Menü

Zum sozioökonomischen Disparitätenbericht 2019 Neue Politik für gleichwertige Lebensverhältnisse

Am 10. Juli 2019 hat das Bundeskabinett den Beschluss zur Umsetzung der Ergebnisse der Regierungskommission »Gleichwertige Lebensverhältnisse« gefasst. Mit dem Beschluss stellt die Bundesregierung fest, dass »innerhalb Deutschlands erhebliche regionale Disparitäten« in Bezug auf Einkommen, Beschäftigung, Infrastruktur, Zugang zur Grundversorgung und zur Daseinsvorsorge bestehen. Ausdrücklich bekennt sich die Bundesregierung zum Ziel der Verringerung bestehender sozialer und ökonomischer Ungleichgewichte zwischen den Regionen und zur Bekämpfung ihrer weiteren Verfestigung. Damit gesteht sie ein, dass die bisher praktizierte Politik der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse gescheitert ist.

Etliche wissenschaftliche Studien, Raumordnungsberichte der Bundesregierung seit 2011, Kommunalverbände und Politiker der betroffenen Regionen weisen schon seit Langem darauf hin, das längst nicht alle Städte und Kommunen von den letzten Boom-Jahren profitieren konnten. Demzufolge hat sich das räumliche Wohlstandsgefälle in Deutschland nicht etwa verkleinert, sondern eher noch vergrößert. Im Unterschied zum Deutschlandatlas des Bundesinnenministeriums und zu vielen anderen Raumstudien hat der jüngste Disparitätenbericht der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) anhand einer Clusteranalyse die Anhäufung von sozialen und wirtschaftlichen Risiken für die Menschen kartografiert. Herausgekommen ist ein fragmentiertes Land, in dem die unterschiedlichen Lebenslagen sich räumlich so sehr verfestigt haben, dass man mittlerweile von mehreren Deutschlands sprechen kann – genauer gesagt: von fünf.

Dynamische Groß- und Mittelstädte mit Exklusionsgefahr (78 Kreise; ca. 22,7 Millionen Einwohner/innen): außergewöhnliche Verdienstmöglichkeiten auf zukunftsfähigen Arbeitsmärkten, herausragende Versorgungslage an Einrichtungen und Infrastruktur. Die Einwohner/innen stehen aber in zunehmender Konkurrenz, da viele Menschen diese Lagevorteile ebenfalls schätzen und in die Großstädte drängen. Ressourcenschwache Haushalte sind zunehmend von Exklusion und Verdrängung bedroht.

Starkes (Um-)Land (62 Kreise; 13,7 Millionen Einwohner/innen): historisch gewachsene Lagevorteile in der Nähe zu den attraktivsten Arbeitsmärkten, v. a. in Süddeutschland, aber auch im Umland prosperierender Großstädte Westdeutschlands. Geringe Armutsgefährdung und kommunale Schuldenlast; Bruttogehälter, Lebenserwartung und Wahlbeteiligung deutschlandweit am höchsten. Sehr viele Menschen ziehen in diese Regionen. Die geringe Schuldenlast verleiht den Kommunen einen vergleichsweise großen Handlungsspielraum.

Deutschlands »solide Mitte« (187 Kreise; 32,8 Millionen Einwohner/innen): keine besonderen Abweichungen vom Bundesmittel; einzige Ausnahme: Der Anteil hochqualifizierter Beschäftigter ist hier am geringsten. In Westdeutschland ist er weitflächig verbreitet und umfasst ländlich und städtisch geprägte Räume, teilweise mit hohen Schuldenlasten. In Ostdeutschland beschränkt sich dieser Typ auf die Pendlereinzugsbereiche Berlins.

Ländlich geprägte (ostdeutsche) Räume in der dauerhaften Strukturkrise (53 Kreise; 8,1 Millionen Einwohner/innen): Die Bevölkerung schrumpft weiter. Geringe Einkommen und ein geringer Anteil hoch qualifizierter Beschäftigter sind die Konsequenz. Infrastrukturelle Maßnahmen entwickeln sich nicht im erhofften Maß, die Kommunen sind allerdings kaum verschuldet und durchden hohen Anteil an Frauen, die in der ehemaligen DDR durch Erwerbstätigkeit Rentenansprüche erworben haben, ist die Altersarmut (noch) gering.

Städtisch geprägte Regionen im andauernden Strukturwandel (22 Kreise; 5,4 Millionen Einwohner/innen): wenige altindustriell geprägte Kommunen im Westen und Norden. Armutsraten sind besonders hoch. Im Mittel wandern deutlich mehr Menschen ab als zuziehen. Die geringe Lebenserwartung und Wahlbeteiligung deuten auf andauernde Problemlagen hin, die kommunalen Haushalte sind mit einer hohen Schuldenlast nur eingeschränkt handlungsfähig.

