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Biografien von Christoph Martin Wieland und Adelbert von Chamisso Neuentdeckung zweier Klassiker

Wer käme nicht in Verlegenheit, sollte er aus dem Stehgreif drei Werke von Christoph Martin Wieland aufzählen? »Wieland wird nicht mehr gelesen«, urteilte Walter Benjamin schon vor fast 100 Jahren. Daran hat sich heute nicht viel geändert, auch wenn der Literaturwissenschaftler und Kunstmäzen Jan Philipp Reemtsma sich seit Jahrzehnten darum bemüht, Wieland vor dem Vergessen zu retten. Es ist wohl kaum übertrieben, dies zu seinem Lebenswerk zu zählen: Reemtsma hat vielfältig über den Begründer der Weimarer Klassik publiziert, Werkausgaben Wielands mitherausgegeben und dazu beigetragen, dass dessen verfallenes Gutshaus im thüringischen Oßmannstedt als Museum restauriert werden konnte.

Bereits seine Dissertation von 1993 galt Wielands Alterswerk: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Reemtsma charakterisiert es als erotischen Roman über eine unkonventionelle Frau und über Liebes- und Geschlechterverhältnisse, die man »in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wohl ›radikalfeministisch‹ genannt hätte«. Er mutmaßt sogar, dass Karl Poppers »offene Gesellschaft und ihre Feinde« von Aristipps beziehungsweise Wielands Kritik an Platons Politeia inspiriert worden sei. Seine 700-seitige Biografie hat zum Ziel, das tiefgründige Werk dieses Autors wiederzubeleben, denn er habe nicht weniger als die moderne deutsche Literatur erfunden.

Vor Wieland schrieben deutsche Autoren selbst private Briefe oft auf Französisch und die Ansicht war verbreitet, auf Deutsch könne man gar nicht dichten.

Vor Wieland fühlten sich deutsche Autoren literarisch nicht auf der Höhe der Zeit. Selbst private Briefe schrieben sie oft auf Französisch, und die Ansicht war verbreitet, auf Deutsch könne man gar nicht dichten. Behörden und Verwaltungen pflegten ein gestelztes Kanzleideutsch, das uns heute eher wie eine Karikatur von Sprache erscheint. Literarische Vorbilder existierten so gut wie nicht. Deshalb suchte und fand Wieland Stoffe und Figuren in der Antike. Und er war der Ansicht, eine neue Form für einen alten Stoff zu finden, mache den wahren Poeten aus.

Christoph Martin Wieland kam 1733 nahe dem süddeutschen Biberach zur Welt. Bereits im Alter von achtzehn Jahren verfasste und publizierte er das Lehrgedicht Die Natur der Dinge in 500 Versen, mit dem er dem römischen Dichter und Epikuräer Lukrez christliche Konkurrenz machte. Den jungen protestantischen Wieland charakterisiert Reemtsma als konfessionell doktrinär. Seine frühen Stücke klingen, schreibt er, wie »Kanzleipredigten«. Doch die christliche Fixierung ließ er bald hinter sich und entwickelte sich zu einem Freigeist. Patriotismus war für ihn eine »Modetugend« und seine poetischen wie politischen Schriften führten vor, wie man zu Ansichten und Urteilen gelangen konnte.

Er mochte keine Wiederholungen und verabscheute die Routine: Hatte er ein Thema oder eine dichterische Form hinreichend ergründet, versuchte er sich an anderen Themen und Formen. »Sprunghaft« nannten das manche oder gar »prinzipienlos«. Doch hatte er zunächst nicht viele Gegner. Kein Geringerer als Lessing nannte Wielands Geschichte des Agathon den »ersten Roman für Leser von klassischem Geschmack«. Mit ihm beginnt in Deutschland der Roman als literarische Gattung.

Von Biberach wurde Wieland an die Universität Erfurt als Professor für Philosophie berufen, obwohl er keinen akademischen Abschluss vorweisen konnte. Doch dann erwies er sich als fleißiger und zunehmend beliebter Dozent. Erfurt wurde für ihn zum Sprungbrett, denn die Weimarer Herzogin Anna Amalia wurde auf den akademischen Lehrer aufmerksam. Sie suchte für ihren 14-jährigen Sohn und künftigen Herzog einen Erzieher und Sparringspartner. Reemtsma, der seinen Lieblingsautor manchmal etwas weitschweifig zitiert, schildert eindrucksvoll das komplizierte Ränkespiel, das zu absolvieren war, bis das Interesse der Herzogin schließlich in eine gutbezahlte Anstellung mit Pensionsanspruch mündete.

