Eine (rechts)populistische Wende der CDU ist als Fluchtpunkt nach der historischen Niederlage bei der Bundestagswahl vom 26. September 2021 jedenfalls offiziell abgesagt – allerdings nicht so ganz aus eigenem Antrieb. Es ist eher der Entmystifizierung der ›Lichtgestalt‹ Sebastian Kurz zu verdanken, dass Teile der CDU, die Junge Union und auch die CSU von Gedankenspielen abgerückt sind, die Union nach dem österreichischen Vorbild »der neuen Volkspartei« (ÖVP) Türkis einzufärben und zu einer ›Bewegung‹ mit einer starken Führungspersönlichkeit umzubauen.
Friedrich Merz hat sich in seinen ersten beiden Bewerbungen um den CDU-Vorsitz zunächst durchaus als eine starke Führungspersönlichkeit präsentiert. Er fand damals Unterstützung in exakt den Teilen der Partei, die die CDU gern türkisfarben gesehen hätten. Eine (rechts)populistische Wende wäre mit ihm jedoch nicht denkbar gewesen. Eine solche widerspräche sowohl seinem Politikstil als auch seinem politischen Denken.
In seiner Bewerbungsrede auf dem digitalen CDU-Parteitag vom 22. Januar 2022 bot er sich wieder als starke und habituell betont konservativ-männliche Führungspersönlichkeit an. War die CDU im Ganzen zuvor noch nicht bereit, sich von einem Mann wie Merz ›führen‹ zu lassen, übergab sie ihm nun die ungeteilte Macht eines Partei- und Fraktionsvorsitzenden.
Friedrich Merz steht programmatisch für einen Neokonservatismus der späten 70er und der 80er Jahre. Dies zeigt seine Rede deutlich. Dabei geht es nicht vorrangig um konservative ›Werte‹, sondern vielmehr um die Vorstellungen für eine künftige Gesellschaftsordnung. Kann eine solche Ausrichtung die CDU wieder stabilisieren und Wähler*innengunst zurückgewinnen? Oder stehen dem strukturelle Modernisierungsrückstände gegenüber, die in der Amtszeit von Angela Merkel als Kanzlerin überdeckt waren?
Die Reaktivierung des Neokonservatismus
Schon im Vorfeld des digitalen Parteitags war vielfach in Feuilletons zu lesen, Friedrich Merz habe aus seinen glücklosen Comeback-Versuchen gelernt und ginge nun mehr auf Parteiströmungen zu, wie etwa den Arbeitnehmer*innenflügel. Seine Personalentscheidung, den ehemaligen Berliner Senator für Gesundheit und Soziales Mario Czaja als CDU-Generalsekretär in das Konrad-Adenauer-Haus zu holen, spricht vordergründig dafür.
In seiner Bewerbungsrede fanden »christliche Soziallehre« und »evangelische Sozialethik« durchaus einen prominenten Platz. Auch eine »Beteiligung von Arbeitnehmern am Produktivkapitel« scheint für ihn ein denkbares politisches Projekt. Dennoch unterschied sich seine Rede grundsätzlich nicht von früheren. Auch die vermeintlichen Zugeständnisse können ideologiekritisch anders interpretiert werden.
Seine Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft ist, dass zwar »Wirtschaft nicht alles ist, aber ohne eine erfolgreiche und ohne eine konkurrenzfähige Wirtschaft (..) weder der ökologische Umbau unseres Landes noch der Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland auf Dauer aufrecht zu erhalten sein [wird]«. Der Staat müsse bei den Zukunftsaufgaben die Funktion eines »aktivierenden Sozialstaats« übernehmen, ganz im Sinn des »Förderns und Forderns« der Agenda 2010.
Der Staat steuert oder interveniert in dieser Lesart nicht, sondern bietet ›Startchancen‹, da letztendlich Wirtschaft, Technologieentwicklung sowie (Eigen-)Verantwortung der Gesellschaft und eines jeden Gesellschaftsmitglieds entscheidend sind, gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Dementsprechend konsequent prangert er die »Staatsgläubigkeit« der Ampel-Regierung an.
Der Politikwissenschaftler Richard Saage hat 1987 in einem Beitrag für die Gewerkschaftlichen Monatshefte ein politisches Denken, wie es bei Friedrich Merz durchscheint, als Neokonservatismus oder technokratischen Konservatismus beschrieben: »Der neuere technokratische Konservatismus (der 80er Jahre, U. B.) hat denn auch entschieden die Wende zu den Neuen Technologien vollzogen. Ihnen werden Auswirkungen zugeschrieben, die geeignet erscheinen, einen gesellschaftlichen Konsens jenseits einer sozialstaatlich vermittelten Kompromissbildung zu ermöglichen. Die dritte industrielle Revolution zeige einen Ausweg aus den Strukturproblemen ihrer Vorgängerinnen, nämlich Umweltzerstörung, Ressourcenknappheit und Arbeitsplatzzerstörung«.
