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Ein anderer Blick auf die Literatur der Arbeitswelt Neu skaliert

Im Jahr 2006 veröffentlichte das Familienunternehmen Vorwerk einen Werbespot, der auf eine gewitzte Weise zeigt, wie einfach es ist, die Grenzen zwischen Arbeit und Alltag zu verwischen und den Wortschatz neoliberaler Arbeitswelten auf das Privatleben zu übertragen. In einem Einstellungsgespräch beschreibt eine Hausfrau und mehrfache Mutter auf die Aufforderung hin, ihre beruflichen Erfahrungen zu skizzieren, alle Tätigkeiten, die zur häuslichen Sorgearbeit zählen, mit dem Vokabular der neueren Organisationslehre: Sie arbeite in der »Kommunikationsbranche«, im »Organisationsmanagement«; das Erziehen der Kinder sei »Nachwuchsförderung« und »Mitarbeitermotivation«, der private Alltag wird so im Handumdrehen zu einem »kleine[n] erfolgreiche[n] Familienunternehmen«, das sie führt.

Was in einer Vorabendserie als lustiger Werbespot eingeblendet wird, zeigt, wie das Vokabular der Arbeitswelt Einzug in alle sozialen Sphären hält – und wie dehnbar der Begriff Arbeit ist.

Die Vergangenheit

Nun gehört genau dieser offene Begriff zum Kern dessen, was die Literatur der Arbeitswelt ausmacht. Wenn aber schon der Begriff der Arbeit Uneindeutigkeiten aufweist, wie kann bestimmt werden, was Literatur der Arbeitswelt ist? Die Lösung ist einfach: Komplexität begrüßen und beim Lesen genau hinsehen!

So sind etwa in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1796) oder Novalis' Heinrich von Ofterdingen (1802) die schöpferischen, weltverändernden, innovativen geistigen und künstlerischen Tätigkeiten der Figuren kaum als Arbeit erkennbar, anders als in Heinrich Heines Gedicht Die schlesischen Weber (1844), das Ausbeutungsverhältnisse und körperliche Arbeit als potenziell destruktives Phänomen thematisiert. Christa Anita Brücks Sekretärinnenroman Schicksale hinter Schreibmaschinen (1930) hebt dagegen die ästhetische und emotionale Arbeit weiblicher Angestellter in der Zwischenkriegszeit hervor und reflektiert zudem den frühen #MeToo-Diskurs am Arbeitsplatz. Damit ist der Text nicht allein: Er steht in einer Reihe mit Romanen wie Rudolf Braunes Das Mädchen an der Orga Privat (1930), Irmgard Keuns Gilgi, eine von uns (1931) oder Gabriele Tergits Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1932). – Und dennoch hat die Forschung diese Werke lange nicht zur Literatur der Arbeitswelt gezählt.

Sprach sie von der Literatur der Arbeitswelt, bezog sich die deutschsprachige Literaturwissenschaft bis vor ein paar Jahren vornehmlich auf die Literatur des Ruhrgebiets und der DDR der 1960er und 1970er Jahre. Gelegentlich wurde dabei die – wie man sie nannte – »Arbeiterliteratur« mitgemeint, also diejenige Literatur von, für und über Arbeiter:innen, die im Dunstkreis der Arbeiter:innenbewegung verfasst wurde. Dass Fanny Ewald, Georg Weerth, Louise Otto-Peters oder auch Elfriede Jelinek auch Literatur der Arbeitswelt verfasst haben könnten, war noch vor zehn Jahren keine weit verbreitete Ansicht in der Wissenschaft. Im Gegenteil: Sie hat die Arbeitswelt in der Literatur vermisst, ja sogar die Vorstellung begraben, sie könne überhaupt existieren.

