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Ostdeutsche Befindlichkeiten »Nicht glücklich, aber deutsch?«

Eine Welt, die in Jammerossis und Besserwessis eingeteilt werden kann, ist keine schöne Welt, aber eine überschaubare. Eine, die in Schubladen unterteilt ist. Seit der Bundestagswahl im Herbst 2017, bei der eine völkisch-nationale Partei in den neuen Ländern die Stimmen von 21,5 % der Wahlgänger erhielt und in Sachsen gar auf 27 % kam, wächst die Bereitschaft, solche Schubladen wieder zu benutzen.

Für Jana Hensel und Jürgen Engler, die Autoren des im Aufbau Verlag erschienenen Gesprächsbuchs Wer wir sind, ist die Bundestagswahl vor allem ein weiterer Beleg für den Stimmungswechsel, der sich seit Jahren abgezeichnet habe. Sie interpretieren den Erfolg der AfD als Zeichen für einen Paradigmenwechsel. So wie 1968 das Ende der Nachkriegszeit markiert habe, so markiere 2017 das Ende der Nachwendezeit. Der Osten habe sich inzwischen emanzipiert, wenn auch anti-emanzipatorisch.

Den Osten kennen beide Autoren aus dem Effeff und mit einigem Recht nennen sie ihr Buch im Untertitel »Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein«: Hensel, 1976 in Borna geboren und in Leipzig aufgewachsen, gilt seit ihrem 2002 erschienenen Erinnerungsband Zonenkinder als Koryphäe der Generation, in deren Erwachsenwerden der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik fällt; Engler, Jahrgang 1952, bis 2017 Rektor der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«, gilt spätestens seit Die Ostdeutschen (1999) als einer der wichtigen Ethnografen der (Post-)DDR.

Unverkennbar ist der Grundkonsens ihres Buches, das neben etwas DDR-Geschichte viel Nachwendezeit aufrollt. Hensel und Engler sehen beide das Kernproblem der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung in sozialer Ungleichheit. Strittiges bleibt dennoch genug: Während Engler die Öffnung der Grenzen und das berühmte »Wir schaffen das« als »konzentrierten Ausdruck der Arroganz der Macht« deutet, ist dieser Slogan für Hensel der Soundbite einer identitätsbildenden Willkommenskultur. Auch Englers These, es gebe einen »Gleichklang« der Medien, lässt Hensel trotz eigener Erfahrungen als Ostdeutsche im Medienbetrieb nicht gelten. Besonders tief ist die Uneinigkeit in der Frage der Identitätspolitik. Hier treffen nicht nur ein älterer Mann und eine jüngere Frau aufeinander. In Englers Augen verfangen sich die Minderheiten in ihrem Kampf um Repräsentation in Nebenwidersprüchen, ohne an der gemeinsamen Wurzel, dem Verhältnis von Herrschern und Beherrschten, anzusetzen.

Wer wir sind fasst mehrere (vor- und nachbereitete) Gespräche in zehn Kapi-

tel zusammen, thematisch geordnet, aber offen für Sprünge und Exkurse. Zu kurz kommt die Betrachtung der Neuen Rechten als gesamteuropäisches Phänomen; Leerstellen wie diese sind aber die Ausnahme. Engler und Hensel interpretieren die neurechte Welle nicht als Folge der obrigkeitsstaatlichen Erfahrungen der DDR-Bürger/innen, sondern als Ergebnis der Nachwendezeit. Die Lawine, die den Osten nach 1990 unter sich begraben habe, sei von unvorstellbarer Wucht gewesen: Sie habe den wirtschaftlichen Zusammenbruch mit einem politisch-kulturellen Systemwechsel und einem umfassenden Elitenaustausch verbunden. Für diesen Kollaps war nicht mehr Erich Honecker verantwortlich, sondern Helmut Kohl. Die Landschaften blühten nicht, sie bluteten aus.

Den von diesen Entwicklungen gebeutelten Nachwendeossi, getrieben nunmehr von der Agenda 2010, legen die beiden Autoren in ihrem Buch auf die Couch: »Wie kompensieren Menschen dieses Elend, diese Leere um sich herum und in ihrer Seele?«, fragt Engler. Er gibt die Antwort: »Durch vaterländische Gesinnung? Nicht glücklich, aber deutsch? Das ist zumindest eine Möglichkeit.« Es ist eine Antwort, die ihn selbst nicht glücklich macht.

Wolfgang Engler/Jana Hensel: Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein. Aufbau, Berlin 2018, 288 S., 20 €.

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