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Neue soziale Ungleichheiten durch künstliche Intelligenz

Die Geschichte der Menschheit ist eng verwoben mit technischem Fortschritt: Von der Erfindung der ersten Werkzeuge, des Rades, des Buchdruckes oder der Dampfmaschine bis zur Nutzung der Atomenergie, des Internets oder eines Teilchenbeschleunigers entwickelte sich die Menschheit technisch kontinuierlich weiter. Unsere Welt ist heute in vielen Bereichen eine Welt aus Nullen und Einsen und die moderne Technologie wirkt sich mit besonders hoher Geschwindigkeit auf diverse Bereiche des täglichen Lebens und der Arbeitswelt aus. Durch App-basierte Chats, Videoanrufe oder virtuelle Meetings, Cloudworking sowie Client-Zugriffe auf E-Mails sind wir rund um die Uhr vernetzt. Navigations-Apps, mobile Spiele oder Musikstreaming bereichern unseren Alltag und werden – gerade von jungen Menschen – wie selbstverständlich verwendet, sind gar ein Bestandteil unserer Zivilisation. Vorausgesetzt, es kommt zu keinem Ereignis globalen katastrophischen Ausmaßes, dann kommt man unweigerlich zu der Annahme, dass sich Technologie auch künftig unaufhaltsam weiterentwickeln wird. Eine solche »ewigwährende« technologische Weiterentwicklung bleibt nicht ohne Konsequenzen: Mit jeder großen Erfindung ergeben sich gesellschaftliche, soziale und politische Anpassungsprozesse, die das Leben von Menschen nachhaltig verändern

Künstliche Intelligenz (KI) ist eine solche Technologie. Sie hat das Potenzial, alle Arbeitsfelder und das Alltagsleben fundamental zu verändern – die potenziellen Anwendungsmöglichkeiten sind de facto unbeschränkt. Allerdings sind auch die gesellschaftlichen Verwerfungen, die durch KI entstehen könnten, substanziell. Ein Blick in die ferne Zukunft einer vollentwickelten KI ist dabei gar nicht vonnöten: Die vierte industrielle Revolution und die Änderungen, die diese mit sich bringt, sind bereits auf dem Weg. Dieser Wandel kann Chancen für alle eröffnen. Er kann zu mehr Lebensqualität, Freizeit, flexibleren und besseren Arbeitsbedingungen und sinnstiftenden Beschäftigungen führen. Allerdings bietet er ebenso die Möglichkeiten für eine neue soziale Ungleichheit zwischen jenen, die von den enormen Potenzialen der Technologie profitieren, und jenen, deren Arbeitskraft durch Maschinen ersetzt wird

Der Begriff »Künstliche Intelligenz« ist unbestimmt, irreführend und nicht einheitlich definiert. Er meint zumeist fortgeschrittene Software. Diese führt, zusammen mit moderner Robotik, bereits zu Produktivitätssteigerung und somit zu Arbeitsplatzabbau. Fundamentale Veränderungen der Arbeitswelt und Arbeitsbedingungen sowie neue Formen des Outsourcings und Verdrängungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt sind die Folge. Auf Algorithmen basierte KI-Anwendungen existieren in unterschiedlichsten Formen, sie werden immer intelligenter, können eigenständig mit anderen Anwendungen oder Menschen interagieren oder in einem klar spezifizierten Feld übermenschliche Fähigkeiten aufweisen – von IBMs Supercomputerprogramm Watson bis zu Schachcomputern oder Trading-Algorithmen. Sie ersetzen vermehrt Büro- und Fachkräfte wie Datenspezialisten, Programmierer oder Radiologen. Software kann immer besser Dokumente übersetzen, Human Resources-Aufgaben durchführen, Versicherungsanfragen bearbeiten, Investmentportfolios managen oder juristische Recherchen ausführen. Bei all diesen Aufgaben sind Software und Maschinen dem Menschen in den Bereichen Geschwindigkeit, Genauigkeit und Verlässlichkeit überlegen

