Die Debatte um das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie ist uralt. Während für Liberale der Kapitalismus oder jedenfalls »freie« Märkte quasi eine Voraussetzung für Demokratie darstellten, sahen Marxisten auch im demokratischen Staat nur ein geschickt verkleidetes Diktaturorgan der Kapitalistenklasse. In der Mitte saß die Sozialdemokratie zwischen den Stühlen, die im demokratischen Staat ein Instrument zur Zähmung des Kapitalismus sah. Diese Ansicht schien sich in den Trente Glorieuses, den drei Jahrzenten nach 1945, zu bestätigen, als der keynesianisch geprägte, »eingebettete Liberalismus« (John Ruggie), den Wohlstand in den fortgeschrittenen Ökonomien des Westens rasch wachsen ließ und auch noch relativ gleichmäßig verteilte.
Spätestens seit der Finanzmarktkrise und der »Großen Rezession« von 2008/09 macht sich aber Skepsis breit. Der seit Reagan und Thatcher wieder stärker deregulierte Kapitalismus hat die Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit sowie zwischen Markt und Staat deutlich zugunsten der ersteren verschoben und die Ungleichheit enorm gesteigert. Prominente Vertreter dieser skeptischen Sicht sind Thomas Piketty und Wolfgang Streeck. Piketty hat den unaufhaltsamen Aufstieg des Kapitals dokumentiert, auf den er mit einer globalen Vermögensteuer antworten will, deren Umsetzungschancen gering sind. Streeck sieht die Demokratie schon durch die Staatsverschuldung und die Kapitalmärkte entmachtet.
Diese Debatte haben nun die bekannten Politologen Torben Iversen und David Soskice mit einem fulminanten Querschlag bereichert. Beide sind seit Jahrzehnten für Arbeiten auf dem Feld der internationalen politischen Ökonomie bekannt – Soskice als (neben Peter Hall) einer der Gründer der wichtigen »Varieties of Capitalism«-Schule. Ihre These lautet stark vereinfacht: Kapitalismus und Demokratie haben eine widerstandsfähige und dynamische symbiotische Beziehung. Weder die Grundprinzipien des einen noch des anderen Systems sind durch die aktuellen Entwicklungen (Globalisierung, Digitalisierung, Ungleichheit) gefährdet. Insbesondere der Nationalstaat als Raum dieser Symbiose ist stabil und bedarf keiner Rettung gegen die Kräfte des globalen Kapitalismus. Damit ist ihr Beitrag gerade für die politisch-programmatische Orientierungssuche der Sozialdemokratie bedeutsam.
Der Nationalstaat ist laut ihrer Analyse ungefährdet, da die Wettbewerbsfähigkeit der fortgeschrittenen Wirtschaftszweige von räumlich gebundenen Faktoren abhängt: Angebot an gut qualifizierten Arbeitskräften, regionale Cluster von komplementären privaten und öffentlichen Zulieferern, Dienstleistern, Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen, staatlich (durch Wettbewerbspolitik, Marktordnung) regulierte und kompetitive Produktmärkte, modernisierungsfreudige industrielle Beziehungen und die Fähigkeit, auf externe Schocks mit einer vorwärts gerichteten, gesamtwirtschaftlichen Strategie zu reagieren. Diese Bedingungen binden die Wirtschaft an einen Standort und zwingen sie dazu, eine bestimmte Besteuerung zu akzeptieren, die gesellschaftliche Stabilität und ein angemessenes Angebot an öffentlichen Gütern erlaubt und finanziert. Iversen und Soskice belegen auch statistisch, dass die Steuerlast des Kapitals seit 1995 kaum gesunken ist.