Für dieses vermeintliche Fehlen der Arbeit in der Literatur, für die Subsumierung von Sammelbegriffen und die dadurch erfolgende Verengung des Genres auf einige wenige seiner literaturhistorischen Ausprägungen gibt es mehrere Erklärungen. Zum einen hängt sie zusammen mit der langen Tradition und starken Präsenz einer häufig politisch unterstützten, engagierten Literatur, die auf Missstände innerhalb einer Klasse aufmerksam macht, nämlich des Proletariats; zum anderen hängt sie mit dem Gruppencharakter dieser Literatur zusammen: Ob vom Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands, dem Bitterfelder Weg, der Dortmunder Gruppe 61 oder dem Werkkreis Literatur der Arbeitswelt die Rede ist – alle diese literarischen Gruppen, die sich zum Ziel gesetzt haben, literarisch tätige Arbeiter:innen mit Berufsschriftsteller:innen und weiteren Akteur:innen des Literaturbetriebs zu vernetzen, um die literarische Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt anzukurbeln, waren außerordentlich öffentlichkeitswirksam.

Die Gegenwart

Doch die Literatur der Arbeitswelt umfasst nicht allein die aus diesen Gruppen hervorgegangenen, häufig explizit ideologiekritischen und dem Proletariat zugewandten literarischen Zeugnisse. Vielmehr bezeichnet das Label einerseits literarische Werke, deren Sujets sich konkret um Vorstellungen von Arbeit formieren, und andererseits solche, deren konzeptuelle (Negativ-)Folie Arbeit und Arbeitswelten sind – ungeachtet dessen, ob der Gestus dieser Texte dem Klassengedanken verpflichtet, politisch oder engagiert ist. Sujets, in denen es konkret um Arbeit und Arbeitswelten geht, sind zum Beispiel Bauernlieder, Erzählungen von häuslicher und Reproduktionsarbeit, Arbeitstagebücher von Schriftsteller:innen, Angestelltenromane, Arbeiter:innendichtung oder Managerkomödien. Sujets, deren konzeptuelle (Negativ-)Folie Arbeit oder Arbeitswelten sind, sind etwa Arbeitslosenromane, Vagabund:innenliteratur oder auch Comics über Mental Load.

Vergegenwärtigt man sich nun die anfangs konstatierte Unbestimmtheit, Pluralität und Heterogenität des Begriffs der Arbeit selbst und der vielfältigen Diskurse und Fachdisziplinen, in die er eingebettet ist, so ist es wenig verwunderlich, dass die Kriterien für das, was als Literatur der Arbeitswelt bezeichnet werden kann, von Text zu Text stets individuell entschieden werden müssen. Auch metaphorische Verwendungen wie Traumarbeit, Identitätsarbeit, Biografiearbeit, Arbeit am Körper oder Arbeit am Selbst können Texte aller Gattungen zu Literatur der Arbeitswelt werden lassen. Diese Kategorienbildung funktioniert genauso wie die Kategorisierung eines Textes als Arztroman, bürgerliches Trauerspiel oder Naturlyrik. Im Grunde kommt es ausschließlich auf die sorgfältige Lektüre der Texte an, also auf Lesekompetenz.

So unbestimmt, plural und heterogen der Begriff der Arbeit ist, so gilt dies auch für die Literatur der Arbeitswelt.

So muss etwa John von Düffels Roman Ego (2001), dessen Protagonist Philipp, ein junger aufstrebender Manager, alles macht, nur nicht seiner beruflichen Arbeit nachzugehen, dennoch als Literatur der Arbeitswelt gelten, zumal dort Fitnesstraining als Arbeit am Körper dargestellt wird, die dem Protagonisten zu einem höheren Managementposten verhilft.

Kathrin Rögglas wir schlafen nicht (2004) kann in diesem Sinne ebenfalls klar der Literatur der Arbeitswelt zugeordnet werden: Die Unternehmensberatung stellt im Roman eine hybride Form von immaterieller Arbeit dar, die auf Information, Wissen und Kommunikation basiert und dennoch stark auf Körperlichkeit rekurriert. Arbeit erscheint hier für die Figuren als marternder Lebenssinn; die Arbeit des Textes ist es indes, dem kritisch gegenüberzustehen.