Weiter darüber hinaus geht die sogenannte »Superintelligenz«. Diese KI wäre dem Menschen nicht nur (weit) überlegen, sondern hätte ein gar unendliches Potenzial. Sie könnte zu einer kompletten Restrukturierung des Lebens, wie wir es kennen, führen und würde in ihrer Bedeutung dem Landen eines Raumschiffs aus einer anderen Zivilisation gleichkommen. Eine solche Maschine wäre die letzte Erfindung, die die Menschheit je erfinden müsste: Ab diesem Zeitpunkt wären Maschinen besser in der Lage, andere hochentwickelte Maschinen zu kreieren. Eine solche – nach Fiktion klingende KI – ist aber noch nicht in Sicht

Dennoch haben exponentielle Fortschritte der Informationstechnologie in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass sich die Entwicklung neuer Technologien rasant vollzieht. Gingen die anfänglichen technischen Entwicklungen aus heutiger Sicht verhältnismäßig langsam vonstatten und hatten nur geringe direkte Auswirkungen auf das alltägliche Leben, gibt es bei allen technischen Fortschritten einen unsichtbaren Wendepunkt, ab dem sie einen disruptiven Charakter entwickeln, ganze Berufsgruppen obsolet werden lassen und den Umfang an notwendigen Kenntnissen für die Ausübung der verbleibenden Berufe nach oben schnellen lässt. Auch wenn technische Entwicklungen nicht überall abrupt erfolgen werden und sie auf einige gesellschaftliche Bereiche – z. B. medizinische Forschung, Fahrzeugentwicklung und -bau, Fastfood-Restaurants – stärker konzentriert sind, befinden wir uns am Beginn des stärksten Wachstums. Bereits der nächste oder übernächste Entwicklungsschritt unterscheidet sich nicht mehr nur graduell von seinem Vorgänger, sondern könnte eine ganze Größenordnung über der technischen Potenz, der Möglichkeiten und der Vorstellung des derzeit »Machbaren« liegen

Die Rahmengestaltung einer neuen Gesellschafts- und Arbeitsordnung dürfen wir nicht länger aufschieben, sonst werden rapide technische Entwicklungen zu enormen sozialen Ungleichheiten führen, die schwerwiegende politische Konsequenzen nach sich ziehen werden

Technologische Entwicklung sozial gestalten

Die Vorstellung, dass neue Technologien Massenarbeitslosigkeit auslösen können, ist keine neue: Seit gut 200 Jahren fürchten Menschen, dass Maschinen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen werden. Bereits im frühindustriellen England gründeten sich die sogenannten »Maschinenstürmer«, Protestbewegungen die verhindern wollten, dass die Mechanisierung der industriellen Revolution zu einer Ersetzung qualifizierter Arbeiter oder einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen führt. Jene Propheten, die das Ende der Arbeitswelt voraussagten, lagen bisher alle falsch: Die Volkswirtschaften des Westens waren lange Zeit nahe der Vollbeschäftigung und heute weisen Länder wie Deutschland ein Rekordbeschäftigungsniveau auf. Ist die Debatte um den Arbeitsmarkt der Zukunft und den Einfluss disruptiver Hochtechnologie also auch heute fehlgeleitet? Kurzum: Nein. Aber wir müssen Grundlagen für die Zukunft schaffen

Moderne Industrienationen wie Deutschland basieren zu einem signifikanten Teil – von der Produktion bis zum Verkauf – auf Arbeiten, die langfristig automatisiert werden können. Sie machen fast die Hälfte der Wirtschaftskraft aus. Neue Berufsfelder, die ohne Frage durch die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt entstehen werden, müssen nicht zwingend die gleiche Entlohnung, soziale Sicherheit oder Sinnstiftung mit sich bringen. Ihre Anzahl wird zudem deutlich geringer sein als heute und höhere Eingangsqualifikationen erfordern. Dazu kommt, dass der größte Teil der Erwerbstätigen nicht auf Kapitalerträge zurückgreifen kann und nicht durch Ausschüttungen an kommenden Gewinnen beteiligt sein wird. Ein Arbeitsplatzverlust durch Technisierung führt somit zu sozialem Abstieg und einer erhöhten Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt. Um wachsende soziale Ungleichheiten und damit verbundene politische Konsequenzen zu verhindern, müssen bereits heute substanzielle Zukunftsinitiativen eingeleitet werden