Daher nimmt auch die Ungleichheit keine Formen an, die massiven gesellschaftlichen Druck zugunsten von Umverteilung und höherer Besteuerung der Reichen hervorrufen. Dabei geht es politisch nicht so sehr um die Armen, sondern um die Mittelschichten, die als Wähler den größten Einfluss haben. Solange sie dank guter Bildungs- und Jobchancen in modernen Sektoren für sich oder ihre Kinder Aufstiegs- und Wohlstandschancen sehen, hält sich ihr Interesse an Umverteilung in Grenzen. Die Autoren können außerdem zeigen, dass die Zunahme der Ungleichheit weniger dramatisch war, als Piketty vermuten lässt. So haben sich das Verhältnis vom mittleren zum durchschnittlichen verfügbaren Einkommen und der Gini-Koeffizient der verfügbaren Einkommen seit 1985 nur wenig verschlechtert. Zur Erläuterung: Das verfügbare Einkommen ist das Einkommen nach Steuern plus Sozialtransfers, der Gini-Koeffizient ein Standardindikator für Ungleichheit.
Der Niedergang des Fordismus, dessen Politökonomie die Basis der Trente Glorieuses war, verändert auch die Interessenkonstellationen in der Gesellschaft. Waren in der fordistischen Massenproduktion noch die Interessen der qualifizierten und gering qualifizierten Arbeitskräfte ähnlich und miteinander verbunden, fallen sie in der neuen wissensbasierten (digitalen) Wirtschaft immer weiter auseinander. Die mit dem digitalen Kapitalismus verbundenen neuen Mittelklassen unterstützen diese Transformation, während sich die alten als Verlierer sehen. Hinzu treten verstärkt regionale Disparitäten zwischen fortgeschrittenen urbanen Zentren und tendenziell abgehängten ländlichen Räumen.
Die Kernwähler unterstützen Parteien, die den Wandel erfolgreich politisch gestalten. Denn die Transformation ist politisch konstruiert und kein blindes Ergebnis globaler Marktkräfte oder technischer Möglichkeiten. Staatliche Forschung, Bildung und Marktgestaltung werden von der neuen Mittelklasse unterstützt und gefordert. Die vom Abstieg bedrohte alte Mittelklasse neigt dagegen zum Populismus. Entscheidend für die gesellschaftliche Bewältigung und das Ausmaß des Populismus ist das Bildungssystem. Ein offenes Bildungssystem, das den Nachkommen der alten Mittelklasse den Aufstieg in die neue ermöglicht, ist der beste Schutz gegen die reaktionäre Bedrohung.
Letztlich sind nach Ansicht der Autoren die fortgeschrittenen kapitalistischen Demokratien widerstandsfähig angesichts der säkularen Veränderungen, da sie eine Wählerschaft von qualifizierten Arbeitskräften produzieren, die ein starkes Interesse an der Expansion der modernen Wirtschaftszweige haben. Solange der Nationalstaat durch Bildung und andere Politiken diesen Wohlstand garantieren und sozialpolitisch verteilen kann, ist sein Überleben nicht gefährdet.
Iversen und Soskice neigen zu einer optimistischen Sicht der kapitalistischen Entwicklung. Damit verbieten sich radikale Schritte, wie sie viele, von links wie von rechts, für notwendig halten. Inwieweit die Autoren zu optimistisch sind, wird erst die Zukunft zeigen. So bedroht die zunehmende Ungleichheit die Demokratie, auch durch die Macht der Superreichen, in einer digitalisierten Öffentlichkeit den politischen Prozess zu beeinflussen (auch ganz ohne die Drohung mit Produktionsverlagerung). Außerdem könnte eine wachsende Schicht von Senioren weniger Interesse an zukunftsorientierten Politiken haben, als die Autoren erwarten. Für die Debatte in der Sozialdemokratie wäre es fruchtbar, eine Analyse von der theoretischen Tiefe und empirischen Fundierung, wie sie die Autoren vorlegen, in die eigenen Überlegungen einzubeziehen.
Torben Iversen/David Soskice: Democracy and Prosperity: Reinventing Capitalism through a Turbulent Century. Princeton University Press 2019, 360 S., $ 29.95.
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