»Wird der deutsch-polnische Motor in Zukunft den deutsch-französischen als Zugmaschine Europas ablösen?«
Nach dem Schock über den Rechtsruck bei der ersten Runde der französischen Parlamentswahlen fanden erstmals nach sieben Jahren wieder deutsch-polnische Regierungskonsultationen statt. Beide Ereignisse hatten an sich nichts miteinander zu tun, die terminliche Nähe war Zufall. Dennoch waren die Folgen des französischen Urnengangs in Warschau stets präsent. Während der Zeit der rechts-nationalistischen PIS-Regierungen waren diese Begegnungen ausgesetzt. Das diesjährige Treffen Anfang Juli signalisierte daher eine neue Dynamik. Man konnte fast meinen, Europa suche eine neue Mitte. Wird der deutsch-polnische Motor in Zukunft den deutsch-französischen als Zugmaschine Europas ablösen? Ohne derartige Politformeln überstrapazieren zu wollen: Polen mit Donald Tusk als Ministerpräsident, der gerade vorgeführt hat wie man eine rechtsnationalistische Partei in Wahlen besiegt, ohne ihrer Rhetorik auf den Leim zu gehen, wird auf absehbare Zeit ein zentraler europäischer Player bleiben und damit ein wichtiger Partner für Deutschland.
Auch wenn der Durchmarsch der Rechtspopulisten in Frankreich gerade noch verhindert werden konnte. Beim Blick auf die politische Landkarte des Kontinents nach den Europawahlen reiben sich viele Beobachter in den westlichen Hauptstädten die Augen: Das alte Europa im Westen ist heute genauso instabil oder instabiler und von Populismus herausgefordert wie die Mitgliedstaaten der EU in Mittel- und Osteuropa.
Ökonomische und geopolitische Veränderungen
Die neue Dynamik in den deutsch-polnischen Beziehungen ist lediglich ein Indikator für die Verschiebung der innereuropäischen Machtbalance nach Osten. Dahinter stehen strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft sowie geopolitische und geoökonomische Umwälzungen, die der russische Krieg gegen die Ukraine ausgelöst hat. Diese Entwicklungen finden erst langsam Eingang in das Bewusstsein der Politiker und Bürger im alten Westen. Das wurde im Mai dieses Jahres bei den Feierlichkeiten zum 20. Jubiläum des Beitritts der Mittel- und Osteuropäer zur Union deutlich. Dieser wurde pauschal als großer Erfolg gefeiert. Bezogen auf die ökonomische Entwicklung und die politische Einbindung der Beitrittsländer in die EU-Strukturen ist dies sicherlich richtig.
Aus Sicht der Beitrittsländer ist diese Interpretation aber die westliche Sichtweise, die nur die halbe Wahrheit beschreibt. Was im Westen ignoriert oder nur mit wenig Empathie gesehen wird, sind die gesellschaftlichen Anpassungsleistungen der Menschen, die ab 1989 bei der Transformation vom »realen Sozialismus« zu Marktwirtschaft und Demokratie und bei der Übernahme des »acquis communautaire« im Zuge der Vorbereitungen auf den EU-Beitritt erbracht werden mussten – und zwar, anders als in den neuen Bundesländern ohne gigantische Transferleistungen aus dem Westen (ex-BRD).
»Völlig unterschätzt wurde die Funktionsweise kapitalistischer Marktwirtschaften, die in Phasen ökonomischer Umbrüche Gewinner und Verlierer produzieren.«
Zwar hatte sich die Planwirtschaft sowjetischer Provenienz als nicht konkurrenzfähig zum kapitalistischen Westen erwiesen, aber hinter den Umbrüchen von 1989/90 standen politische Motive. Die Opposition war seinerzeit eine Bewegung für Freiheit, Demokratie und nationale Unabhängigkeit. Gleichwohl erwarteten die Bevölkerungen, dass man in absehbarer Zeit zum Westen aufschließen, dessen Institutionen und damit auch dessen erfolgreichen Wohlfahrtsstaat übernehmen könne. Völlig unterschätzt wurde dabei die Funktionsweise kapitalistischer Marktwirtschaften, die in Phasen ökonomischer Umbrüche Gewinner und Verlierer produzieren.
Spätestens seit der Finanzkrise 2008–10 wurde jedoch klar, dass diese Erwartungen auf lange Zeit enttäuscht werden würden. Bei aller Konvergenz zwischen den Ökonomien in West und Ost liegen die Durchschnittseinkommen in der Region heute immer noch erst bei 60–80 Prozent des EU-Niveaus (zur Zeit des Beitritts 2004 waren es 40–60 Prozent). Daraus resultiert in weiten Kreisen der Bevölkerung Mittel-Ost-Europas eine Enttäuschung gegenüber dem Westen. Es gibt in der Region auch Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges weiterhin ein verbreitetes Gefühl, dauerhaft als »Europäer zweiter Klasse« behandelt zu werden.
