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© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Nicolas Landemard

Bei der Interessenvertretung der Beschäftigten in Europa ist noch Luft nach oben Erfordert ein erneuertes Europa erneuerte Gewerkschaften?

In Europa sind und bleiben Gewerkschaften ein gestaltender Faktor moderner Gesellschaften, mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Das gängige und gern wiederholte Lamento über sinkende Mitgliederzahlen, das keinesfalls unberechtigt ist, übersieht häufig, dass Gewerkschaften mehr Mitglieder als alle politischen Parteien zusammen mobilisieren und als Gewicht in die Waagschale werfen können. Im europäischen Vergleich erscheinen die deutschen Gewerkschaften trotz rückläufiger Mitgliederzahlen relativ stark und resilient durch ausgeprägte institutionalisierte, kollektive Partizipations- und Schutzrechte, wohingegen viele soziale europäische Mindeststandards aus deutscher Perspektive als weitgehend vernachlässigbar erscheinen und daher die deutschen Gewerkschaften nur selten als treibende Kraft für europäische Gesetzgebung auftreten. Im Zweifelsfall verläßt sich der DGB, aber auch andere nationale Gewerkschaften lieber auf die nationale Gesetzgebung als die langwierige und notwendigerweise komplexe europäische. Dieser Befund gilt selbst bei genuin transnationalen Problemen wie die - von EU-Richtlinien erleichterte - Mitbestimmungsflucht. 

Das transnationale Lernen von Gewerkschaften und ihr europäisches Interagieren nahm während der Pandemie generell ab. Die vornehmlich national geprägten Politikformen der Pandemiebekämpfung haben Gewerkschaften zunehmend auf das nationale Politikfeld zurückgeworfen. Robuste nationale Schutzräume verleiteten dazu, nur selten den Blick über die Grenzen zu wagen. Zu den gewerkschaftlichen Gestaltungsaufgaben gehört zweifellos Europa, genauer: die Europäische Union (EU), kurzum das, was unter dem inhaltsleeren und abgenutzten Slogan „soziales Europa“, der insbesondere in Wahlkampfzeiten gerne verwendet wird, firmiert. Doch wie ist es eigentlich konkret um „sozialpolitische Fortschritte“ bestellt, jenseits von Beschwörungen und Lippenbekenntnissen? Faktisch stößt sozialer Fortschritt häufig an die Grenze bei Kommissionspräsidentschaften, die eine klar konservative Dominanz aufweisen: Nur wenige Präsident:inn:en gehörten nicht dem konservativen Lager an. Umso erstaunlicher, dass die Bundesregierung, die Fortschritt auf ihre Fahne schreibt, die Verlängerung der aktuellen konservativen Kommissionspräsidentin unterstützt statt eine:n eigene:n progressivere:n, grünere:n Kommissarskandidaten:in aufzustellen. 

Es ist angesichts dieser Gemengelage kein Zufall, dass die sozialpolitischen Vorschläge der Kommission überschaubar geblieben sind. Aufgrund der Schieflage zwischen raren sozialen und zahlreichen ökonomischen Vorschlägen ist es nicht verwunderlich, dass die Wunschliste der europäischen Gewerkschaften eine ziemlich umfangreiche ist: Die deutsche Fassung des Aktionsprogramms des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB) umfasst 89 Seiten mit 589 durchnummerierten Abschnitten . Ein window of opportunity öffnete sich in jüngster Zeit für das Thema ‚democracy at work‘, also Demokratie am Arbeitsplatz. Es besteht die Möglichkeit, dank Unterstützung aus dem Europäischen Parlament durch Berichte der Abgeordneten Gabriele Bischoff und Dennis Radtke, die Kommission zu einer längst überfälligen Reform der Gesetzgebung für Eurobetriebsräte zu bewegen, und nachfolgend zu einer wirklichen Unternehmensmitbestimmung mit starker Frauenbeteiligung. Doch ob die Kommission diesen Weg einschlägt, hängt nicht allein von der politischen Großwetterlage ab, sondern auch von der Gewerkschaftsbewegung selbst, die leider zu vielstimmig spricht und dabei ist, die Steilvorlagen aus dem Europaparlament zu vergeigen: So melden sich regelmäßig konservative Kräfte zu Wort, insbesondere aus den Gewerkschaftsbranchen, beschwören die angeblich drohende Gefahr eines Rückschritts und blockieren damit klare Forderungen, so dass nur vieldeutiges Geraune zu vernehmen ist . Eine Grundvoraussetzung für effizientes Handeln ist Einheit und derzeit ist viel Gegeneinander zu bemerken und es scheint im Gebälk stark zu knirschen . 

