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Warum Heimat kein unpolitischer Begriff ist Nicht nur Identitätsmarker

»Heimat« verstehen wir heute als eine höchst subjektive und damit sehr unterschiedlich deutbare Sache: Der eine verbindet seine ländliche Herkunftsregion damit, die andere die Großstadt, in die sie erst vor ein paar Jahren gezogen ist, der dritte meint sein Zugehörigkeitsgefühl zur Online-Community, die vierte eine Fußmatte – was noch weiter unten erläutert wird. Heimat manifestiert sich zunehmend in partikularen sozialen und medialen Zusammenhängen oder gar in einzelnen Dingen. Um so akuter das Bedürfnis nach individuellen statt kollektiven, nach verdinglichten statt ideellen Identitätsmarkern, um so interessanter ist Heimat in den letzten Jahren auch für das Marketing geworden.

Kein Supermarkt, in dem nicht »Heimat-Bier« und »Heimat-Milch« zu finden sind, wobei die Anmutung des Regionalen inzwischen längst transzendiert worden ist, vor allem von Mobilitätsunternehmen wie der Lufthansa, deren Cate­ringangebot bis vor Kurzem noch »Tasting Heimat« hieß, oder einem Netzbetreiber, der im letzten Jahr mit dem Slogan warb: »Heimat ist für mich Surfen mit 1.000 Mbit/s.«

»Heimat als kontingentes Identitätsversprechen.«

Heimat als kontingentes Identitätsversprechen ist dann gänzlich zu sich selbst gekommen, wenn sie mit der Werbeagentur »Heimat« zur Markenbildung eines Unternehmens wird, das dafür da ist, für einfach alles den Markenkern zu liefern, unter anderem für den Baumarkt Hornbach, Pflegeprodukte von Schwarzkopf oder Wahlkampagnen der FDP. Die Vermarktungskonzepte von besagter Werbeagentur basieren laut Selbstbeschreibung auf der Annahme, Menschen wollten »nicht mehr über Marken belehrt werden, sondern sie erleben. Deshalb muss der Markenkern in der kompletten Experience aktiviert werden.«

Ware als Erlebnis: Das funktioniert mit dem Wort Heimat so gut, dass es inzwischen ein internationaler Exportschlager geworden ist: In Hollywood hat auf Initiative des McFit-Gründers Rainer Schaller ein Luxus-Fitnesscenter eröffnet, das sich HEIMAT nennt und eine norwegische Fußmatten-Firma mit dem Namen Heymat beantwortet derzeit auf ihrer Webseite die Frage »Which Heymat should I choose?« so: »With so many different types of mats available, ranging greatly in functionality, durability, and quality we’re here to help you choose the right one.« Heimat ist damit inzwischen sogar international eine Sache der individuellen Wahl und des subjektiven Erlebnisses geworden, jeder und jede muss ihre persönliche Heimat selbst finden, und sei es auf der Fußmatte.

Potenzial jenseits der rechten Vereinnahmungen

Es ist allerdings allen klar, dass dieser Begriff irgendwie auch politisch ist, ohne dass man genau wüsste wie und ohne dass man ihn noch eindeutig einer bestimmten Gruppe oder Partei zuordnen könnte. Einerseits fällt einem die Neonazigruppierung »Thüringer Heimatschutz« ein, aus der unter anderem die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« hervorging, die die größte rechtsextreme Mordserie in der Geschichte der Bundesrepublik zu verantworten hat. Die diesen Kreisen nahestehende rechtsextreme NPD hat sich erst 2023 in »Die Heimat« umbenannt. Andererseits ist die Rede von Heimat nun schon seit einigen Jahren in der politischen Mitte angekommen. Von allen großen demokratischen Parteien wurde der Begriff in den letzten Jahren im Wahlkampf eingesetzt, das Innenministerium trägt ihn seit einigen Jahren im Titel, er rückt in einem nicht abreißenden Strom von Zeitschriftennummern (wie der hier vorliegenden), Podiumsdiskussionen, Ausstellungen und Tagungen in den Fokus der politisch interessierten Öffentlichkeit und zwar vor allem mit der Frage nach seinem Potenzial jenseits der rechten Vereinnahmungen.