Das heißt: Mehr als 69 Millionen Deutsche oder mehr als 83 % der Bevölkerung leben in dynamischen Groß- und Mittelstädten mit einem wirtschaftsstarken Umland sowie in Kommunen ohne gravierende Abweichungen zum Bundesmittel (»Deutschlands solide Mitte«). Allerdings drohen zunehmend Exklusion und Verdrängung in den erfolgreichen Regionen durch ansteigende Lebenshaltungskosten und überlastete Infrastrukturen.

Mehr als 13,5 Millionen oder fast 16,4 % leben in Regionen mit schweren Strukturproblemen. Oft kann staatliches Handeln nicht mehr gegensteuern, da die lokalen Haushalte überschuldet sind und Investitionen zurückgefahren werden mussten. Binnenwanderungen verstärken die Disparitäten. Die Abwanderung aus den Randgebieten bedeutet eine zusätzliche Zuspitzung, da zumeist gut ausgebildete junge Menschen und junge Familien in die Wachstumsregionen umziehen. Zudem zeigt sich in vielen dieser Regionen: Wo der Staat nicht handlungsfähig ist, nimmt das Vertrauen in Politik und Demokratie ab. Entsprechend hoch sind die Anteile der Nichtwähler/innen und der Zulauf zu rechtspopulistischen Parteien in diesen Regionen.

Vorschläge der Bundesregierung

Lange Zeit hat die Politik den Zusammenhang zwischen regionalen wirtschaftlichen Unterschieden und ihren weitreichenden Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt mehr oder weniger ignoriert und nur unzureichende Antworten gegeben. Sie hat die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ab 2020 nicht dazu genutzt, die öffentlichen Finanzen für die Zukunft grundlegend zugunsten der wirtschaftlich und finanziell schwächeren Länder und Regionen zu verändern. Wichtige einzelpolitische Maßnahmen sind in der Regel zeitlich befristet und unterdimensioniert. Sie können die sich verschärfenden Disparitäten allenfalls lindern, aber nicht ihre strukturellen Ursachen aufhalten. Nun soll das alles anders werden.

Der Bundesinnenminister überraschte bei der Vorstellung des Regierungsbeschlusses durch radikale Einsichten: »Wir brauchen wieder einen aktiveren Staat, der die Mängel der sozialen Marktwirtschaft ausgleicht und uns von dem Irrglauben befreit, die Marktwirtschaft löse alles.« Und die Regierung sieht die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse als »eine herausragende Aufgabe für die kommende Dekade«. Folgende Maßnahmen wurden verkündet, die von jedem Ressort im Rahmen seiner Zuständigkeit und nach Haushaltslage umgesetzt werden sollen.