Ein weiteres Manko besteht darin, dass in Gewerkschaftskreisen eine - konzeptionelle wie praktische - Weiterentwicklung der EU, beruhend auf einem Konstruktionsprinzip von Ellipsen und Kreisen, wie angeregt von Emmanuel Macron oder Herfried Münkler, mit der Chance, dass die EU zu einem strategischen Akteur wird und einen Kreis um südosteuropäische Staaten schließen könnte, nicht diskutiert wird. Eine Alternative zum sozialpolitischen Schneckentempo oder Stillstand wäre ein klares Bekenntnis zu einem ‚Sozialen Kerneuropa‘, in dem die Willigen vorangehen und die Unwilligen zurückbleiben und somit ihre Veto- oder Blockadeposition verlieren. Sowohl in der Steuerpolitik als auch der Sozialpolitik wären so beträchtliche Fortschritte möglich. Doch mit dem Argument, alle müssten gemeinsam vorangehen, wurde diese Kernforderung aus dem gewerkschaftlichen Programm wieder gestrichen und somit de facto sozialpolitischer Stillstand in Kauf genommen. Erschwerend kommt hinzu, dass allzu oft politische Akteure, insbesondere im Europaparlament, Europa als zusammenhängenden Zug ansehen und zugleich romantisch verklären  mit einer hyperoptimistischen Vision eines (undefinierten) ‘sozialen Europa’. Konfrontiert mit der Frage, ob mehr Europa oder mehr Demokratie wichtiger sei, zieht Demokratie oft den kürzeren, z.B. der Frage der transnationalen Listen, die zu Verantwortungsdiffusion führen. Schon Heinrich August Winkler wandte sich gegen Europa als Surrogatlösung: „‚Mehr Europa‘ um den Preis von weniger Demokratie, das darf nicht sein.“  Viele betrachten Europa als Identifikationsangebot, als willkommene Gelegenheit zur Bekämpfung des als rückständig empfundenen Nationalstaats. Statt Allianzen mit progressiven Kräften anzustreben wird der Nationalstaat als Entität betrachtet und als Gegner bekämpft. Bekanntlich ist effiziente Politikfähigkeit in der europäischen Politikarena so nicht zu erreichen. Der sakrale Umgang mit Europa verleiht dem europäischen Projekt eine Aura, die Fragen nach der Sinnhaftigkeit dieses oder jenes Kommissionsvorschlags als Blasphemie erscheinen lässt und von unterschiedlichen Interessenlagen abstrahiert. Es ist kein Zufall, dass es praktisch so gut wie nie vorkommt, dass das Parlament einen Vorschlag in Gänze ablehnt.

Beim Klimawandel ist Greenwashing angesagt: Die EU-Kommission hatte zum Jahreswechsel 2021/22 einen Entwurf zu einer ‚Taxonomie‘ vorgelegt, um Finanzprodukten, die in Kernkraft investieren, eine Art Ökolabel zu verleihen. Da es sich nicht um ein klassisches Gesetz, sondern einen „delegierten Rechtsakt“ handelt, können die Mitgliedstaaten den Vorschlag nicht ändern, sondern nur ablehnen. Doch die Hürde ist hoch: Dazu bräuchten sie eine Mehrheit von 20 Mitgliedstaaten auf 27, die außerdem 65 Prozent der Gesamtbevölkerung repräsentieren - ist das ein Verfahren, das das Adjektiv ‚demokratisch‘ verdient? Natürlich nicht, und das Verfahren war eigentlich für technische Fragen gedacht. Die Kommission maßt sich an, diesen hochpolitischen Vorschlag wie eine technische Formalität anzugehen, so als ginge es um Anschlüsse für Ladegeräte oder die Form von Steckdosen. Ob das Greenwashing noch zu stoppen ist, ist zweifelhaft. Vielmehr scheint der Atomzug wieder abzufahren: Staatspräsident Macron kündigte den Bau von 14 weiteren AKWs an: „Vive l’Atomkraft!“ 

