Menü

© Unsplash

Neuer Widerstand in Ungarn

Im Wesentlichen geht es in dem – von Vielen als »Sklavengesetz« bezeichneten – Gesetz darum, dass der Arbeitgeber anstelle der bisherigen 250 Überstunden pro Jahr nun bis zu 400 Stunden anordnen kann, sofern der Arbeitnehmer dem zustimmt. Das nennt sich dann »freiwillige Überstundenarbeit«. Pro Woche bedeutet dies im Durchschnitt einen Arbeitstag mehr, zusätzlich zur normalen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden. Zudem kann der Arbeitgeber nun in einem Dreijahresrahmen die Arbeitszeit flexibel einteilen und muss die über den Rahmen hinaus geleisteten Überstunden erst am Ende des dritten Jahres bezahlen.

Während der Diskussion um das Gesetz versuchte die Regierung, Gewerkschaften und Oppositionsparteien zum Schweigen zu bringen. In der Ausschusssitzung erteilte sie den Gewerkschaftsvertretern nicht das Wort, schnitt es den Abgeordneten der Opposition in der in die Nacht verlegten Parlamentsdebatte ab und führte die Abstimmung über das Gesetz regelwidrig durch. Nach der Abstimmung kam es zu mehreren Demonstrationen. Auch über die staatlichen Medien versuchte Fidesz, die Kritiker mundtot zu machen und zu diskreditieren. Über die Demonstrationen gegen das »Sklavengesetz« wurde am Anfang gar nicht berichtet, daraufhin folgte eine Negativkampagne. Die Demonstrierenden seien Gewalttäter und Störenfriede und bildeten nur eine aggressive Minderheit. In einem nächsten Schritt wurde gegen friedlich demonstrierende Jugendliche Tränengas eingesetzt und unzählige wurden ohne Begründung von der Polizei festgenommen.

Immer mehr Bürger schlossen sich den Demonstrationen an. Bei einer der größten mit etwa 10.000 Teilnehmenden standen verschiedene Abgeordnete der Opposition gemeinsam auf der Bühne. Dieses Erlebnis entfaltete eine enorme Kraft, denn bis dahin hatte es noch kein solches gemeinsames und einheitliches Auftreten sämtlicher oppositioneller Kräfte gegeben. Zum Ende der Demonstration zogen einige der Teilnehmenden zum Sitz des Staatsfernsehens MTV weiter, um in der Nachrichtensendung ihren Fünfpunkteplan zu verlesen. Unter anderem wurde darin gefordert, die Propaganda zu beenden, das »Sklavengesetz« zurückzuziehen und die unabhängige Justiz wiederherzustellen. Leitung und Mitarbeiter des Fernsehens verweigerten ein Treffen mit den oppositionellen Abgeordneten und ließen bewaffnete Sicherheitskräfte des Gebäudeschutzes kommen, die mich und Ákos Hadházy, ebenfalls Mitglied der Nationalversammlung, mit Gewalt aus dem Gebäude warfen.

Ergebnis der Protestaktionen

Der Widerstand, der sich auch im Januar 2019 fortsetzte, hatte zumindest in dreierlei Hinsicht Erfolg: Zum einen war die oppositionelle Zusammenarbeit und Einheit eine völlig neue Entwicklung. Ebenso, dass hierbei die Parlamentarierinnen an der Spitze standen. Die weiblichen Abgeordneten der Opposition gehen beispielgebend in ihrer Zusammenarbeit voran, wobei allein ihre bloße Existenz und ausdauernde Arbeit den Kontrast zu den traditionell männlichen Fidesz-Vertretern deutlich macht. Bis dahin gab es kein Beispiel dafür, dass die gesamte Opposition geschlossen auftritt. Darüber hinaus gelang es, eine Einheit mit Gewerkschaften, Studenten und Zivilorganisationen zu bilden.

