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Demarkationslinien einer progressiven Politik Nicht immer dieselbe alte »Erneuerung«

Niederlagen, Untergang, Katastrophen – Begriffe wie diese dominierten die Berichterstattung zur politischen Entwicklung 2016 und 2017. Leider spiegeln sie auch die Stimmung innerhalb der progressiven Bewegung wider, die noch vor nicht allzu langer Zeit die politische Avantgarde stellte und sowohl den Anspruch als auch die Fähigkeit hatte, die Moderne konstruktiv zu gestalten.

Zudem stellt sich die beängstigende Frage: Kann das alles noch schlimmer werden? Der alte Witz, der mit dieser Frage beginnt, endet mit einer zynischen Antwort: Wenn es noch schlimmer kommen könnte, dann wäre es wohl schon so. Zusätzlich zu den historischen Verlusten bei den vergangenen Wahlen steht jedoch noch viel mehr auf dem Spiel: Es besteht das Risiko, von der momentanen Position einer Parteienfamilie in Schwierigkeiten noch weiter abzurutschen und sich dann in die Liste der gänzlich verschwundenen Parteien einzureihen. Dieses Endzeitszenario ist zu einem verbreiteten Mahnruf unter vielen Progressiven geworden, denn der Hinweis auf die existenzielle Krise der Sozialdemokratie soll die Dringlichkeit eines weiteren Erneuerungsprozesses deutlich machen.

Das Problem dabei ist nur: Die ewige Erneuerung der Sozialdemokratie ist eine ihr innewohnende Tradition, die so alt ist wie die Sozialdemokratie selbst. Während es durchaus erfolgreiche Neuerfindungen in ihrer Geschichte gegeben hat, muss man auch feststellen, dass davon keine in den letzten zwei Jahrzehnten, seit dem Streit über den »Dritten Weg«, den das »Schröder-Blair-Papier« vom Sommer 1999 ausgelöst hatte, stattgefunden hat. Heutzutage läuft die fast schon standardisierte »Erneuerungsdebatte« ungefähr so ab: Es beginnt mit den Stimmen, die feststellen, dass »wir nicht links genug waren«, vor allem dann, wenn die Partei gerade aus der Regierung geflogen ist. Darauf folgt in der Regel das Gelöbnis, die eigenen Prinzipien nie wieder derart zu verraten, gefolgt von der Bitte um Vergebung beim Wähler – während die neue Agenda vorgestellt wird. Falls das nicht klappt und die nächsten Wahlen wieder verloren gehen, liefern Chefideologen und Spindoktoren als Begründung, dass »das Programm und der Wahlkampf gut waren, der Wähler das aber einfach nicht verstanden hat«. Diese Behauptung wiederum rettet dann über den Zeitraum bis zur nächsten Wahl, in dem das politische Konjunkturpendel vielleicht wieder nach mitte-links geschwungen ist.

Auch wenn das jetzt etwas überspitzt formuliert ist, es dürfte jedem bekannt vorkommen, der schon einmal unmittelbare Erfahrungen in einer sozialdemokratischen Bewegung gemacht hat. Daher ist es höchste Zeit zu erkennen, dass diese altbekannte Art der »Erneuerung« nicht funktioniert. Die Welt hat sich weitergedreht, die Politik hat sich entwickelt und die etablierten Parteien halten nicht länger das Monopol, den Blickwinkel auf die sozialen Konflikte zu bestimmen. Die Art und Weise, wie politische Partizipation stattfindet, hat sich in den letzten zehn Jahren deutlich verschoben. Und das Wichtigste: Die Sozialdemokraten selbst erwarten sehr viel von einer progressiven Neufindung. Die »einfachen Leute«, wie sie gerne von Progressiven genannt werden, seitdem der Begriff »Arbeiter« seine Klassenkonnotation verloren hat, »sitzen nicht einfach rum und warten« darauf, dass sich die Linke selbst neu erfindet. Sie erwarten jedoch, dass sich die turbulenten Wogen endlich glätten. Sie hoffen auf neue Perspektiven und wollen ihre Leben aktiv gestalten. Und sie haben Ängste, die ernst genommen werden sollten. Hier müssen Sozialdemokraten ansetzen, wenn sie ihren neuen Auftrag erkennen wollen, immer mit dem Bewusstsein, »dass jede Zeit ihre eigenen Antworten will«, wie Willy Brandt es einmal formuliert hat.

