gesetzt werden. Zu den Menschenrechten wird empfohlen, »dass die Organisatoren im Voraus eine Analyse der Menschenrechtsrisiken erstellen und einen Mechanismus einrichten, um im Fall von Menschenrechtsverletzungen auf diese reagieren zu können. Eine veranstaltungsspezifische Menschenrechtsstrategie, in der die ergriffenen Maßnahmen im Einzelnen aufgeführt werden, sollte begrüßt werden.«

Damit hat das IOC 2016 begonnen, die FIFA verlangt seit 2019 von Bewerbern unabhängige Menschenrechtsassessments, bereits in Qatar 2022 gab es eine spezifische Menschenrechtsstrategie und einen Mechanismus zur Umsetzung. Aber eine Empfehlung von Ministerinnen kann nie schaden. Vor allem wenn es in den kommenden Monaten um die Vergabe des FIFA World Cup 2034 an Saudi-Arabien geht, könnte diese Erklärung wichtig sein: Die Ministerinnen wollen offensichtlich nicht Länder per se beziehungsweise »per Menschenrechtslage« ausschließen. Mittels der weltweiten medialen Wirkung kann eine veranstaltungsspezifische Menschenrechtsstrategie ein Zeichen der Hoffnung setzen, Zivilgesellschaft national und international stärken. Außenpolitisch führt an einem konstruktiven Austausch mit Saudi-Arabien schon wegen der Situation im Nahen Osten, aber auch im Kampf gegen den Klimawandel, sowieso kein Weg vorbei. Eine deutsche Debatte, die sich nicht nur um die eigene Moral dreht, wäre daher ein wichtiger Impuls für die Olympische Idee.

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