Der vergessene Meister

Wieland war neben Lessing der erste Meister unserer klassischen Literatur. Er war daran beteiligt, Goethe nach Weimar zu holen und Herder die Stelle des Generalsuperintendenten und Stadtpredigers zu verschaffen. Es gelang ihm, den jungen Herzog für sich einzunehmen. Als dessen Privatlehrer blieb ihm genügend Zeit und Energie, sich anderen Herzensprojekten wie der Gründung einer Zeitschrift zu widmen. Der Teutsche Merkur behandelte literarische und politische Themen aus aller Welt. Wieland schrieb Leitartikel und Rezensionen, redigierte Artikel. Er bekannte sich zur Pressefreiheit und begrüßte die Französische Revolution. Wer Rang und Namen hatte in der deutschen Literatur, bekannte sich zu Wieland. Zu Lebzeiten waren Kant und Lichtenberg seine begeisterten Leser. Goethe, der auf Wieland manchen vergifteten Pfeil verschoss, bekannte sich nach dessen Tod in feierlichem Nekrolog zu diesem »glücklichsten Menschen«, wie er ihn nannte; das Versepos Musarion rühmte er als »Dichtung aus Gold und Kristall«.

Aber Wieland war auch der erste Bahnbrecher Shakespeares in Deutschland, von dem er 22 Stücke in deutsche Prosa übersetzte, er schuf die dauerhaft gültigen Übersetzungen antiker Klassiker wie Horaz und Lukian, und er war der früheste Förderer Heinrich von Kleists, über den er nach dessen Besuch in Oßmannstedt schrieb, er sei dazu geboren, »die große Lücke in unserer (…) Literatur auszufüllen, die (…) selbst von Goethe und Schiller noch nicht ausgefüllt worden ist.« Erst die Romantiker rieben sich an Wieland und attackierten ihn, angeführt von den Brüdern Schlegel, als Plagiator. Es ging um literarische Macht und den literarischen Markt. Ihr Ziel war nichts Geringeres als Wielands »Annihilation«. Darin waren sie erfolgreich, weit über seinen Tod hinaus. Selbst gewichtige Gegenstimmen wie die von Heine und Nietzsche konnten nicht verhindern, dass er immer mehr ins Abseits geriet. Er galt fortan als »französisierender« und »undeutscher« Klassiker. Was ihn heute fern erscheinen lässt, ist das Resultat einer spezifischen historischen Konstellation, an deren Ende eine für die deutsche Literatur traurige Verlustrechnung steht. Man mache nur den Versuch, Wieland als Meister einer artifiziellen Stil-, Vers- und Formkunst zu entdecken, wie sie in Deutschland ohne Nachfolge geblieben ist. Wer sich darauf einlässt, dem werden auch die »inhaltlichen« Sensationen nicht verborgen bleiben, Wielands unermüdliche Arbeit an der »Zivilisierung des Affengeschlechts«. Reemtsmas Biografie ist ein schönes Plädoyer für diesen großen Autor. Ob sie als historisches Korrektiv wirken wird, daran sind allerdings Zweifel erlaubt.

Dichter und Weltreisender

Als Wieland 1813 starb, arbeitete Adelbert von Chamisso in Kunersdorf im Oderbruch, sieben preußische Meilen (= 53 km) entfernt von Berlin, an der wundersamen Geschichte von Peter Schlemihl, der mit seinen Siebenmeilenstiefeln die Welt durchmisst. Wenn ihr Autor nicht am Schreibtisch saß, streifte er mit seiner Botanisiertrommel durch Wiesen und Wälder und sammelte Blüten, Blätter und Wurzeln. Er war ein Flüchtlingskind aus altem französischen Adel, geboren 1781 in der Champagne. Seine Familie floh während der Französischen Revolution zunächst nach Köln und strandete schließlich in Berlin. Adelbert tat Dienst als livrierter Page bei Hof und wurde dann preußischer Offizier. Höchst ungern: »Dieser Beruf verdorrt den Geist und tötet das Herz«, schrieb er an seinen Bruder. Gern würde man erfahren, wie es Chamisso gelang, dem ungeliebten Offiziersdienst zu entkommen. Denn es herrschte Krieg in Europa.