»Der Osten wollte so werden wie der Westen, oder besser gesagt, so, wie man sich den Westen vorstellte.«
Der Westen hat den Fehler begangen, die Geschichte von 1989 als Siegergeschichte zu erzählen. Aus der Sicht Mittel- und Osteuropas handelt es sich aber nicht um eine Siegergeschichte, sondern um die einer Nachahmung (Ivan Krastev). Der Osten wollte so werden wie der Westen, oder besser gesagt, so, wie man sich den Westen vorstellte. Imitation beinhaltet aber stets die Annahme, dass der Imitierte besser ist als der Imitierende. Das ist keine Grundlage für den Aufbau eines starken Selbstwertgefühls und einer positiven eigenen Identität.
Das »Zeitalter der Nachahmung« neigt sich aber inzwischen seinem Ende zu. Das angeblich vorbildliche internationale System der westlichen Altmitglieder entpuppte sich im Zuge der Finanzkrise und der sich überlappenden multiplen Krisen danach (Migration, Terrorismus, Pandemie, Klima…) als fragil. Im Osten wird klar, dass auch im Westen der EU Demokratie und die aktuelle Form des globalen Kapitalismus zunehmend schwerer vereinbar sind. Parallel zu dieser Erkenntnis hat der ökonomische Stellenwert der östlichen Länder für die gesamte Union enorm zugenommen. Gestützt auf erfolgreiche Modernisierungsanstrengungen, flankiert durch massive Investitionen aus den westlichen Staaten der Union, ist den Ländern eine Integration ihrer Ökonomien in die europäische Arbeitsteilung und ihre Lieferketten gelungen.
»Der Osten wird sich angesichts der globalen Dynamik nicht auf den bisherigen Erfolgen ausruhen können.«
Allerdings wird sich der Osten angesichts der globalen Dynamik nicht auf diesem Erfolg ausruhen können. Es steht eine zweite Transformation an, die die Schwächen des bisherigen »abhängigen« Wachstumsmodells überwinden sollte. Die alten Industrien (etwa die deutsch geprägte Automobilindustrie) müssen sich modernisieren. Das bestehende Industriemodell ist erschöpft, aktive Industriepolitik gefordert. Demografischer Wandel, Dekarbonisierung und Digitalisierung sind zu bewältigen. Der Dienstleistungssektor wird an Bedeutung zunehmen. Weiteres Wachstum hängt unter diesen Bedingungen von Produktivitätssteigerungen ab, die vor allem von Investitionen in Innovation und Bildung begleitet werden müssen. Dennoch, die Zeiten in denen die Länder der Region am Rand lagen und als Bittsteller galten, sind vorbei – man spielt jetzt in einer gemeinsamen Liga.
Für diverse Länder der Union – allen voran Deutschland – ist Mittel- und Osteuropa zum Hoffnungsträger für den Außenhandel geworden. Massiv verstärkt hat sich dies nach Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine. In Zeiten sich verfestigender Multipolarität, eines wachsenden Wettbewerbs um Rohstoffe, Investitionsstandorte und Märkte, von de-risking (der Verringerung von Abhängigkeiten) und in-shoring (der Ansiedlung von Forschungs- und Marketingfunktionen im Inland), gewinnt der EU-Binnenmarkt an Bedeutung.
»Das deutsche Außenhandelsvolumen mit den vier Visegrád-Staaten liegt inzwischen deutlich über dem mit China oder den USA.«
Auf Deutschland bezogen bedeutet dies: Das Außenhandelsvolumen allein mit den vier Visegrád-Staaten (Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn) liegt inzwischen deutlich über dem mit China oder den USA. Das Exportwachstum in der Region ist etwa dreimal höher als das Wachstum des deutschen Außenhandels insgesamt. Vorreiter für viele dieser Entwicklungen ist Polen, das 2024 ein BIP-Wachstum von 2,8 Prozent erreichen wird. Die Wirtschaft des Landes wächst seit drei Jahrzehnten schneller als Deutschland und der Durchschnitt der EU. Den Prognosen nach wird dieser Erfolgstrend anhalten.
Vom Rand ins Zentrum europäischer Politik
Der Stellenwert der Region in der Union wuchs aber nicht nur ökonomisch. Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine verlagerte sich der gesamte Fokus europäischer Politik nach Osten. Der Schock über den Angriff sitzt bis heute tief. Die Überraschung war aber in Brüssel und in den westlichen Hauptstädten deutlich größer als in Mittel- und Osteuropa. Zunächst bestätigte der Angriff selbst und die brutale Art der russischen Kriegführung die östlichen Länder in ihrer Mitgliedschaft in der EU, vor allem aber in der NATO.
»Putins Abkehr vom Westen hatte sich spätestens seit seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz beschleunigt.«
Dabei hatte sich Putins Abkehr vom Westen spätestens seit seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 beschleunigt. Der Weg führte vom zweiten Tschetschenienkrieg über Georgien und Syrien zur Annexion der Krim 2014. Der Präsident profilierte sein Land dabei als militärischen Gewaltakteur, bereit und in der Lage zu multiplen Arten von Intervention: Staatsterrorismus, hybride Kriegsführung, Cyber-Attacken, Fake-News-Kampagnen, Einsatz von Söldnertruppen, um nur einige zu nennen.
So dramatisch dies war, es änderte zunächst wenig an der Politik gegenüber Russland. Dies galt für Brüssel, dessen Russlandpolitik bereits geraume Zeit vor dem Angriff auf die Ukraine zum Erliegen gekommen war, und wichtige westeuropäische Hauptstädte, vor allem aber für Berlin. Genau davor hatten die Mittel- und Osteuropäer spätestens seit Putins Annexion der Krim im Jahre 2014 eindringlich gewarnt. Auf Deutschland bezogen wurde klar, dass seine Politik gegenüber der Region weitgehend eine Ableitung seiner Russlandpolitik gewesen war.
Innenpolitische Folgen der Sanktionen
Der Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit der EU, die besonders in einer Serie von Sanktionsprogrammen gegen Russland und im Gewähren des Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine zum Ausdruck kamen, gehörten zu den positiven Überraschungen des Konfliktes. Die innenpolitischen Folgen der Sanktionen gegen Russland und der anhaltenden Unterstützung für die Ukraine wurden allerdings unterschätzt. Sie werden mit zunehmender Dauer des Krieges immer mehr zu einer Belastung der breiten Solidarität in den EU-Mitgliedsländern. Diesen Herausforderungen sehen sich die Länder Mittel- und Osteuropas in gleicher Weise ausgesetzt wie die Altmitglieder im Westen der Union.
Dennoch zählen sie, mit Ausnahme von Victor Orbáns russlandfreundlichem Ungarn, zu den entschiedensten Unterstützern der Ukraine. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen historischen Erfahrungen mit Russland oder der Sowjetunion beherbergen die Länder heute einen großen Teil der ukrainischen Migranten und investieren nicht nur massiv in die eigene Verteidigung, sondern auch in den Ausbau europäischer Sicherheitsstrukturen beziehungsweise des europäischen Pfeilers in der NATO. Dabei wird ihr geopolitischer Stellenwert durch die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die Verteidigungsgemeinschaft weiter gestärkt, die die Ostsee zu einem NATO-Meer macht.
Vor dem Hintergrund der Fehleinschätzung Russlands seitens des Westens und der Ignoranz gegenüber skeptischen Stimmen aus Mittel- und Osteuropa ist die Möglichkeit entstanden, sich auf Augenhöhe zu begegnen und gemeinsame Herausforderungen abgestimmt anzugehen. Die Länder der Region können jetzt damit rechnen, gehört und respektiert zu werden. Was sie nicht erwarten sollten, ist, dass andere Länder der Union ihre Sichtweise und ihre Interessen teilen.
»Die Ziele der demokratischen Eliten in der Region dürften darauf gerichtet sein, ihre Interessen in der Gemeinschaft gewahrt zu sehen.«
Der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán, der vom liberalen Hoffnungsträger der Wende 1989 zum Enfant terrible und Wortführer des Rechtspopulismus mutierte, formulierte die Emanzipation der Mittel- und Osteuropäer in der EU bereits 2017 mit den Worten: »Nach dem Fall der Mauer glaubten wir hier in Mitteleuropa daran, dass Europa unsere Zukunft sei. Jetzt zeigt sich, dass wir die Zukunft Europas sind.« Den ersten Teil des Spruches werden die meisten von Orbáns Zeitgenossen unterschreiben können, den zweiten weniger. Denn seine Vision von Europa ist inzwischen von der Vorstellung einer illiberalen Demokratie und anderen rechtspopulistischen Ideen geprägt. Die Ziele der demokratischen Eliten und der sie tragenden Wählerschichten in der Region dürften eher darauf gerichtet sein, ihre Interessen in der Gemeinschaft gewahrt zu sehen, um so dazu beizutragen, dass die Union Wohlstand und Sicherheit in Freiheit liefert.
Angekommen im Club?
So besehen sind die Beitrittskandidaten nach 20 Jahren in der Union angekommen. Allein der Club, in dem man jetzt Mitglied ist, ist heute ein ganz anderer als der, dem man seinerzeit beitreten wollte. Einige Monate vor der Erweiterung (Mai 2004) hieß es in der ersten europäischen Sicherheitsstrategie: »Europa war noch nie so wohlhabend, so sicher und so frei. Die Gewalt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist einer Periode des Friedens und der Stabilität gewichen, die es in der europäischen Geschichte noch nie gegeben hat.« Dieses Selbstbild der damaligen Union erscheint heute als ein ferner Sehnsuchtsort, allerdings einer, an dessen Erreichen der Osten jetzt gleichberechtigt mitwirken kann.
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