Dieses Denken schließt an das CDU-Grundsatzprogramm von 1978 an, das den Titel »Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit« trug. Die Bedeutung dieses Grundsatzprogramms für die CDU hebt Friedrich Merz in seiner Rede besonders hervor. Im Kapitel IV zur »Sozialen Markwirtschaft« ist als erster Grundsatz formuliert: »Die Soziale Marktwirtschaft hat ihr geistiges Fundament in der zum Menschenbild der Christen gehörenden Idee der verantworteten Freiheit. Der Ordnungsrahmen der Sozialen Marktwirtschaft wurde erdacht und geschaffen, um diese Freiheit auch im Zeitalter von Industrialisierung und Arbeitsteilung für jedermann zu schaffen und das Bewußtsein für Selbstverantwortung ebenso wie die Bereitschaft zur Mitverantwortung für den Mitmenschen und für das Allgemeinwohl zu wecken und wirksam zu machen«.
Die Rede von Friedrich Merz auf dem digitalen Parteitag liest sich, als sei dieses Grundsatzprogramm von 1978 für ihn Inspiration. So ließe sich auch erklären, welches Verständnis Merz von Freiheit hat, die er in seiner Rede immer wieder beschwört. Er meint »Freiheit in Selbstverantwortung«. Und es wird klar, wie sich »christliche Soziallehre« und »protestantische Ethik« in dieses technokratisch-konservative oder neokonservative Denken nach seinem Verständnis einfügt. Auch die Beteiligung von Arbeitnehmer*innen am Produktivkapital klingt dann nicht mehr sehr revolutionär, sondern als ein Appell an das unternehmerische Selbst mit allen Risiken, eben als Appell an eine ›Freiheit in Selbstverantwortung‹.
Ein solches politisches Denken braucht immer auch ein integratives, gemeinschaftsbildendes Narrativ, wie etwa ›Nation‹ oder ›Volk‹. Einem solchen entzieht sich Friedrich Merz. Sein Narrativ ist vielmehr, dass die »Familie« eines besonderen Schutzes bedürfe. Es dürfte damit die heteronormativ, traditionell gedachte Familie angesprochen sein, denn er betont, dass die CDU »nicht dem Zeitgeist hinterherlaufen« werde.
Mit dem »Zeitgeist« dürften wohl die gesellschaftspolitischen Liberalisierungsbestrebungen der Ampelkoalition angesprochen sein, mit denen die Praxis vielfältiger Lebensentwürfe und sexueller Orientierungen rechtlich abgesichert werden sollen. Die Institution der Familie in der von Friedrich Merz tradiert gedachten Form kann dann als der Ort interpretiert werden, an dem sich »Freiheit in Selbstverantwortung« entfalten kann und die als »wirksame Urzelle unserer Gesellschaft« (Milton Friedman) zu interpretieren ist.
Bei Friedrich Merz verbinden sich Neoliberalismus und Konservatismus zu einem Neokonservatismus, der keine Spielart des sogenannten regressiven Neoliberalismus ist, wie ihn der Soziologe Oliver Nachtwey oder die Soziologin Nancy Fraser mit Blick auf Donald Trump oder populistische radikal und extrem rechte Bewegungen und Parteien beschreiben.
Nationalistische oder völkische Anklänge sind weder in seiner Parteitagsrede noch in anderen öffentlichen Äußerungen zu identifizieren. Er bewegt sich mit seinem Denken im Spektrum des demokratischen Konservatismus, auch wenn es der »maskulinen Ethik des Neoliberalismus« (Eva Kreisky) zuzuordnen ist. Seine Abgrenzung gegenüber der AfD und damit auch gegen den regressiven Neoliberalismus sind nicht wohlfeil, sondern durchaus glaubwürdig.
Merz hat seiner Partei ›Führung‹ versprochen und der »bürgerlichen Gesellschaft« angekündigt. Kann er mit seinen neokonservativen Politikvorstellungen die CDU stabilisieren?
Strukturelle Probleme der CDU
Friedrich Merz sieht die CDU nach wie vor als Volkspartei. Dies kann ernst oder taktisch gemeint oder auch Realitätsverweigerung sein. Denn schon in den Nullerjahren setzte sich in der Parteienforschung die Einschätzung durch, dass das Zeitalter von zwei großen Massenintegrationsparteien SPD und CDU/CSU im deutschen Parteiensystem dem Ende entgegengeht. Strukturell war der Wandel zunächst bei der SPD in den 90er Jahren sichtbar geworden.