Diese könnte man grob in drei Teile gliedern: Von der Verbesserung der Bildungsstandards (einschließlich der Aus- und Weiterbildung) über Investitionen in Zukunftsindustrien bis hin zu gerechten Mechanismen für die Verteilung der Fortschrittsgewinne

Vorangegangene Anpassungsprozesse der Arbeitswelt zeigen auf, dass Menschen sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren müssen. Wir müssen definieren, welche Kompetenzen in der Zukunft nötig sein werden, wie zeitgemäße Aus- und Weiterbildung aussehen muss und wie Arbeiter in einer symbiotischen Beziehung mit Maschinen tätig sein können. Am Beispiel des Elektrikers (heute vielmehr: Elektronikers) wird deutlich, wie stark sich Ausbildungsinhalte verändern können: Während vor vielen Jahren im Grunde elementare Bildung ausreichend war, werden heute in diesen Berufen Elektro-, Sicherheits- sowie Informations- und Telekommunikationstechnik behandelt und mit Themen wie Datennetzwerke, Beleuchtungs- oder Klimaanlagen eine enorme Bandbreite abgedeckt – Inhalte, die nicht selten einen guten Realschulabschluss mit sehr guten Noten in Mathematik und Physik voraussetzen. Um in der kommenden Arbeitswelt weiter benötigt zu werden und komplementär zu Maschinen arbeiten zu können, ist aber nicht nur technisches Know-how notwendig. Neben verwaltenden und wartenden Tätigkeiten, die beide hochgradig technisches Fachwissen voraussetzen werden, wird es vor allem solche geben, die auf Kreativität basieren. Denn: Die für Disruption anfälligsten Berufsgruppen sind jene, die in strukturierten Umgebungen ausgeführt werden und auf Routine fußen

Investitionen in Infrastruktur, Forschung und Entwicklung künftiger Industrien und Technologien sind ein zwingendes Element der Zukunftsgestaltung: Nur durch mehr Wachstum in neue Industrien wird es in der Zukunft zum Aufbau neuer – auch zukunftsträchtiger – Arbeitsplätze kommen. Internetfirmen wie Facebook oder Google machen deutlich, wie wenig vorhersehbar diese kommenden Wirtschaftssektoren sind und wie bedeutend die Rahmenbedingungen für deren Wachstum. Verknüpft werden müssen diese Ansätze durch die Erkenntnis, dass Arbeit auch in der Zukunft fair bezahlt werden muss: Nur wo gerechte Löhne bezahlt werden, kann langfristig Konsum erhalten bleiben

Nicht zuletzt müssen Politik und Gesellschaft realisieren, dass es Menschen geben wird, die ihr Leben nicht oder nur unzureichend aus Arbeitsleistung bestreiten können werden

Diese könnte man an den Früchten des technologischen Wandels teilhaben lassen, indem man einen Umverteilungsmechanismus von gesamtgesellschaftlichen Erträgen wie ein (bedingungsloses) Grundeinkommen implementiert oder eine negative Besteuerung einführt. Auch andere Formen des Tätigseins könnten damit in ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz befeuert werden. Die Lebensleistung von Menschen, die ihre Familienmitglieder pflegen, sozial, gesellschaftlich oder ehrenamtlich tätig sind, könnten so gewürdigt werden

Neue soziale Ungleichheiten müssen mit der Revolution durch Robotik, Automation und künstliche Intelligenz nicht einhergehen. Die Maschine könnte sich vielmehr als optimales Mittel zur Verbesserung der Lebensstandards aller beweisen – so wie sie es in der Menschheitsgeschichte bereits mehrfach getan hat

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