»Der Begriff ›Heimat‹ dient oft gerade dazu, sich von nationalen und politischen Zusammenhängen zu distanzieren.«

Dabei wird immer wieder klar, dass der Begriff anders funktioniert als etwa Begriffe wie Volk und Nation. Denn er dient ja, siehe oben, oft gerade dazu, sich von nationalen und politischen Zusammenhängen zu distanzieren. Ein Interview der Süddeutschen Zeitung vom Mai 2024 mit Katarina Witt titelt: »Meine Heimat war eine Zeit lang nur das Eis«, also, so lässt sich ergänzen, eben nicht die DDR oder die BRD, sondern ein politikfreier Raum, ein persönlicher Rückzugsort. Wie also? Ist die Rede von Heimat nun politisch oder apolitisch zu verstehen? Dies lässt sich mit Blick auf seine Vorgeschichte klären.

Über viele Jahrhunderte wurde der Begriff im deutschsprachigen Raum vor allem in rechtlichen Zusammenhängen verwendet – das Heimatrecht regelte Fragen der Zuständigkeit für die Armen, was lange Zeit allerdings eher das Recht der Gemeinden auf Abschiebung als das Recht der Armen auf Versorgung meinte. Parallel dazu, aber unabhängig, gab es die weitverbreitete religiöse Idee einer himmlischen Heimat als transzendenten Ort, in den der Christ nach seinem Tod Eingang findet. Als Alltagsvokabel spielte Heimat eine marginale Rolle, sofern wir dies durch überlieferte Schriftzeugnisse rekonstruieren können, und wurde, wenn überhaupt, nüchtern auf den Herkunftsort bezogen.

Gegen Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts erfuhr der Begriff Heimat dann eine bis dahin beispiellose Aufwertung; das lässt sich schon an seiner rein quantitativen Zunahme in Schriftzeugnissen zeigen. Sein Bedeutungsspektrum erweiterte sich schlagartig, und zwar vor allem durch die literarische Verschmelzung der nüchternen Alltagsbedeutung mit der religiösen Dimension. Ob bei Herder oder Hölderlin, bei Novalis oder Eichendorff: Die Dichtung griff auf die jahrhundertalte religiöse Vorstellung einer »himmlischen Heimat« zurück und versetzte sie auf die Erde: Heimat ist fortan immer mehr als die alltagssprachliche Bezeichnung für den Geburts- oder Lebensort, nämlich ein metaphysisch aufgeladener Ursprungs- und zugleich Zielort, eine rückwärtsgewandte Utopie, ein zwischen irdischen und transzendenten Vorstellungen oszillie­render Raum, der nie vollständig im Hier und Jetzt aufgeht.

Und was die Literatur vorformt, geht fast unmittelbar in die allgemeine Bedeutung über. In allen Lebensbereichen wird der Begriff fortan in dieser komplexen, den bloßen Ort der Herkunft übersteigenden Bedeutung verwendet: Es ist ein sich mit der eigenen Kindheit verbindender Sehnsuchtsort, der zugleich mehr ist als das Individuelle, es ist der Ort einer imaginierten Ganzheit, deren Verlust alle verbindet. Heimat wird damit zu einer Idee der Moderne, bei der Fortschritt und Verlust immer nur zwei Seiten derselben Medaille sind.

Mit den Stichworten Ursprungs- und Identitätssuche sind auch die Weichen für die politische Bedeutungsaufladung gestellt. Die Sehnsucht der Deutschen, die im nationalen Sinne noch keine sind, richtet sich auf eine kollektive Selbstfindung und wird im historisch Vergangenen gesucht, sei es im antiken Griechenland oder im deutschen Mittelalter. Die »deutsche Heimat« steht in diesem Zusammenhang für ein zugleich individuell und kollektiv Verlorenes, das in einer utopischen Zukunft wiedererlangt werden soll, als Einheit aller individuellen Heimaten in einer gemeinsamen Nation.

»Nur in der individuellen Heimat wurzelnd könne der Mensch sich zur allgemeineren Idee der Nation erheben.«

Die Grundidee dieses Verhältnisses von Heimat und Nation, das durch das gesamte 19. Jahrhundert und darüber hinaus in allen gesellschaftlichen Bereichen ausbuchstabiert wird, wird immer wieder im Bild eines Baumes gefasst, der seine Wurzeln fest in die Erde schlägt und hoch in den Himmel aufragt. So wie der Baum braucht demnach auch der Mensch einen Ort, in dem er fest verwurzelt ist, wobei die Heimaterde für das Unbewusste, Vor-Reflexive und insofern auch Apolitische steht. Nur in der individuellen Heimat wurzelnd könne der Mensch sich dann zur allgemeineren Idee der Nation erheben. Der vaterländische Himmel steht für diese Idee, für Ratio und Abstraktion.