Seine Geschichte von Peter Schlemihl sollte ein Bestseller werden ebenso wie seine späteren Gedichtbände. Doch im Zentrum von Matthias Glaubrechts umfangreicher Chamisso-Biografie steht der spätberufene Naturforscher, der von 1815 bis 1818 auf der russischen Brigg Rurik um die Welt segelte. Damals waren die Küsten der Kontinente zwar fast vollständig kartiert, aber die große Frage blieb, ob eine schiffbare Passage im Nordosten zwischen Sibirien und Alaska existierte. Ein russisches Forschungsschiff unter dem Kommando von Otto von Kotzebue, Sohn des erfolgreichen Dramatikers August von Kotzebue, sollte sie ausfindig machen. Heute wäre es undenkbar, einen Hobbybotaniker als Wissenschaftler bei einer solchen Expedition mitzunehmen. Chamisso durfte dank guter Beziehungen und weil er keine Ansprüche stellte mitfahren. Ausführlich zeichnet Glaubrecht die Etappen dieser Reise nach und beschreibt die Widrigkeiten, Rückschläge und Erfolge, fast wie in einem Abenteuerbuch.

Die Stimmung war schlecht, der Platz knapp. Nur der junge Kapitän hatte eine eigene Kajüte. Chamisso, der Älteste an Bord, »aber der Jüngste an Erfahrung«, musste die seine mit drei Reisegefährten teilen. Legte er Pflanzen oder Tierbälge zum Trocknen aus, passierte es häufig, dass Matrosen das streng riechende Sammelgut kurzerhand über die Reling warfen. Seine Herbarien zweckentfremdeten sie als Matratzenlager. Erstaunlich, dass Chamisso trotzdem rund 2.500 Pflanzen mit nach Hause brachte, davon ein Drittel unbekannte.

Neben diesen Sammlungen identifiziert Matthias Glaubrecht zwei weitere wissenschaftliche Leistungen: Chamisso erforschte an Bord der Rurik die Genealogie von Salpen. Salpen (Manteltiere) bilden die Nahrungsgrundlage für etwa 200 weitere Arten von Meerestieren, einschließlich von Thunfischen und Makrelen. Und er entdeckte die sogenannte Metagenese, den Wechsel der Generationen samt Fortpflanzungsmodus. Die Gestalt der Tochtergeneration ähnelt der großmütterlichen, unterscheidet sich aber vollkommen von der mütterlichen. Mit dieser Entdeckung promovierte Chamisso später in Berlin und ging in die Annalen der Biologie ein. Seine zweite bedeutende naturkundliche Erkenntnis besteht nach Glaubrecht in einer Theorie über die Entstehung von Korallenriffen. Während der eisigen Monate in der Polarzone segelten die Forschungsreisenden in die Südsee. Dort, in den Atollen der Ratak-Kette, den heutigen Marshallinseln, entwarf Chamisso ein erstaunlich genaues Bild vom Aufbau der Korallenriffe mit typischem Ringwall und flacher Lagune.

Von den Südseeinseln und seinen Bewohnern zeigte sich Chamisso ebenso wie sein erst 27-jähriger Kapitän »tief verzaubert«. Schwärmerisch deutet er auch sexuelle Freizügigkeiten an: »Der Hausvater erwartet am Wege den Fremdling und zieht ihn unter sein Zelt oder unter sein Dach. (…) Da macht er sich auch leicht zur Pflicht, ihm sein Weib anzubieten, welches dann zu verschmähen eine Beleidigung sein würde. Das sind reine, unverderbliche Sitten.« Biograf Matthias Glaubrecht ergänzt allerdings, dass es Chamissos vermeintliches Paradies auf den Inseln im Pazifik nie gegeben hat. Die matrilinearen Strukturen auf Ratak seien den Reisenden nicht bewusst gewesen. Auch nicht, dass sie möglicherweise Teilnehmer eines in aller Offenheit ausgetragenen sexuellen Wettbewerbs unter den Frauen waren.

Die gesuchte Nordostpassage, das eigentliche Ziel, fanden die Forschungsreisenden allerdings nicht. Kapitän Kotzebue erkrankte und brach die Reise zu Chamissos Verdruss nach drei Jahren ab. Zurück in Sankt Petersburg geschah etwas Erstaunliches: Man erlaubte ihm, was er an Naturalien in Kisten verstauen konnte, mit nach Deutschland zu nehmen, um es schließlich den Museen der preußischen Hauptstadt zu übereignen. Dort entwickelte sich der Abenteurer Chamisso zum biedermeierlichen Hausvater. Er heiratete eine junge Frau und hatte mit ihr zahlreiche Nachkommen. Das verbindet ihn mit Christoph Martin Wieland, der ebenfalls eine junge Frau heiratete, die ihm 14 Kinder gebar. Fünf starben noch zu seinen Lebzeiten.

Beiden Biografen gelingt es, bemerkenswerte Lebensläufe unter oft widrigen Umständen spannungs- und erkenntnisreich nachzuzeichnen.

Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland – Die Erfindung der modernen deutschen Literatur, C.H. Beck, München 2023, 704 S., 38 €.

Matthias Glaubrecht: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage, Galiani, Berlin 2023, 688 S., 36 €.

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