Bisher waren die Parteien von links bis rechts zu einer Zusammenarbeit bei Wahlen nicht bereit, obwohl die Wähler bereits bei der letzten Wahl eine stärkere Kooperation erwartet hatten und in dieser Hinsicht ihren Parteien voraus waren. Die psychologischen Hindernisse, die einer Annäherung der Parteien bisher im Wege standen, konnten während der gemeinsamen Proteste auf sichtbare Weise überwunden werden. Es entwickelte sich eine Solidarität und man lernte sich besser kennen. Durch die ständigen Gespräche, die gemeinsam organisierten Demonstrationen und die gemeinsame Arbeit konnte das bisher fehlende Vertrauen geschaffen werden und ein organischer Aufbau beginnen.

Zudem ist die Apathie, die nach den letzten Wahlen herrschte, verschwunden und die Straße ist in Bewegung gekommen. Die Menschen sehen wieder einen Sinn darin, auf die Straße zu gehen und gemeinsam gegen die Willkür der Regierung zu protestieren. Die Opposition hat ihre Handlungsfähigkeit im Kampf gegen die Regierung zurückgewonnen und die Wähler erkennen an, dass die Oppositionsparteien ihre Komfortzone verlassen haben und Risiken eingegangen sind. Ferner kündigte die Opposition den stillschweigenden Konsens darüber auf, wie sie in einer normalen Demokratie politisch zu agieren hat. Es gab Aktionen, die über die von Fidesz gesetzten Spielregeln hinausgingen, und nicht den Rollen entsprachen, die uns die Regierung zugedacht hatte. Wir erkannten, dass nach anderen, innovativeren und zugleich konfrontativeren Formen des politischen Auftretens gegen das stufenweise ausgebaute Unterdrückungssystem gesucht werden muss.

Durch dieses Unterdrückungssystem wird der Spielraum der Oppositionsparteien immer mehr eingeschränkt, und immer weniger kann von einer Mehrparteiendemokratie gesprochen werden. Es gibt keine fairen und sauberen Wahlen. Die der Regierung als Sprachrohr dienenden öffentlichen und nichtöffentlichen Propagandamedien werden vom Fidesz gezielt eingesetzt, um politische Gegner kalt zu stellen. Auf dem Papier unabhängige Einrichtungen sind inzwischen Handlanger der Regierung. Darüber hinaus dient das Wahlsystem der Festigung der Fidesz-Herrschaft. Mehr als die Hälfte der Mandate wird in einem einzigen Wahlgang in Einmandatswahlkreisen anhand der relativen Mehrheit vergeben. In einem solchen Wahlsystem müssen die zahlreichen Oppositionsparteien zusammenarbeiten, um gegenüber dem Fidesz mit seiner totalen Überlegenheit hinsichtlich der Ressourcen erfolgreich auftreten zu können. Langfristig gesehen ist eine Zusammenarbeit nur von Bestand, wenn die Parteien fähig sind, persönliche Interessen hintanzustellen und sich auf Grundprinzipien zu einigen, die eine Alternative zur orbánschen Machtausübung darstellen.

Parlamentarische Arbeit in einer neuen Rolle

Schwierig war die Frage, inwieweit wir uns an der Arbeit des als demokratische Dekoration betrachteten Parlaments beteiligen sollten. Jede Partei spürt, dass sie nicht so weitermachen kann wie bisher. Wenn wir den bisherigen Rahmen für politisches Handeln weiter akzeptieren, erfüllen wir genau die Rolle, welche uns der Fidesz zugedacht hat. Andererseits sind mit dem Parlamentsmandat wichtige Abgeordnetenrechte verbunden, die auch weiterhin im Interesse der Wähler genutzt werden müssen.

Mit dem Abgeordnetenausweis haben wir Zutritt zu allen öffentlichen Einrichtungen des Landes, die verpflichtet sind, uns Informationen zu geben. Darüber hinaus haben wir das Recht, an die Minister und den Generalstaatsanwalt Fragen zu richten, auf die sie innerhalb von 15 Tagen antworten müssen. In Parlamentsdebatten haben wir die Möglichkeit, unsere Meinung zu sagen und zu protestieren, so wie wir es in der Aussprache über das »Sklavengesetz« auch getan haben. Die Präsenz im Parlament bietet uns ferner die Möglichkeit zu zeigen, welche Arbeit der Fidesz dort leistet. Bei der Debatte über das neue Arbeitszeitgesetz im Dezember machte auf der bis in die Nacht dauernden Sitzung nur eine Handvoll der 132 Fidesz-KDNP-Abgeordneten »Überstunden«, obwohl es um ein Gesetz ging, das die Überstunden der arbeitenden Bevölkerung enorm erhöhte. Der Anblick der leeren Sitzreihen war einmal mehr ein Beweis für die Unglaubwürdigkeit der Regierung.

Meiner Meinung nach müssen wir neue, innovative Mittel finden, mit denen wir das Orbán-Regime dauerhaft unter Druck setzen können. Die Möglichkeiten, die uns das Parlament und die Abgeordnetenrechte theoretisch bieten, stellen nur einen Teil unserer Arbeit dar. Wir müssen unseren Schwerpunkt darauf legen, als Opposition zusammenzuarbeiten und aktiv und tatkräftig zu politisieren. Dabei ist gerade die Zusammenarbeit der weiblichen Abgeordneten von zentraler Bedeutung, da sie ein starkes Gegengewicht zur männerdominierten Politik des Fidesz bildet.

Die Zusammenarbeit der Opposition im Fadenkreuz der Regierung

Bisher hat der Fidesz alles unternommen, um die sich formierende Zusammenarbeit der Opposition zu torpedieren. Mit aller Kraft greifen die Propagandamedien (also die öffentlichen Medien und das Fidesz-Medienimperium) die Oppositionsparteien, deren führende Vertreter und uns Parteilose an, Diskreditierungskampagnen sind an der Tagesordnung.

Der Fidesz benutzt zudem Institutionen, die auf dem Papier zwar unabhängig sind, doch schon seit geraumer Zeit als verlängerter Arm der Partei fungieren, für seine Zwecke – so den ungarischen Rechnungshof und die Staatsanwaltschaft. Der Rechnungshof verhängte erneut eine Strafe in Millionenhöhe gegen die größte Oppositionspartei, drängte sie an den Rand der Auflösung und empfahl die Aussetzung der staatlichen Parteienfinanzierung, eine Maßnahme, gegen die keine Rechtsmittel ergriffen werden können. Gleichzeitig untersucht er die zur Wahl angetretenen Scheinparteien nicht, die nur zu dem Zweck gegründet worden waren, um die staatliche Wahlfinanzierung zu sichern und die Opposition zu spalten.

Gleiches gilt für die Staatsanwaltschaft. Erst vor Kurzem konnte ich nachweisen, dass die Staatsanwaltschaft diese Scheinparteien nicht zur Verantwortung zieht. Selbst wenn Verfahren eingeleitet wurden, verlaufen sie sehr schleppend und deren Führungspersonen haben keinerlei Repressalien zu befürchten. Im Gegensatz dazu trifft die Staatsanwaltschaft Entscheidungen gegen die Abgeordneten der Opposition unglaublich schnell. Erst vor Kurzem wurde eine Anzeige von uns gegen die bewaffneten Sicherheitskräfte des öffentlichen Fernsehens, die uns mit Gewalt aus dem Gebäude brachten, abgewiesen, mehr noch: Bei diesem Schauverfahren kam man zu dem Schluss, dass wir gewalttätig waren und die Sicherheitskräfte angegriffen hätten.

Der Fidesz verhängt im Parlament mit Vorliebe Strafen und beschränkt die Rechte der Opposition. So strich uns der Fidesz-Parlamentspräsident László Kövér wegen unserer Protestaktion gegen das »Sklavengesetz« im Dezember ein monatliches Abgeordnetengehalt. In seiner Februar-Rede zur Lage der Nation sprach er dann überraschend lange über die Opposition, darüber wie lächerlich wir uns im Gebäude des Fernsehens gemacht hatten. Dabei verbarrikadierte er sich, weil er fürchtete, wir würden ihn bei seiner Rede stören. Das zeigt, dass der Fidesz in Wirklichkeit Angst vor der Opposition und vor deren Zusammenarbeit hat. Und in der Tat ist die Einheit der Opposition und eine immer aktivere Gesellschaft die größte Gefahr für diese Partei.

Raum für linke Gedanken

Unter der Regierung Viktor Orbáns hat sich die Zweiteilung der Gesellschaft entgegen der Darstellung in den Propagandamedien verstärkt. Was die Löhne anbelangt, stehen wir in unserer eigenen Region an letzter Stelle. Die Armut der arbeitenden Menschen hat ein bisher nicht gekanntes Ausmaß erreicht, und die zunehmende Auswanderung führt zu einer nationalen Tragödie. Die Funktionsuntüchtigkeit des Gesundheitswesens ist eine tagtägliche Erfahrung und laut Umfragen für jeden offensichtlich. Derweil will Orbán durch den Abbau des Bildungssystems die Kanäle der gesellschaftlichen Mobilität auch längerfristig verschließen und neben dem Bemühen, Gutsituierte zu den privaten medizinischen Einrichtungen zu lenken, lässt er breite Schichten der Gesellschaft ohne angemessene Versorgungsleistungen im staatlichen Gesundheitswesen.

Der lange Marsch des Fidesz, die Verschiebung der einst liberalen Partei nach rechts, ist beendet. Heute nutzt die ungarische Regierungspartei die Methoden und Ideologie moderner rechtskonservativer Politik. Orbáns politische Heimat ist die äußere Rechte, seine internationalen Partner sind populistische euroskeptische Parteien, sein rassistisches, fremdenfeindliches und gefühlloses Programm hat nichts mit einer konservativen, christdemokratischen Gemeinschaft zu tun.

Dennoch will er mithilfe der Regierungsinfrastruktur und parteipolitischer Machenschaften, d. h. unter Einsatz öffentlicher Mittel und öffentlicher Gewalt, bis zum heutigen Tag auch die politische Mitte beherrschen. Viktor Orbán verwirklicht seine extreme Politik unter Berufung auf eine Art heuchlerische Rechtsorientierung und die als Waffe benutzte Christlichkeit.

Ich bin überzeugt, dass politisches Handeln, welches von glaubwürdigen, linken Werten geprägt ist, für den derzeitigen Kurs eine Herausforderung sein kann und das Gegenstück zur Fidesz-Regierungspolitik darstellt: solidarische Politik anstatt Gefühllosigkeit, eine gerechte Lastenverteilung anstatt einer Wirtschaftspolitik, die die Gewinner bevorzugt, gesellschaftliche Mobilität anstatt einer Bildungs- und Sozialpolitik, die zu einem Kastensystem erstarrt. Anstatt kostenpflichtiger Privatkrankenhäuser kann ein Gesundheitswesen, das alle Bürger angemessen versorgt, die Lösung vieler Probleme sein, genauso wie ein wirkliches, mit all seinen Rechten wiederhergestelltes Kommunalwesen anstelle einer zentralisierten öffentlichen Verwaltung. In vielerlei Hinsicht verschlechtert sich die Lage immer mehr: Inakzeptable Lohnunterschiede zerreißen das Land, die meinungsbestimmende »Elite« und deren wirtschaftliches Hinterland sind weit entfernt von den weniger begünstigten Massen. Viele haben das Gefühl, dass sie immer weniger Einfluss auf ihr eigenes Leben, ihr Umfeld, ihren Wohnort und die Nation insgesamt haben. Viele wurden ohne Unterstützung und akzeptable Perspektiven im Stich gelassen.

All das ist das Ergebnis der radikalen Rechtswende von Viktor Orbán und des Scheiterns seiner »Viel-für-Wenige«-Politik, die ausschließlich mit einer Wende hin zu einer »Genug-für-Viele«-Politik, mit einem glaubwürdigen Eintreten für linke Werte wiedergutgemacht werden kann. Dabei darf nicht vergessen werden, dass eine Zusammenarbeit der Opposition in der jetzigen Situation unerlässlich ist und dass neben einer engagierten, glaubwürdigen und liebenswerten linken Alternative auch zahlreiche konservativ eingestellte Menschen im Land leben, die ebenfalls eine glaubwürdige und von Extremen freie Vertretung benötigen. Unabhängig davon, wer die Ehre und große Aufgabe haben wird, das Land nach dem Fidesz zu führen, wird es eine grundsätzliche Notwendigkeit sein, die entstandenen tiefen Gräben zuzuschütten und sowohl in existenziellem als auch politischem Sinne ein stabiles Regieren zu gewährleisten.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben