Der professionelle Historiker wird stets etwas nervös, wenn Etikettierungen geschichtlicher Ereignisse politisch-weltanschauliche Bekenntnisse ausdrücken sollen. Das rot-rot-grün regierte Berlin hat in diesem Jahr, wofür es gute Gründe gibt, den 8. Mai, den 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa – in Asien wurde noch über drei Monate weitergekämpft – als Feiertag begangen. Im Umfeld dieses Datums ist, wie in früheren Jahren auch, über die Bedeutung dieses Tages reflektiert und debattiert worden.
Dabei ist immer wieder auf die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Bundestag am 8. Mai 1985 verwiesen worden. Diese Rede war in der Tat wichtig für die Erweiterung des erinnerungspolitischen Konsenses im Westen Deutschlands, wichtig nicht zuletzt deshalb, weil es ein Liberal-Konservativer war, der neue Akzente setzte. (Die DDR hatte ja von Anfang an und höchst eindeutig die »Befreiung vom Faschismus« herausgestellt.) Was von Weizsäcker nicht tat, was aber inzwischen in progressiver Absicht vielfach geschieht: Er überging nicht die Ambivalenz dieses Datums und des mit ihm verbundenen Geschehens.
Ganz unsinnig ist die Gegenüberstellung von »Niederlage« und »Befreiung«, denn die militärische Niederlage der Wehrmacht und damit des Großdeutschen Reiches war schlicht die Voraussetzung für die Befreiung. Befreit wird man von etwas, in diesem Fall das ganze nationalsozialistisch beherrschte Europa von einem schrankenlosen, monströsen Terrorregime. Das beinhaltet nicht automatisch die Durchsetzung einer wie auch immer verstandenen Freiheit. Sie existierte nicht im sowjetischen Einflussbereich und auch unter dem Besatzungsregime der Westmächte war sie nur eingeschränkt vorhanden.
Es liegt auf der Hand, dass die so verstandene Befreiung für Länder wie Norwegen und Frankreich (wo sie faktisch schon im Sommer 1944 erfolgt war) als Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit und einer autochthonen Verfassungsordnung wesentlich weniger fragwürdig war als für Deutschland, den Ausgangspunkt und das Zentrum des NS-faschistischen Kontinentalimperiums, wo der Versuch der Selbstbefreiung, der Staatsstreich des 20. Juli 1944, gescheitert war und örtliche Selbstbefreiungsversuche auch in den Todeszuckungen des Regimes im Frühjahr 1945 marginal blieben. Daraus ergab sich die Unvermeidlichkeit der Eroberung und Besetzung Deutschlands durch die Truppen der Siegermächte.
Jede Fremdbesetzung eines Landes ist problematisch; sie war im gegebenen Fall problematisch insbesondere für diejenigen Einheimischen, die autoritäre Strukturen verändern und verschüttete emanzipatorische Kräfte entfesseln wollten, also für die deutschen Antifaschisten. Diese, im Inland wie im Exil, hatten deshalb noch lange darauf gehofft, dass die deutschen Werktätigen den Alliierten mit einer Erhebung zuvorkommen würden. Als das nicht geschah, war insbesondere den Sozialdemokraten und Linkssozialisten klar, dass sie – bei aller Distanz gegenüber einer nationalen Trotzhaltung – Acht geben mussten, nicht zu bloßen Erfüllungsgehilfen der Militärregierungen zu werden. Namentlich gegenüber der Politik der angelsächsischen Sieger- und Okkupationsmächte, die ebenso interessengeleitet war wie – gewiss mit anderen Konsequenzen – die der Sowjetunion, herrscht heute, bis in die Fachwissenschaft hinein eine naive bzw. apologetische Sicht vor, als wäre deren Kriegsführung eine Art humanitäre Intervention gewesen mit einem Hauptmotiv: die Durchsetzung der Demokratie in Deutschland.
Befreit im buchstäblichen Sinn und teilweise vor dem sicheren Tod gerettet wurden im Frühjahr 1945 unter den Deutschen die überlebenden KZ-Gefangenen und Zuchthausinsassen sowie die eindeutigen NS-Gegner und verfolgte oder diskriminierte Bevölkerungsgruppen. Befreit wurden Soldaten und Zivilisten von der Kriegsfurie, die hierzulande gerade in den letzten Monaten besonders hohe Opferzahlen und Zerstörungen mit sich gebracht hatte. Objektiv befreit wurde zudem das deutsche Staatsvolk, das sich 1933 die innere politische Selbstbestimmung hatte abnehmen lassen. Das ist aber nicht das ganze Bild.
Die Befreiung durch Eroberung, ratifiziert mit der bedingungslosen Kapitulation, war – teils zwangsläufig, teils durch politische Entscheidungen der Sieger – aufs Engste verbunden mit neuem Leid und neuer Unterdrückung. Mit insgesamt etwa sechs Millionen Kriegs- und Kriegsfolgetoten hatten auch die Deutschen einen hohen Blutzoll entrichtet und entrichteten ihn noch nach dem 8. Mai 1945 im Zuge der Flucht und der Vertreibung aus den preußischen Ostprovinzen bzw. aus deutschen Siedlungsgebieten außerhalb der Reichsgrenzen von 1937, darunter Kinder, Frauen, Greise, ganz überwiegend Unschuldige. Massenvergewaltigungen, nicht nur durch Sowjetsoldaten, und andere willkürliche Übergriffe werden auf Millionen Fälle geschätzt.
Verwüstung und Hunger
Nach dem Inferno der letzten Kriegsphase schien Deutschland 1945 über weite Strecken verwüstet. Die Innenstädte glichen teilweise einer Trümmerlandschaft. Millionen Ostflüchtlinge aus den jetzt Polen bzw. der Sowjetunion zugeschlagenen Gebieten strömten in die Besatzungszonen, Millionen displaced persons aus den alliierten oder ehedem deutsch besetzten Ländern irrten umher, nach und nach entlassene deutsche Kriegsgefangene kehrten in ihre Heimatorte zurück. Die Versorgungssituation war mehrere Jahre dramatisch; es fehlte an allem, in erster Linie an quantitativ und qualitativ ausreichender Nahrung. Es wurde wieder gehungert in Deutschland.
Die Zerstörung der industriellen Anlagen war, wie sich dann zeigte, insgesamt weniger gravierend als es aussah, insbesondere unter Berücksichtigung der Kapazitätserweiterung in der Kriegszeit. Nach der Reparatur der wichtigsten Verkehrsmittel und -wege, mit der Umstellung auf Friedenswirtschaft und mit der Lockerung alliierter Restriktionen konnte die Produktion bald wieder Fahrt aufnehmen.
Nicht zuletzt bedeutete die Aufteilung in Zonen und (anders als in Österreich) der Verzicht auf eine provisorische gesamtdeutsche Regierung in Ergänzung des Alliierten Kontrollrats eine auch wirtschaftlich schwere Beeinträchtigung. Die Einrichtung von Besatzungszonen war zwar nicht als Teilung des Landes gedacht, wirkte mit dem Aufkommen des Ost-West-Konflikts dann aber schnell in diese Richtung. Die Potsdamer Konferenz (vom 17. Juli bis 2. August) formulierte gemeinsame Grundsätze der Besatzungspolitik, bekannt geworden auch als die vier »Ds«: Denazifizierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung und Demokratisierung. Dazu kamen Reparationen und die Demontage von Industrieanlagen, die für die neue Weltmacht USA irrelevant waren, für Frankreich und Großbritannien unter ökonomischen Konkurrenzgesichtspunkten und vor allem für die Sowjetunion wegen der verheerenden Kriegsschäden samt der enormen Zahl von Toten (27 Millionen) aber eine wesentliche Rolle spielten.
Der Weg in die nächste Diktatur
Der Potsdamer Minimalkonsens der drei Siegermächte (Frankreich wurde nachträglich hinzugezogen) erlaubte von Anfang an unterschiedliche Auslegungen und konnte die Auseinanderentwicklung der vier Besatzungszonen, insbesondere die Eigenentwicklung der Sowjetzone, nicht verhindern. Dort richtete sich die »antifaschistisch-demokratische Umwälzung«, die die SED mit Rückendeckung der sowjetischen Besatzungsmacht einleitete, von Anfang an auch gegen das Großkapital und gegen den Großgrundbesitz. Die diesbezüglichen Eingriffe waren keineswegs unpopulär; auch im Westen, wie in ganz Europa, dominierte anfangs eine antikapitalistische Grundstimmung. Erst 1952 wurde der »Aufbau des Sozialismus« offiziell verkündet. Doch waren diktatorische Strukturen da längst befestigt. Die »volksdemokratische« Formierung begann mit der Schaffung eines Parteienblocks im Sommer 1945 und der unter massivem Druck zustande gekommenen Fusion von KPD und SPD im Frühjahr 1946. Repression richtete sich von Anbeginn keineswegs nur gegen Nationalsozialisten und Rechtsgerichtete.
Doch wie immer die Vor- und Frühphase der DDR zu bewerten, wie immer der politische und soziale Charakter der Gesellschaften sowjetischen Typs theoretisch treffend einzuschätzen ist, eine angemessene Würdigung des Geschehens muss die antifaschistischen Intentionen in Rechnung stellen, mit denen die Mitglieder der SED (und nicht nur sie) die Lehren aus dem Abgleiten des deutschen Staates in die organisierte Barbarei während der NS-Zeit zu ziehen meinten – unter einer Führungsschicht, deren Mitglieder häufig aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern bzw. aus dem Exil zurückkehrten.