Der Umgang mit Atomkraft ist nur ein Beispiel. Es gibt weitere knifflige Fragen zu beantworten, die ans Eingemachte gehen – und offenbar liegen im Eingemachten der EU (zu) viele neoliberalen Ingredienzien: Warum kann in den USA ein Staat wie Kalifornien strengere Abgasnormen einführen und in der EU ist es unmöglich, dass ein Mitgliedstaat schärfere Umweltstandards einführt? Warum ist für die EU Einheitlichkeit wichtiger als Zielerreichung? Ist letztlich der EU-Binnenmarkt neoliberaler als der US-Binnenmarkt? Warum müssen in der EU Mindeststandards zwingend zugleich Maximalstandards sein? Das schlichte Argument der Kommission, dass andernfalls der Binnenmarkt gefährdet wäre, ist nicht stichhaltig: In den USA hat sich beispielsweise die Autoindustrie zügig an die strikteren kalifornischen Normen angepasst, statt jeweils verschiedene Autotypen für verschiedene Bundesstaaten zu produzieren. Doch in Europa darf keiner vorangehen: Kann sich Europa diese ideologisch begründete Einschränkung, ja Borniertheit in Zeiten des beschleunigten Klimawandels noch leisten?
Für die EU böten sich zahlreiche Gelegenheiten, sich stärker als Interessenvertreter der Arbeit(enden) zu profilieren und gewerkschaftliche Wirkmöglichkeiten auszubauen - beispielsweise Mitbestimmung und Tarifbindung - statt vornehmlich einem neoliberalen Binnenmarktkonzept zu huldigen. Um einen solchen Kurswechsel zu bewirken, müssten Gewerkschaften und progressive Parteien den Druck auf die EU erhöhen, einen progressiv-nachhaltigen Kurs einzuschlagen statt Greenwashing und einen überholten Neoliberalismus zuzulassen.

Unter den neueren gesellschaftlichen Herausforderungen und Transformationen bringen neue Formen der Arbeit neue Herausforderungen mit sich. Sie werfen vielfältige Fragen auf, gerade in Zeiten von ‚Homeoffice‘, mobilem Arbeiten, ‚verkannten Leistungsträger:innen‘ und prekärer Plattformarbeit. Neue Herausforderungen kamen und kommen damit auf die Gewerkschaften zu: Mitarbeiter wenden sich an sie verstärkt wegen wenig sichtbaren, neuen Formen digitaler Mitarbeiterüberwachung, angefangen beim Dienstlaptop über die Abstandsüberwachung per Kamera wegen Ansteckungsgefahr in der Pandemie bis hin zu vielen weiteren Facetten künstlicher Intelligenz (KI). Die unzähligen Einsatzmöglichkeiten von KI wie ‚keylogger‘ oder ‚Navi‘ werfen neuartige Fragen auf, eröffnen aber auch neue Interventionsmöglichkeiten für Gewerkschaften: Wie sollten Mitarbeiter:innen sich verhalten bei einer Einladung zum ‚welcome back talk‘, beim - vermuteten - Ausspähen von Privatmails oder wenn Whistleblower ausfindig gemacht werden sollen? Fragen, mit denen sich Gewerkschaften rund um den Globus verstärkt auseinandersetzen. 

Nicht nur gesellschaftliche Veränderungen, insbesondere der Arbeit, erfordern Modifikationen und Adaptationen der gewerkschaftlichen Aktivitäten, Prozesse und Strukturen, sondern auch der Klimawandel. Grundsätzlich läßt sich ohne die Gewerkschaften nur schwer eine Gegenmacht zu den unternehmerischen, von Profitstreben geleiteten Interessen formulieren. Ohne handlungsfähige und -bereite Gewerkschaften gibt es kein Entrinnen aus dem vom Profitstreben getriebenen Kapitalismus, der sich die Natur untertan macht und rücksichtslos ausbeutet. Zwar können Gewerkschaften eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Gegenmacht aufbauen, da sie auf Machtressourcen wie kodifiziertes Arbeitsrecht, Tarifsystem, Mitbestimmung sowie politische Parteien und andere kollektive Akteure angewiesen sind. Angesichts der gesellschaftlichen Transformationsprozesse von Digitalisierung und Dekarbonisierung sind Gewerkschaften gefordert, nicht jeden CO2-intensiven Arbeitsplatz zu verteidigen, sondern das Interesse an nachhaltigen Arbeitsplätzen stark zu machen. Nachhaltigkeit als Ziel kann systemtranszendierend wirken, wenn globale Solidarität im Sinne von Altruismus begriffen wird.

Zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Forderungen gehörten in der Vergangenheit stets zielgerichtete Demonstrationen oder andere Manifestationen von Kampfbereitschaft. Der EGB verließ sich nicht allein auf sein Lobby-Geschick, sondern organisierte Euro-Demonstrationen, die um so höheren Zulauf bekamen, je klarer und gezielter sie waren. Seit geraumer Zeit hat der EGB von diesen unübersehbaren Aktionsformen Abschied genommen und beschränkt sich einerseits auf Lobbyarbeit in den Stuben von Kommission und Parlament, andererseits auf Miniaktionen vor den Institutionsgebäuden und Aktivitäten in den sozialen Medien, mit begrenzter, ja schwindender Reichweite und überschaubarem Erfolg. Selbst dezentrale Aktionen finden nicht mehr statt. Entwickelt sich der EGB zurück zum reinen Brüsseler Koordinierungsbüro?

Sowohl die Pandemie als auch der Krieg in der Ukraine haben andere wichtige Themen verdrängt. Der russische Überfall auf die Ukraine hat nichts daran geändert, dass eine neue europäische Sicherheitsarchitektur in gewerkschaftlichen Kreisen gar nicht thematisiert wird, obwohl es europäische Gewerkschaftsverbände für Soldaten und Militär gibt (wie Euromil). Der von der EU eilig verfasste „Strategische Kompass für Sicherheit und Verteidigung“ (21.03.2022) streift die soziale Dimension auf seinen rund 50 Seiten überhaupt nicht, obwohl eine 5.000 Personen starke schnelle Eingreiftruppe („Rapid deployment capacity“) geschaffen werden soll. Da besteht erheblicher sozialer Nachholbedarf. Unverständlich ist auch, dass der EGB die Aufnahme von Euromil wiederholt abgelehnt und damit nicht gerade zu größerer Aufmerksamkeit für die Thematik beigetragen hat.

Einige Erfolge aus europäischer Gewerkschaftssicht sind zwar zu vermelden, bleiben aber überschaubar: In der durch die Pandemie verursachten ökonomischen Krise ist es Verdienst der Gewerkschaften, dass anstelle einer sich unkontrollierbar ausbreitenden Massenarbeitslosigkeit das Instrument der Kurzarbeit „europäisiert“, also europaweit ausgedehnt wurde. Ebenfalls durch die Pandemie nahm die Plattformarbeit stark zu. Hierbei hat die Europäische Kommission anfangs eine unrühmliche Rolle gespielt und die Mitgliedstaaten von jeglicher Regulierung abhalten wollen mit dem Argument, den Binnenmarkt aufrechtzuerhalten: als ob der „Binnenmarkt“ ein höheres Gut sei als „gute Arbeit“. Erst als die Kollateralschäden von Plattformarbeit immer zutage traten, hat es die Gewerkschaftsbewegung im Verein mit anderen Akteuren geschafft, die Kommission zur Vorlage einer Rahmengesetzgebung zu bewegen. 

Zahlreiche Fragen bleiben offen: Trotz des Klimawandel ist die europäische Wirtschafts- und Industriepolitik weiterhin von der Idee unendlich verfügbarer Ressourcen und einer Ideologie permanenten Wachstums geprägt. Aber wie soll ökologische Modernisierung, Dekarbonisierung und gleichzeitiges Anwachsen der Produktmengen kompatibel sein? Was ist das neue Normal, wenn eine Rückkehr zum Status quo ante nicht möglich und nicht gewünscht ist? Technologischer Machbarkeitswahn (‚Solutionismus‘) erscheint als ständige Versuchung, einfach weiterzumachen - nach dem Motto: irgendwann erfindet jemand einen CO2 Sauger, der es aus der Atmosphäre zurückholt - oder die Superreichen verlassen als ‚Klimaflüchtlinge’ rechtzeitig den Planeten Erde? Nichts gegen Problemlösung, aber zu welchem Preis?
 

Kommentare (1)

  • Andreas Schlossarek
    Andreas Schlossarek
    am 02.12.2022
    Großartiger Aufriss der Situation, lieber Wolfgang Kowalsky! Vielen Dank. Ich werde es weiterverbreiten! Die Debatte und Konsequenzen daraus sind überfällig!

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