Aber die Idee der Nation hat keinen Wert, wenn sie nicht gefühlsgesättigt ist: Die »treue und ehrliche Liebe zur engsten Heimat« liest man etwa 1902 bei dem klassischen Philologen und Volkskundler Albrecht Dieterich, ist »die tiefste und festeste Wurzel echter Vaterlandsliebe, fester als manches Nationalbewußtsein, das manchem wandernden Bureaukraten, dem weder Ost noch West eine Heimat ward, ein jammervoll abstraktes Ding geworden ist (…).« Das unpolitische Fleckchen Heimaterde hat jeder für sich, im Himmel der Nation wachsen alle zu einem größeren Politischen zusammen, dürfen den Kontakt zum Boden aber nicht verlieren.

Die in diesem Bild natürlich nur noch vermeintlich unpolitische Heimat ist also geradezu zwingende Bedingung fürs Politische. Auch dass Heimat im gesamten 19. Jahrhundert und darüber hinaus vor allem in der Wortverbindung »Heimatliebe« auftaucht und diese Heimatliebe als Spezifikum der Deutschen gehandelt wurde – keine andere Nation hänge so an ihrer Heimat wie die Deutschen, so der feste Glaube der Zeit –, zeigt genau diese Politisierung von Heimat im Zeichen ihres Unpolitischen. Die »Grundstimmung des deutschen Wesens« zeichne sich insbesondere durch »Liebe zu Heimat und Haus« aus, ist in einer pädagogischen Schrift von 1888 zu lesen – eine ganze pädagogische Richtung der Zeit, die sogenannte Heimatkunde, schreibt sich daher auch auf die Fahnen, der deutschen Jugend diese Liebe wieder nahezubringen und sie damit zugleich zu höherem Nationalbewusstsein zu führen.

»Da Heimatliebe ein unmittelbares Gefühl ist, kann gerade über dieses Unmittelbare zu höherem, politischem Bewusstsein geleitet werden.«

Denn da Heimatliebe ein unmittelbares Gefühl ist, kann gerade über dieses Unmittelbare zu höherem, politischem Bewusstsein geleitet werden. Auch ist es ein fester Topos des 19. Jahrhunderts, dass Juden und alle anderen, die als fremd und nicht dazugehörig angesehen wurden, grundsätzlich zu Heimatliebe nicht fähig seien und daher auch kein Teil der deutschen Heimat werden könnten. Die politische Funktionalisierung einer vermeintlich unpolitischen Heimat gipfelt im Ersten Weltkrieg, in dem nach von den Kriegstreibern ausgegebener »Parole Heimat« für das Vaterland gekämpft und gestorben werden musste. Die NS-Zeit und der Zweite Weltkrieg, die immer wieder herangezogen werden, um auf einen punktuellen politisch-ideologischen Missbrauch des Heimatbegriffs hinzuweisen, sind eigentlich nur trauriger Höhepunkt einer Semantisierung von Heimat, die sich seit über 200 Jahren in einem hochpolitischen Bedeutungsgefüge abspielt, das des vermeintlich Un- und Vorpolitischen von Heimat bedarf, um Politik machen zu können.

Auch wenn organologische Bilder wie die des im Heimatboden wurzelnden Baumes aus unseren kollektiven Selbstbeschreibungen gewichen sind, auch wenn sich heute ein größerer Teil der Deutschen nicht mehr bruchlos mit der Vorstellung der Nation identifiziert, diese eher durch die Vorstellung »Europa« oder »Vereinte Nationen« ersetzen würde, auch wenn sich viele heute eher als mobiles Wesen sehen würden – wir können nicht ernsthaft auf der Behauptung beharren, dass Heimat für uns nur etwas ganz Subjektives und gänzlich Unpolitisches ist. Dafür stand Heimat zu lange im Dienst des Politischen.

Historisch betrachtet wurde der Begriff der Heimat in den letzten 200 Jahren nicht von einigen Nationalisten missbraucht, sondern sie war in dem gesamten Zeitraum auf das Engste mit Ideologien des Nationalen und Ausgrenzenden verbunden, sie ist struktureller Teil von ihnen. Das muss uns nicht abhalten, beim nächsten Trip nach Hollywood einmal das Fitnesscenter HEIMAT zu besuchen oder uns (bei geringerem Budget) wenigstens die norwegische Fußmatte Heymat anzuschaffen. Wir sollten nur wissen, dass das dann nicht nur eine subjektive Sache, sondern doch irgendwie auch politisch ist.

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