Ein Deutschlandmärchen

Auch Dinçer Güçyeters gefeierter Roman Unser Deutschlandmärchen (2022) ist nicht nur ein Familienroman oder interkulturelle Migrationsliteratur, sondern vor allem eine literarische Chronik der türkischen Arbeitsmigration, über das Ausreisen aus der Türkei, Ankommen, Arbeiten und Leben in Deutschland.

In einer collageartigen Anordnung verschiedener Ich- und Wir-Stimmen erzählt Unser Deutschlandmärchen die circa 80-jährige Lebensgeschichte dreier Generationen, deren letztes Glied die Autorfigur Dinçer darstellt. Die Handlung setzt in einem Dorf in Anatolien ein, mit Dinçers Großmutter Hanife. Kennzeichnend für ihre Geschichte ist der intergenerationelle Fortbestand patriarchaler Gewalt, sozialer Gefühlsarmut und Repressionen, die bereits das Leben der weiblichen Generation vor ihr geprägt haben. Auch ihre Tochter Fatma, Dinçers Mutter, erzählt aus der Ich-Perspektive von ihrer Kindheit und Zwangsheirat, der Ausreise aus der Türkei und dem Ankommen in Köln 1965, der sozialen und emotionalen Kälte in der Türkei und Deutschland, vom (Familien-)Leben und Arbeiten in unterschiedlichen Arbeitskontexten – in Fabriken, der Landwirtschaft – in einem Land, das ihr mit Rassismus begegnet. Wie Hanife nach ihrer Einwanderung in Deutschland mit der Metapher der Zunge ein Bild bemüht, das in deutsch-türkischen Migrationserzählungen spätestens seit Emine Sevgi Özdamars Prosaband Mutterzunge (1990) paradigmatisch für die Orientierungsbewegung in einer fremden Sprache und Kultur steht, so greift auch Fatma mit der Kälte und dem Bahnsteig Motive auf, ohne die in den 60er und 70er Jahren kaum eine literarische Arbeitsmigrationsnarration auskommt.

Vielfalt der Stimmen von Migrationserfahrung

Der ästhetischen Herausforderung, der Pluralität und den Übereinstimmungen subjektiver Migrationserfahrungen Form zu geben, begegnet der Roman mit einer besonderen Genre- und Stimmenvielfalt, die sich als komplexes Arrangement von Fürsprache-, Autorisierungs- und Autoritätsverhältnissen beschreiben lässt. Der Roman ist in kurze Kapitel eingeteilt, denen verschiedene Figuren zugeordnet sind und die aufgrund des Einsatzes verschiedener Genres formal äußerst heterogen ausfallen: Erzählung, Gebet, Gedicht, Lied, Popsong, Pressebericht, episches und lyrisches Drama etc. Die Vielfalt der Stimmen ist erzählerisch einem klaren Ziel verpflichtet: dem Brechen des Schweigens, der Hör- und Sichtbarmachung der deutsch-türkischen Arbeits- und Postmigrationsgeschichte – inklusive der Generationen- und Geschlechterverhältnisse und der Diskriminierungen aufgrund ethnischer und sozialer Herkunft.

»Interessant ist dabei auch, dass die semantische Dehnbarkeit des Begriffs Arbeit es erlaubt, alles zu Arbeit werden zu lassen.«

Die Literatur der Arbeitswelten ist also sehr vielfältig. Und die Formen, Genres und Gattungen, die zu ihrer literarischen Reflexion herangezogen werden, sind es auch: ob Bericht, Reportage oder Kurzgeschichte, Lyrik, Prosa oder Drama, dokumentarische, fiktionale, autofiktionale Texte oder Essays – die Literatur der Arbeitswelt kennt allein schon formal keine Grenzen. Interessant ist dabei auch, dass die semantische Dehnbarkeit des Begriffs Arbeit es erlaubt, das Thema mit anderen zu verknüpfen und alles zu Arbeit werden zu lassen. Liebe, Natur, Urlaub – alles kann zu Arbeit werden. Und die Literatur nimmt dies zum Anlass, darüber zu reflektieren.

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