Für die CDU zeigt sich nach der »Ära Merkel« ein nachholender Modernisierungsbedarf. Denn die Kanzlerinschaft von Angela Merkel hat bei Wahlen einiges überdeckt. Dazu zählt beispielsweise der gestiegene Zuspruch von Frauen für die CDU, der nach Erkenntnissen aus der Wahlforschung darauf zurückzuführen sein dürfte, dass mit Angela Merkel eine Frau für das Amt der Kanzlerin kandidierte. Denn den politischen Orientierungen von Frauen entsprachen die Wahlentscheidungen nachweislich nicht.
Dieser Effekt zeigt sich auch in der repräsentativen Wahlstatistik im Wahlverhalten von Frauen: Konnte die SPD bis zur Bundestagswahl 2005 bei Wählerinnen noch reüssieren, war es ab 2009 die CDU. Der Wind drehte sich merklich erst wieder bei der letzten Bundestagswahl 2021 zugunsten der SPD. Ob der ›Merkel-Effekt‹ als Erklärung allein trägt oder noch andere Faktoren hinzukommen, weshalb die CDU den Zuspruch von Frauen in einem größeren Umfang verloren hat und dies vor allem in den Altersgruppen der 18- bis 24-Jährigen sowie den 45- bis 59-Jährigen, wird die Nachlese in der Wahlforschung noch zeigen.
Befunde aus eigener Forschung zeigen, dass das Wahlverhalten von Frauen darauf verweist, ob eine Regierungskonstellation noch Bestand hat oder ein Regierungswechsel zu erwarten ist. Ihre Wahlpräferenzen sind letztendlich der entscheidende »Machtfaktor«. Denn: Ihr Wahlverhalten ist weniger volatil als das von Männern. Wenn sie ihre Wahlpräferenzen ändern, verändern sich auch die Mehrheitsverhältnisse. Die Trendwende mit Blick auf die CDU deutete sich dann auch bei der Bundestagswahl 2017 an, bei der klar war, dass Angela Merkel sich das letzte Mal dafür bewarb, das Amt der Kanzlerin weiterzuführen.
Der Parteienforscher Peter Lösche hielt bereits 2009 das Mantra von SPD und CDU, sie seien nach wie vor Volkspartei, für realitätsfern. Sie entsprachen schon damals den Mindestanforderungen nicht mehr. Zur Lage der Union spitzte er prägnant zu: »Das katholisch-protestantische Fundament, auf dem CDU und CSU einst selbstbewusst standen, ist durch die Säkularisierung brüchig geworden. Das ›hohe C‹ spielt in Akademiediskussionen vielleicht noch eine Rolle, aber Parteibindungen werden dadurch nicht gehalten oder gar verstärkt. Neue Mitglieder oder Wähler lassen sich durch Beschwören des christlichen Menschenbildes kaum gewinnen. Gerade bei Jüngeren zeigt sich ein neues Organisationsverhalten, das sich generell gegen Großorganisationen richtet. Sie lassen sich institutionell, kulturell und normativ nicht einbinden. Natürlich: Die Häufigkeit des Kirchgangs ist nach wie vor ein wichtiger Indikator für Wahlverhalten, und gläubige Christen wählen überproportional CDU und CSU. Aber es ist eben nicht mehr die Konfession allein, die entscheidet, ob man die Christdemokratie wählt oder nicht«.
Hierin mag auch der Grund zu suchen sein, dass der Historiker Andreas Rödder der CDU empfohlen hat, sich des »C« zu entledigen und damit dem Weg der schweizerischen Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) zu folgen, die sich nach dem Zusammenschluss mit der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BPP) nun nur noch schlicht »Die Mitte« nennt.
Vor diesem Hintergrund kann es Friedrich Merz mit seiner Programmatik der 70er/80er Jahre vielleicht gelingen, parteiintern zu integrieren. Es könnte ihm auch gelingen, über die maskuline Ethik des von ihm vertretenen Neokonservatismus sowie seinem konservativ-männlichen Habitus bei Männern der traditionellen Facharbeitermilieus und in konservativ orientierten bürgerlichen Milieus der Upperclass zu punkten.
Ein Zukunftsmodell für eine konservative Partei des 21. Jahrhunderts ist dies jedoch nicht. Und dass Merz den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder bei der Aussetzung der gesetzlich vereinbarten einrichtungsbezogenen Impfpflicht auch noch unterstützt, ist ebenfalls kein gutes Signal.
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