  1. Mit einem neuen gesamtdeutschen Fördersystem strukturschwache Regionen gezielt fördern. Hiermit soll ein aus der 18. Legislaturperiode stammendes Vorhaben umgesetzt werden. Im Hinblick auf das Auslaufen der bisherigen Bestimmungen zum Solidarpakt II sollen die spezifischen strukturpolitischen Förderinstrumente für Ostdeutschland für alle Regionen zur Verfügung stehen. Es soll weitere nicht spezifizierte Programme für Innovation, die Stärkung der technischen sozialen Infrastrukturen und die Sicherung von Fachkräften in den Regionen entwickelt werden. Zudem findet bei der Verteilung der Fördermittel der Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« eine stärkere Berücksichtigung des demografischen Wandels statt. Des Weiteren sollen nicht abgerufene Fördermittel endlich nicht mehr nach dem Windhundprinzip verteilt, sondern strukturschwachen Regionen erneut zur Verfügung gestellt werden.
  2. Arbeitsplätze in strukturschwache Regionen bringen. So sollen Behörden, Wissenschaftseinrichtungen und Fachhochschulen vorrangig in strukturschwachen Gegenden angesiedelt werden. Insgesamt begrüßenswert, aber es wird dauern, bis die erhofften positiven Effekte sich in den Regionen bemerkbar machen.
  3. Breitband und Mobilfunk flächendeckend ausbauen. Eigentlich für ein so hoch technisiertes Land eine Selbstverständlichkeit, aber auch hier gilt, dass eine staatlich finanzierte Infrastruktur allein keine schnellen Impulse für Wachstum und Beschäftigung erzeugen kann.
  4. Mobilität und Verkehrsinfrastruktur in der Fläche verbessern. Eine dringend notwendige Maßnahme, die aber nicht zum Ziel haben darf, lange Pendlerstrecken, am besten mit dem Auto, zu ermöglichen. Die Mobilitätswende muss im Mittelpunkt stehen. Ziel muss es sein, den Menschen zu ermöglichen möglichst dort zu arbeiten, wo sie leben. Deswegen sind Fortschritte bei dem digitalen Infrastrukturausbau, der Arbeitszeitflexibilisierung und der Kinder- und Seniorenbetreuung so dringend.
  5. Dörfer und ländliche Räume stärken. Mit neuen räumlichen Abgrenzungen und neuer inhaltlicher Schwerpunktsetzung wird sich die Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes« auf wirklich bedürftige Räume und die inhaltliche Stärkung der Daseinsvorsorge vor Ort konzentrieren. Was mit den bedürftigen städtischen Regionen und deren Infrastrukturmängel passiert, ist damit aber offen.
  6. Städtebauförderung und sozialen Wohnungsbau voranbringen. Mehr als ein Versprechen, die Bundesmittel für den sozialen Wohnungsbau auch nach dem Jahr 2021 fortzuschreiben, wurde nicht geleistet. Es fehlen zum Beispiel die Förderung von Genossenschaften, Maßnahmen zum Erhalt der sozialen Vielfalt in den Städten sowie Lösungsansätze, wie der Zuwanderungsdruck gemindert werden kann.
  7. Eine faire Lösung für kommunale Altschulden finden. Wie dem Beschluss zu entnehmen ist, wurde hier keine Einigung erzielt. Zwar ist der Wille zu erkennen, verschuldeten Kommunen zu helfen, doch ist es fraglich, ob er ausreicht, um die Kommunen aus dem Teufelskreis von geringem Wachstum, hoher Arbeitslosigkeit, hohen Sozialausgaben und geringen öffentlichen Investitionen zu befreien. Denn ursächlich sind nicht die hohen Kassenkredite der Kommunen, wie der Beschluss nahelegt, sondern die strukturelle Schwäche ihrer Einnahmen gepaart mit den hohen Sozialausgaben, die den Kommunen per Bundesgesetz vorgeschrieben werden.
  8. Engagement und Ehrenamt stärken. Eine Stiftung für Engagement und Ehrenamt soll gegründet werden, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt innovativ zu fördern. Ob das ausreicht, für die notwendige systematische und nachhaltige Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu sorgen, ist fraglich.
  9. Qualität und Teilhabe in der Kindertagesbetreuung sichern. Dazu wird sich der Bund erwartungsgemäß über 2022 hinaus finanziell engagieren. Es bleibt zu hoffen, dass die Länder nicht wie beim Gute-Kita-Gesetz das Vorhaben soweit verwässern, bis die ursprüngliche Idee von einheitlichen Betreuungsstandards und dem Ausbau der Betreuung nur noch schwer zu erkennen ist.
  10. Barrierefreiheit in der Fläche verwirklichen. Auch hier handelt es sich nicht um eine strukturpolitische Innovation, sondern um die Erfüllung der Verpflichtungen der Bundesregierung aus der UN-Behindertenrechtskonvention.
  11. Miteinander der Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen fördern. Der Bund verpflichtet sich, gute Rahmenbedingungen für die Schaffung einer sozialen Infrastruktur in den Kommunen zu schaffen. Damit soll die Attraktivität der Kommunen als Orte, an denen mehrere Generationen zusammenleben, verbessert werden. Ob damit eine dringend verbesserte Infrastruktur für Pflege, für Schulen oder Nahversorgung gemeint ist, bleibt offen.
  12. Gleichwertige Lebensverhältnisse als Richtschnur setzen. Die Etablierung einer praktikablen quantitativen und qualitativen räumlichen Wirkungsanalyse von staatlichen Maßnahmen in Form eines »Gleichwertigkeits-Check« wäre in der Tat ein wichtiger Fortschritt und zugleich eine methodische Herausforderung für die wissenschaftliche Politikberatung.

Zusammenfassend zeigt der Beschluss zur Umsetzung der Ergebnisse der Kommission »Gleichwertige Lebensverhältnisse« durchaus richtige Erkenntnisse und Überlegungen. Trotzdem stellen die Vorschläge keinen großen Wurf dar. Viele Vorschläge sind bereits aus anderen Zusammenhängen bekannt oder setzen die Umsetzung bestehender Instrumente fort. Vieles bleibt im Vagen und wie viel Geld fließen wird, bleibt offen. Erneut hat die Bundesregierung es verpasst, eine große Lösung für ein wirklich großes Problem vorzulegen.