In diesem Sinne besteht der erste Schritt nicht darin, den Fokus auf Erneuerung zu legen, sondern darin den Mut zu haben, über die Zukunft nachzudenken. Das klingt vielleicht nur nach einer semantischen Spitzfindigkeit, aber wie ich bereits beschrieben habe: Worte sind wichtig. Denn wir denken in Wörtern und Bildern. Das bedeutet nicht, die Tradition zu missachten – im Gegenteil, die Sozialdemokratie hat jedes Recht, auf ihr politisches Erbe stolz zu sein. Es bedeutet auch nicht, die Vergangenheit einfach zu vergessen – im Guten wie im Schlechten. Man kann aus der eigenen Geschichte immer eine Menge lernen. Aber es ist wichtig, dass die Progressiven ihre Nostalgie und ihre alten Konflikte endlich in den Griff bekommen. Sie sollten aufhören, damit zu hadern, wie sie noch zur Jahrtausendwende den Großteil der Regierungen stellten und wie verheerend der Konflikt über den »Dritten Weg« und die »Neue Mitte« am Ende gewesen ist. Das alles ist Vergangenheit und interessiert, abgesehen von Parteiinternen, niemanden mehr. Es ist Zeit, ein neues Kapitel zu beginnen und klarzumachen, dass die progressive Bewegung viel anzubieten hat, wenn es darum geht, neue Entwicklungen zu gestalten. Hierfür müssen die Sozialdemokraten aber selbst die Komfortzone verlassen und damit aufhören, nur den Status quo zu bejammern. Sie müssen wieder daran glauben, dass es keinen Grund dafür gibt, warum eine Mehrzahl der Menschen in Zukunft ihre Hoffnung nicht wieder in die Sozialdemokratie setzen sollte.

Konsequenterweise besteht der zweite Schritt darin, eine Vision des Auftrags zu schaffen, den die Progressiven erfüllen wollen: global und lokal, sozial, für die Gemeinschaft und das Individuum, politisch und wirtschaftlich. Während Grundwerte diese Ideen lenken sollten, müssen die Sozialdemokraten aber auch aufpassen, nicht in die Falle der bereits erwähnten Forderung zu tappen, sondern die Progressiven müssten mehr nach links rücken. Was auch immer »links« früher bedeutet hat, heute hat es eine vollkommen andere Konnotation. Der Aufstieg anderer Parteien, die den Anspruch erheben, noch weiter links zu stehen, hat hier das politische Monopol gebrochen. Dieser Pluralismus kann aber auch konstruktiv sein. Progressive müssen sich vielmehr darauf besinnen, was moderne Politik mitte-links bedeutet, anstatt sich an rivalisierenden Organisationen abzuarbeiten. Wenn es hier einen Wettbewerb gibt, sollte er sich um die Frage nach sozialer Gerechtigkeit drehen und nicht um das Aushängeschild »links«.

Authentizität und Glaubwürdigkeit werden hier an zwei Dingen festgemacht. Zunächst geht es um die Frage nach der politischen Kompetenz, indem man realistische Lösungen anbietet. Diese können nur aus innerer Überzeugung erwachsen und nicht aus einem Wettbewerb darum, wer am Ende des Tages den extremeren Vorschlag auf den Tisch legt. Außerdem geht es um Überzeugungsfähigkeit, die es wiederum erst ermöglicht, andere zum Nachfolgen zu bewegen. Wenn wir uns die erfolgreichen Leitfiguren der letzten Zeit, sowohl in der progressiven Bewegung als auch in der politischen Mitte und rechts der Mitte, anschauen, haben sie eines gemeinsam: Sie sind authentisch in dem, für das sie stehen und sie sind dazu bereit, für ihre Prinzipien zu kämpfen. Auch wenn die Erfolgschancen eher gering erscheinen. Die Tatsache, dass diese Personen eine Entscheidung getroffen haben und mutig für eine bestimmte Idee einstehen sowie es ablehnen, vermeintlichen Grenzen nachzugeben, motiviert andere dazu, sie zu unterstützen.