Aus einer ganzen Reihe von Gründen hatte sich der Ablösungsprozess der Bevölkerungsmehrheit vom Nationalsozialismus in Deutschland selbst nach der Kriegswende nur langsam und diskontinuierlich vollzogen. Für das unter den Deutschen im Zweiten Weltkrieg mehr und mehr verbreitete Gefühl der Ausweg- und Alternativlosigkeit waren neben der zunehmenden, wenn auch ganz unvollständigen und ungenauen Kenntnis deutscher Kriegsverbrechen auch die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation und die alliierte Kriegsführung, namentlich die Bombardierung der städtischen Wohngebiete, mitverantwortlich. Es gab aber auch tiefer, im Charakter des Herrschaftssystems liegende Ursachen. Der Nationalsozialismus vermochte erhebliche Teile des deutschen Volkes aktiv zu mobilisieren und die Loyalität der Mehrheit zweifellos zu bewahren, wenn es auch unzutreffend ist, wie es heutzutage häufig geschieht, eine nahezu vollständige Übereinstimmung von Regime und Bevölkerung anzunehmen. Der Charakter des Herrschaftssystems wie dann in der Endphase die kriegsbedingte Zersplitterung des Reichsterritoriums machten eine innere Erhebung immer notwendiger (auch aus Selbsterhaltungsgründen) und zugleich immer weniger möglich.
Neben einer nicht unerheblichen Zahl Unbelehrbarer war die vorherrschende Bewusstseinsverfassung der Deutschen bei Kriegsende eine tiefe Desorientierung und Verunsicherung, auch wenn der bald einsetzende große Zustrom zu den Arbeiterparteien (anders als auf Seiten der bürgerlichen Parteien) und zu den Gewerkschaften den Eindruck eines unaufhaltsamen Linkstrends vermittelte.
Die Linke organisiert sich neu
Eine nicht so kleine Minderheit von »Aktivisten der ersten Stunde«, teilweise in direkter Kontinuität zum Widerstand und meist aus den Reihen der sozialistischen Arbeiterbewegung unterschiedlicher Ausrichtung, organisierte sich in mindestens 500 Orten – bisweilen noch kurz vor der Besetzung und unabhängig voneinander – in Antifaschistischen Ausschüssen bzw. größeren Organisationen, dann auch in provisorischen Betriebsräten, Gewerkschafts- und Parteigründungszirkeln. Die Antifa-Ausschüsse und die provisorischen Betriebsräte wirkten in allen vier Besatzungszonen elementar gesellschaftsstiftend, indem sie die solidarische Wiederingangsetzung der materiellen Lebens- und Produktionsbedingungen in die Hand nahmen und erste Maßnahmen gegen »die Nazis« durchführten. Dieser Ansatz, gewissermaßen eine reduzierte Variante sowohl der Arbeiter-, Volks- und Soldatenräte von 1918/19 als auch der 1944/45 andernorts aus der Résistance hervorgegangenen Befreiungskomitees, erhielt keine Chance. Die »Antifas«, wie die Amerikaner sie nannten, wurden in aller Regel spätestens im Sommer 1945 von den Militärregierungen oder den Auftragsverwaltungen aufgelöst: als potenziell sozialrevolutionär und krypto-kommunistisch in den Westzonen, als »sektiererisch« und dysfunktional in der Ostzone, als zu eigenständig, kaum lenkbar und illegitim-basisdemokratisch zonenübergreifend. Es war keine Massenbewegung, doch passt dieser autochthone linke Antifaschismus in Quantität wie Qualität weder zu dem heute gern gezeichneten Bild einer nazifizierten deutschen »Volksgemeinschaft« noch zu dem der vollständigen politischen Apathie der Deutschen bei Kriegsende. Ebenso wenig die rasante Organisationsentwicklung der linken Parteien und Gewerkschaften nach ihrer Legalisierung. Ca. 500.000 Mitglieder hatte etwa die SPD der Westzonen bereits Ende 1945, mehr als 700.000 Ende 1946, erheblich mehr als vor 1933 auf diesem Territorium; fast so viele brachte die SPD der Ostzone im Frühjahr 1946 in die zwangsvereinigte SED ein.
Nicht nur die breite Mitgliedschaft der 1945/46 wieder entstehenden Sozialdemokratie, auch deren Führung mit Kurt Schumacher verstanden den Sozialismus, wie man sagte, als »Tagesaufgabe«, wobei der marxistische Wirtschaftsfachmann Viktor Agartz ein sehr konkretes und weitgehendes Konzept der Sozialisierung der Grund- und Schlüsselindustrien, von Mitbestimmung und demokratischer Wirtschaftsplanung ausarbeitete, das die Partei bis in die späten 40er, frühen 50er Jahre vertrat. Dabei ging es maßgeblich um die Ausschaltung des für den Hitler-Faschismus verantwortlich gemachten Großbesitzes und somit um die Sicherung der Demokratie. Man hielt die Überwindung des Kapitalismus aber auch aus ökonomischen und sozialen Gründen für geboten. Der langanhaltende Boom seit den 50er Jahren mit seinen bekannten Folgen lag damals jenseits der Vorstellungskraft.
Die westlichen Besatzungsmächte untersagten die auf parlamentarischem Weg angestrebte Neuordnung nicht direkt, verwiesen aber auf die Länderebene, wo etliche diesbezügliche Gesetze dann mit Hinweis auf den kommenden Gesamtstaat suspendiert wurden. Die erste Bundestagswahl im August 1949 sah schließlich die diversen bürgerlichen Parteien deutlich vor der SPD und der damals noch nicht bedeutungslosen KPD.
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