Notwendig ist eine neue Politik

Denn wirklich notwendig wäre ein umfassendes politisches Konzept zur Bekämpfung der Disparitäten. Dieses sollte die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse mit einer Politik zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts verbinden. Dazu sind nicht nur eine aktive Struktur- und vor allem Regionalpolitik sowie kräftige Impulse für die Stärkung der Zivilgesellschaft dringend notwendig. Will die Politik tatsächlich erfolgreich sein, wird sie über die angedachten Maßnahmen hinaus um einen weitergehenden Umbau auch der Bildungs-, Forschungs-, Verkehrs- und Finanzpolitik nicht herumkommen. Sie sollte vier Ziele verfolgen:

Ungleiches ungleich behandeln: Soziale und technische Infrastrukturen sind räumlich höchst ungleich verteilt. Die Staatsausgaben müssen künftig räumlich gerechter verteilt werden. Der politische Leitsatz »Ungleiches ungleich behandeln« muss zur durchgehenden Maxime staatlicher Ausgabenpolitik werden. Erforderlich ist eine stärker indikatorengestützte Regionalisierung vieler staatlicher Investitionshilfen, orientiert an fachlichen Aspekten und räumlichen Ungleichgewichten. Dies gilt insbesondere für Infrastrukturförderprogramme und bei den Investitionshilfen des Bundes und der Länder. Somit können sowohl die Nöte struktur- und finanzschwacher Kommunen als auch die Probleme der durch Zuzugsdruck überlasteten dynamischen Städte und Kreise berücksichtigt werden.

Kommunen stärken: Ohne leistungsstarke Kommunen sind gleichwertige Lebensverhältnisse nicht zu erreichen. Denn die kommunalen Verwaltungen sichern den Zugang zur Daseinsvorsorge für alle. Die Kommunen brauchen dafür eine angemessene Personal- und Finanzausstattung. Notwendig ist deshalb eine Initiative zur Stärkung der Verwaltungskraft, um kommunale Kompetenzen wieder aufzubauen. Mit einer Anpassung der kommunalen Finanzausgleichssysteme der Länder muss sichergestellt werden, dass die vom Bund bereitgestellten Mittel bei denjenigen Kommunen und Kreisen ankommen, die diese benötigen.

Strukturschwache Kommunen entlasten. Notwendig ist deshalb ein gemeinsamer Entschuldungsfonds des Bundes und der Länder. Die Altschulden der am meisten belasteten Kommunen sollten gebündelt und mit Auflagen verbunden werden, um die Einnahmensituation zu verbessern und neue Schulden zu vermeiden. Daneben ist eine weitere Übernahme von Sozialausgaben durch den Bund, z. B. der Unterkunftskosten für Langzeitarbeitslose, die in den Krisenkommunen besonders ins Gewicht fallen, notwendig. Die schwächsten Kommunen tragen heute die höchsten Lasten bei den Sozialtransfers.

Neue Gemeinschaftsaufgabe »Regionale Daseinsvorsorge«. Der Zugang zu einer flächendeckenden und leistungsfähigen Infrastruktur ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Menschen frei entfalten können. Eine Politik des Zusammenhalts muss sich deshalb um die Entwicklung sozialer Orte kümmern, an denen eine eigenständige Regionalentwicklung durch bürgerschaftliches Engagement, kommunale Kooperationen und regionale Netzwerke und viele andere Teilhabeformate gelebt wird. Die vielen innovativen Ansätze aus geförderten Modellprojekten des Bundes und der Länder gehören verstetigt und in den Alltagsbetrieb übernommen. Bund und Länder sollten hierfür eine neue Gemeinschaftsaufgabe »Regionale Daseinsvorsorge« verabreden. Sie finanziert sowohl eine ausreichende materielle Daseinsvorsorge in den Regionen als auch die systematische Unterstützung der Prozesse zur Aktivierung, Mitbestimmung und Selbstorganisation der Zivilgesellschaft.

Mit der Arbeit der Kommission und dem Kabinettsbeschluss zur Umsetzung der Ergebnisse der Kommission kommt die Debatte zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse endlich in Gang. Den Ankündigungen müssen jetzt Taten folgen, sonst werden die Zweifel an Politik und Demokratie in den betroffenen Regionen weiter steigen. Diffuse soziokulturelle Debatten zum Thema Heimat lenken dabei nur ab, provozieren falsche Fronten und laufen Gefahr, die materiellen Lebensinteressen der Menschen aus den Augen zu verlieren.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben