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22. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) am 4. September 1967 © picture-alliance / dpa | Roland Witschel

Die Geschichte des SDS und der 68er-Revolte in einer Neuauflage Neues von den Veteranen

Fichter und Lönnendonker waren als SDS-Mitglieder aktiv Beteiligte an den geschilderten Vorgängen, was mit Blick auf ihre Expertise aus heutiger Sicht offenkundig problematisch und nützlich zugleich ist.

Der im Lauf der Jahrzehnte voluminöser gewordene Band, ergänzt unter anderem um einen illustrativen Foto-Teil von Klaus Mehner, zeichnet sich dadurch aus, dass er eine breite gesellschaftsgeschichtliche Perspektive (wenn auch nicht immer systematisch) einnimmt und auch wenig beachtete Randbereiche in den Blick rückt, so die charakteristische Prägung des SDS im letzten Jahrzehnt seiner Existenz durch die Tradition der bündisch und jungenschaftlich geprägten deutschen Jugendbewegung, die vor und um 1960 einen letzten Aufschwung erlebte.

In ihrem Vorwort positionieren sich die Autoren, in einem zweiten Vorwort sekundiert von Klaus Meschkat, gegen Verzeichnungen und »Verfälschungen«, bei denen der SDS und die 68er-Bewegung vielfach auf die Vorgeschichte des RAF-Terrorismus der 70er Jahre reduziert werden. Ohne etwas zu verharmlosen – frühe bedenkliche Entgleisungen werden nicht ausgespart –, liegt klar auf der Hand, dass die bewaffnete »Stadtguerilla« eine der in »1968« angelegten Möglichkeiten war, aber weder eine zwingende Konsequenz noch überhaupt eine naheliegende, am wenigsten für die länger im SDS sozialisierten Männer und Frauen.

Die Autoren stellen auch einen Gegenwartsbezug her und ordnen den Konflikt des SDS mit der Mutterpartei SPD dem viel älteren (und übrigens nicht auf Deutschland beschränkten) Spannungsverhältnis der Partei zu ihrer Jugend zu. Sie vermissen gerade heute, da das Studium durch den Bologna-Prozess in auch quantitativ ganz anderen Dimensionen verschult ist als in den 60er Jahren, einen radikal kritischen Faktor wie den SDS. Und sie beklagen die »Selbstverzwergung« der heutigen SPD, die sie sowohl in der gesellschaftspolitischen Anpassung an den Neoliberalismus, kombiniert mit bewusstlosem Moralismus, als auch im Nachwirken weit verbreiteter Orientierungslosigkeit der relativ Jüngeren angesichts des Umbruchs von 1989/90 erkennen.

Anfang/Mitte der 50er begann eine Politisierung des SDS, der nie mehr als 3.000 Mitglieder hatte, kombiniert mit der Wiederhinwendung zur theoretischen Überlieferung des marxistischen Reformsozialismus, die über die 50er Jahre hinweg gewissermaßen quer zu und entgegen der schrittweisen programmatischen und praktisch-politischen Umorientierung der SPD hin zu Godesberg und NATO-Akzeptanz 1959/60 verlief. In den Auseinandersetzungen um den EVG-, dann den NATO-Beitritt, den daraus folgenden Wehrbeitrag der BRD, später die vorgesehene atomare Bewaffnung der Bundeswehr und die Stationierung amerikanischer Atomwaffen vertrat der SDS zunächst prononciert die Position der gesamten Sozialdemokratie, geriet aber gerade deshalb in Widerspruch zur veränderten Parteilinie.

Fichter/Lönnendonker weisen nachdrücklich darauf hin, dass das Ziel der Einigung Deutschlands (für das man eine demokratisch-sozialistische Ordnung erstrebte) damals noch wesentlich unumstritten und sogar eines der Motive für den Widerstand gegen die außen- bzw. sicherheitspolitische Umorientierung der SPD war. In dieser entscheidenden Phase, als der SPD-Parteivorstand die Abspaltung des Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB) betrieb und schließlich einen Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber dem SDS fasste, gewann eine neue Führungsgruppe der in den 30er Jahren Geborenen geistige Unabhängigkeit von der SPD und konnte den Verband trotz Verlusts der absichernden Finanzierung durch die Partei stabilisieren, unterstützt von einigen sympathisierenden Professoren um Wolfgang Abendroth.

Dabei kämpfte die »linkssozialistische Mittelfraktion« nicht nur gegen den parteikonformen rechten Flügel, sondern auch gegen eine vor allem um die Zeitschrift konkret gruppierte DDR-freundliche Gruppierung. Zu den historischen Verdiensten des SDS in diesen Jahren wird man die Aufklärungsaktion samt Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« von Reinhard Strecker rechnen dürfen – zu einem Zeitpunkt, da die justizielle Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen gerade erst wieder begonnen hatte.

Einfluss trotz Exkommunikation

Bereits während der anfangs von der SPD maßgeblich mitgetragenen Kampagne »gegen den Atomtod« 1957–1959 gelang es dem SDS, maßgebliche Teile der Studentenschaft zu interessieren und zu mobilisieren. Dass er sich nach der Exkommunikation seitens der SPD-Spitze halten und deutlich vor der Revolte von 1967/68 wieder Einfluss gewinnen, mehrere andere Studentenvereinigungen, darunter den gegen ihn gegründeten SHB, ins Schlepptau nehmen konnte, sodass ab Mitte der 60er Jahre bei Gremienwahlen linke Mehrheiten zustande kamen, lag maßgeblich daran, dass er seine Rolle als Interessenvertretung der Studentenschaft weiterhin ernst nahm, sowohl konzeptionell (etwa durch wegweisende hochschulpolitische Richtlinien und Denkschriften ab 1954 beziehungsweise 1961) als auch in der alltäglichen Praxis. Charakteristisch für die Hochschulpolitik des SDS war die dreifache Stoßrichtung gegen die Ordinarienallmacht, gegen die verschleiernde Formel von der Wertfreiheit der Wissenschaft und dem unpolitischen Wesen der Universität sowie gegen rein technokratische, den Bedürfnissen von Kapital und Staat untergeordnete Reformen.

Die Phase des SDS zwischen dem unprovozierten Ausschluss aus der SPD und dem Beginn der breiteren Protestbewegung hat man auch als »Seminarmarxismus« bezeichnet. Ungeachtet des leicht polemischen Untertons ist wichtig hervorzuheben, dass die Personen, die den SDS in seiner Hochzeit 1967/68 führten und nach außen verkörperten, wobei für die antiautoritäre Mehrheit zu Recht Rudi Dutschke (Berlin) und Hans-Jürgen Krahl (Frankfurt) an erster Stelle genannt werden, bereits in den Jahren zuvor ihre spezifische intellektuelle und politische Prägung erhalten hatten, als Elite gehärtet in einem universitären und außeruniversitären Umfeld, in dem marxistische Positionen erst langsam wieder Teil des intellektuellen Diskurses wurden. Damit verbunden war die Wiederentdeckung kritisch-marxistischer Schriften derer zwischen Sozialdemokratie und Stalinismus oder jenseits davon aus der Zwischenkriegszeit. Weniger bekannt ist die wichtige Rolle, die der SDS auch gesamtpolitisch schon in der Vorsitzenden-Amtszeit von Helmut Schauer (1964–1966) in enger Zusammenarbeit mit der Gewerkschaftslinken, insbesondere der IG Metall, beim Protest gegen die Entwürfe für die Notstandsgesetze spielte.

Die Kapitel des Buches über die Jahre 1966 bis 1969 sind stark auf Berlin konzentriert, was allerdings eine gewisse Berechtigung hat: Zum einen lassen sich dort, wo es mit der FU die damals größte deutsche Hochschule gab, wie in einem Brennglas die Merkmale des Geschehenen erkennen, zweitens beförderten gerade die Westberliner Sonderbedingungen (»Berliner Modell« der FU, Fehlen der Wehrpflicht wegen des Sonderstatus der Halbstadt, hochpolitisierte Frontstadtatmosphäre, enger Kontakt nach Ostberlin und ab Sommer 1961 zu den »Abhauern«) eine auch zeitgleiche Avantgarde-Rolle des dortigen SDS: Bereits im Sommersemester 1966 fanden an der FU die ersten großen Protestaktionen auf breiter Basis bis hin zu den schlagenden Verbindungen gegen die Zwangsexmatrikulation von Langzeitstudenten statt sowie die erste, für damalige Verhältnisse größere, etwa 2.500 Personen versammelnde Demonstration gegen den Vietnamkrieg.

In den folgenden Jahren dominierte die Orientierung an der antiimperialistischen Revolution in der »Dritten Welt«, also der südlichen Hemisphäre, von der man sich auch eine Detonationswirkung auf die kapitalistischen Metropolen erhoffte. Für die hochindustrialisierten Länder setzte man einige Zeit, den Lehren Herbert Marcuses, des Romantikers aus der Frankfurter Schule, gemäß neben der kritischen Intelligenz eher auf die Herausgefallenen der Gesellschaft als auf die Industriearbeiterschaft. Dabei wurden in Vorgänge der Länder des Südens, namentlich Chinas mit seiner »Kulturrevolution«, Vorstellungen hineinprojiziert, die mit den dortigen realen Vorgängen wenig zu tun hatten.

Am bedenklichsten war das, wie Fichter/Lönnendonker herausarbeiten, bei der zunehmend einseitigen Parteinahme im Nahostkonflikt für den bewaffneten Kampf der Palästinenser gegen Israel. (Dabei gehörten nicht wenige SDSler zu den Gründern der Deutsch-Israelischen Studiengruppen, DISK.) Wie dieser Vorgang im Anschluss an den Sechstagekrieg von 1967 zu beurteilen ist – objektiv wie in seiner psychologischen Entlastungsfunktion angesichts des nationalsozialistischen Erbes – scheint mir allerdings im Anschluss an die Ausführungen der Autoren zum »linken Antisemitismus« weiterer Diskussionen wert.

Höhepunkt und Auflösung

Der Scheitelpunkt der sich nach der Erschießung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 flächenbrandartig ausweitenden Revolte ist, zumindest in Umrissen, besser bekannt als die Zeit davor, besser auch als die detailliert und anschaulich geschilderten inneren Auseinandersetzungen im Berliner SDS, so um die damals von außen stark überschätzte Kommune I mit ihrer Happening-Politik, deren Angehörige im Mai 1967 aus dem SDS ausgeschlossen wurden, ebenso die öffentliche Kontroverse zwischen Rudi Dutschke und Jürgen Habermas, der im Hinblick auf den vermeintlich gewaltbereiten »Voluntarismus« Dutschkes vor einem »linken Faschismus« warnte.

Die Schilderung der sukzessiven Auflösung des SDS ab Mitte 1968, an dessen Stelle, abgesehen von der im Herbst 1968 legalisierten DKP, seit Ende 1968 dogmatische Miniparteien und parteiähnliche Kaderorganisationen traten (welche sich zunehmend erbittert bekämpften), macht deutlich, wie leichtfertig die führenden SDSler ihre Organisation preisgaben.

Mehrere stärker systematische Kapitel haben die Entstehung der organisierten Frauenbewegung aus SDS-internem Protest und die kulturelle Abgrenzung der SDS-Studenten von der Mehrheitskultur (wobei Rockmusik, die Hippie-Bewegung und andere Erzeugnisse rebellisch-unpolitischen Protests kaum eine Rolle spielten) zum Inhalt, wobei der Verband auf künstlerischem und literarischem Terrain weitgehend enthaltsam war.

Besonders aufschlussreich sind die Ausführungen zum Verhältnis des SDS der 60er Jahre zur ostdeutschen Seite und zu den Emanzipationsbewegungen im Ostblock. Diesbezüglich hat Tilman Fichter wiederholt, so auch im vorliegenden Buch, auf die Protestdemonstrationen der außerparlamentarischen Linken unmittelbar nach der militärischen Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten in der Tschechoslowakei am 21. August 1968 hingewiesen. Es war in dieser Situation völlig eindeutig, auf wessen Seite die allermeisten SDSler und anderen unabhängigen Sozialisten standen. Andererseits gab es schon frühzeitig Kontakte und Verhandlungen mit der FDJ, die aber wohl mit der hinter ihr stehenden SED in höherem Maß unsicher war, wie man mit einem solchen Gesprächspartner umgehen sollte, als umgekehrt.

Auf der Grundlage der einsehbaren Akten des MfS werden die Versuche der DDR, zu spionieren oder Einfluss zu nehmen, präzise und differenziert dargelegt. Als »Kundschafter« konnten aus relevanten Gremien um 1960 gerade zwei Personen von der Staatssicherheit angeworben werden (von denen einer zudem Doppelagent war). In der antiautoritären Phase des SDS ist das, soweit bekannt, nicht mehr gelungen. Die erklärten Sympathisanten des Ostblock-Systems andererseits seien nur in einigen wenigen Hochschulgruppen dominierend gewesen, hauptsächlich in Köln.

Das Buch von Fichter/Lönnendonker widerspricht richtigerweise den extremen Simplifizierungen und Verzeichnungen, mit denen die brisantesten der Geschehnisse und Personen in popularisierenden Darstellungen in der Regel behandelt werden. Die Autoren drücken sich nicht vor (Selbst-)Kritik, stehen aber fest zu ihrer rebellischen Biografie und betonen die einschneidenden Wirkungen der – geistig lange vorbereiteten – Revolte von 1967/68. Dass dabei autoritäre Dispositionen in Gesellschaft und Politik, Familie und Beziehungen grundlegend infrage gestellt wurden, ist unbestreitbar.

Stärker reflektiert werden könnte die Frage, ob der »Triumph des Individuums« (Eric Hobsbawm), nicht ursächlich bewirkt, aber verstärkt durch die Impulse von »1968«, nicht in pervertierter Form später die Durchsetzung eines schrankenlosen Individualismus ohne ethische Steuerung und soziale Einbindung im neoliberalen, vom Finanzmarkt gesteuerten Kapitalismus erleichtert hat – entgegen den Intentionen namentlich der Avantgarde des SDS. Stärker als geschehen hätten die Autoren auch den globalen Charakter von »1968« benennen können, ohne die spezifisch deutschen Wesensmerkmale, namentlich die nachholende Auseinandersetzung mit dem »Dritten Reich«, sprich: mit der Elterngeneration, herabzustufen.

Manchmal überraschend, aber in aller Regel gut einsichtig, sind die zeitlichen Sprünge in der Darstellung. In ihrer apodiktischen Art apart, wenn auch gewöhnungsbedürftig sind die in den diskursiven Text eingestreuten Annahmen und Urteile. Meist nachvollziehbar und plausibel, aber kaum objektivierbar. So soll (!) etwa der seinerzeitige Chef des Bundesverfassungsschutzes Günther Nollau ehemals NSDAP-Mitglied gewesen sein und für Herbert Wehner, der davon gewusst haben soll, den SDS ausspioniert haben. Aber diese Einwände ändern nichts daran: Wer einen realistischen und plastischen Eindruck von dem in »1968« kulminierenden Aufbruch beträchtlicher Teile der jungen Altersgruppen gewinnen und wer den Geist des Kerns der Rebellen erfassen will, wird durch diese Geschichte des SDS in der neuesten, erweiterten Version gut informiert.

Tilman P. Fichter/Siegward Lönnendonker: Genossen! Wir haben Fehler gemacht. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund 1946–1970: Der Motor der 68er-Revolte. Schüren, Marburg 2021, 572 S., 34 €.

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