Hier liegt der Ursprung für eine neue Kraft und dies unterscheidet die alte von der neuen Linken. Die alte Linke versuchte, Leute von Grenzen zu überzeugen, bot vernünftige und verantwortungsvolle Politik an, um Situationen zu »managen«. Die Linke der Zukunft sollte die Horizonte der politischen Vorstellung aufbrechen und klar machen, dass es immer eine mögliche Alternative gibt. Es muss um ein ehrliches Ziel gehen, welches dazu führt, dass die Menschen das Beste aus sich herausholen können. Um etwas, das zum Wohlergehen der Menschheit und der Zivilisation beitragen kann. Nur so können Progressive aus der Vorstellung ausbrechen, die antisystemische Politik würde am Ende gewinnen: durch den Beweis, dass sie eben selbst immer eine Anti-Establishment-Bewegung waren und es auch immer sein werden – zumindest so lange, wie das Establishment noch immer Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Demütigung produziert.

Die progressive Bewegung kann in der Zukunft viele mögliche Wege einschlagen. Die Frage, welcher der richtige wäre, hat zuletzt ins Schattenreich einer Debatte um Institutionen und Bündnisse geführt und den Fokus auf Regierungsmodalitäten und Koalitionsmöglichkeiten gelenkt. Das ist durchaus relevant. Als parlamentarische Partei sind die Sozialdemokraten per Definition dazu aufgefordert, nach politischer Macht durch den Gewinn von Wahlen zu streben. Trotzdem fehlt hierbei der Blick auf das große Ganze. Zu schnell verfallen Parteien nämlich in ein Verhaltensmuster, in dem sie nur noch darauf achten, was ihnen kurzfristig gute Umfragewerte bescheren könnte und wie man schnell auf aktuelle Entwicklungen reagieren kann. Dies mag dazu dienen, das tägliche Überleben zu sichern und das, was auch immer von der einstigen Stammwählerschaft noch übrig geblieben ist. Aber wenn wir uns die aktuellen Positionen der Sozialdemokratie anschauen, geht es inzwischen mehr darum, nicht weiter zu verlieren, als darum, wirklich etwas zu gewinnen, das zu einer besseren Zukunft aller führen würde.

Stattdessen sollten Progressive langfristig denken – eine Vision schaffen und mutige Entscheidungen treffen, die auf diese Vision hinarbeiten. Ein solcher Wagemut ist notwendig. Selbst wenn er bedeutet, dass die Sozialdemokraten erst einmal weitere Verluste hinnehmen müssen, um schließlich gestärkt und in ihren Positionen gefestigter zurückkehren zu können. Die drei politischen Demarkationslinien, an denen die Progressiven diesen Haltungswechsel vollführen sollten, sind die neue Globalisierungsdebatte, die Zukunft Europas und die Frage nach einer gerechteren, egalitären Gesellschaft.

Im Hinblick auf die Globalisierung ist es notwendig, dass Progressive die fortschreitende Vernetzung annehmen. Ein neues Modell von Global Governance ist nicht nur möglich, sondern absolut notwendig, um die aktuelle Entwicklung in neue Bahnen zu lenken und den künftigen Verlauf beeinflussen zu können. Die Geopolitik sollte hierbei gegenüber der momentan noch relativ ungeregelten Geoökonomie an erster Stelle stehen. Durch die Formulierung eines New Global Deal sollten die Progressiven Wege aufzeigen, wie jeder Kontinent oder Staat, wie jede Gesellschaft und jedes Individuum von den Errungenschaften der Moderne profitieren kann und gleichzeitig vor den Gefahren einer sich immer schneller verändernden Welt geschützt werden kann. Die Rhetorik über Gewinner und Verlierer der Globalisierung muss beendet werden. Diese führt nämlich nur zu einer Polarisierung und zu einer Debatte über offene und geschlossene Gesellschaften und ist politisch letztlich nur denjenigen dienlich, die mit einem illusorischen nationalen Protektionismus punkten wollen. Progressive sollten stattdessen eine Erzählung aufgreifen, die aufzeigt, wie die Moderne konstruktiv gestaltet werden kann, um den Sehnsüchten und Hoffnungen aller entsprechen zu können.

Hinsichtlich der Europäischen Union müssen Progressive den Appell für ein soziales Europa verstärken – und hier noch ambitionierter arbeiten als bisher. Die Idee eines Europäischen Sozialmodells, verankert in den jeweiligen Wohlfahrtsstaaten der Mitgliedsländer, ist prinzipiell richtig – sie wird aber nicht zu einer substanziellen Veränderung führen. Erstens werden die einzelnen Wohlfahrtsstaaten seit den 90er Jahren systematisch untergraben. Zweitens können sie in der Summe keine Antwort auf die außerordentlich großen Verteilungskonflikte geben, welche die EU momentan spalten. Diese haben Europa zerrissen – zwischen Nord und Süd, zwischen Gewinnern und Verlieren der Arbeitnehmerfreizügigkeit, zwischen der Eurozone und Nicht-Euro-Staaten, zwischen Nettozahlern und Nettoempfängern europäischer Fonds. Hier fehlt es noch an Ehrgeiz. Auch wenn die europäische Säule sozialer Rechte einen wichtigen Schritt nach vorne und einen Durchbruch nach denen auf die Krise von 2008 folgenden Jahre bedeutet, in denen die soziale Agenda nicht angerührt wurde, ist das nicht ausreichend. Zumindest nicht, solange keine bindenden Standards, ganz besonders im Hinblick auf Arbeitnehmersicherheit und soziale Sicherung in der gesamten Union, eingeführt werden.

Zuletzt noch zur egalitären Gesellschaft. Progressive müssen wieder die Position finden, in der es klar ist, dass sie für eine andere, eine egalitäre Gesellschaft kämpfen. In diesem Kontext sind die Wiedererlangung von Regierungsmacht, die Modernisierung des Staates und die Umsetzung adäquater Politik Mittel zum Zweck und keine Ziele an sich. Es wird schwierig werden, das zu vermitteln, gerade nach den Jahren des Opferns und der sogenannten »Krise« – die Wähler haben kein Vertrauen mehr in Aussagen, die sie einst noch als Perspektive inspiriert haben. Das beinhaltet auch Begriffe wie »soziale Mobilität«, die inzwischen für Viele zum Synonym für Stagnation oder sozialen Abstieg geworden sind. Hier muss eine neue Vision gefunden werden, welche die entstandenen Spaltungen überbrücken kann; die verlässliche Versprechen für soziale Weiterentwicklung, Chancengleichheit und Sicherheit für alle macht. Ohne eine solche Vision gibt es keine Hoffnung, dass die aktuelle Polarisierung und Fragmentierung geheilt werden kann, dass die Konflikte, welche die Ärmsten und die Verletzlichsten in unserer Gesellschaft am härtesten treffen – Junge, Frauen, Migranten – gelöst werden können.

Diese drei Punkte stellen aber lediglich einen Anfang dar und müssen natürlich weiterentwickelt werden. Wenn endlich mit der Untergangsrhetorik Schluss gemacht wird und die Sozialdemokraten der Falle entgehen, immer wieder dieselbe alte »Erneuerung« zu suchen, gäbe es keinen tatsächlichen Grund mehr, warum sie nicht wieder eine moderne Kraft sein könnten, die die Zukunft aktiv gestalten kann. Es gibt viele Herausforderungen, aber gerade deshalb sind dies vielleicht die aufregendsten Zeiten, in denen man leben und gestalten kann. In der aktuellen Situation ist fast alles möglich. Solange die Fähigkeit vorhanden ist nachhaltig zu denken, solange der Mut existiert daran zu glauben, dass sich die progressive Bewegung modern organisieren und leidenschaftlich kämpfen kann, kann das niemand naiv nennen. So idealistisch es auch klingen mag, aber progressive Politik muss sich wieder darum drehen, die Welt zu einem besseren Ort für alle zu machen.

(Aus dem Englischen von Julian Heidenreich.)

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