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Jürgen Habermas über das destruktive Potenzial »sozialer« Medien Noch ein Strukturwandel der Öffentlichkeit

Wer die schrittweise Entfaltung des umfangreichen Werkes von Jürgen Habermas ein wenig verfolgt hat, die großen Theoriebände und die vielen kleinen politischen Schriften zumeist aus gegebenem Anlass, in denen die Elemente einer herausragenden theoretischen und praktischen Philosophie entstanden, könnte überrascht sein, dass es ausgerechtet der Strukturwandel der Öffentlichkeit ist, Habermas’ allererstes Buch von 1961, das in den Universitätsbuchhandlungen von Berkeley bis Tokio über die Jahrzehnte fast immer vorrätig geblieben ist.

Das ist freilich kein Zufall, denn die »Öffentlichkeit als Institution« ist ja für den Theoretiker des herrschaftsfreien Diskurses der zentrale Ort der politischen Kommunikation jeder Gesellschaft und »als Prinzip« der einzige Weg der demokratischen Selbstbestimmung und der Selbstverständigung über Gerechtigkeit und Gemeinwohl, also über das, was alle besonders angeht.

Sie ist der Kern des Politischen. Hier laufen fast alle Motive von Habermas’ Philosophie aus den verschiedenen Phasen und Feldern seines Schaffens zusammen: Aufklärung und Emanzipation, kommunikatives Handeln, Diskursethik und deliberative Demokratietheorie, sogar die »Wahrheit«. Alles dreht sich um den öffentlichen Dialog und die Bedingungen seines Gelingens. Zudem ist der Autor als kritischer Zeitdiagnostiker kaum zu übertreffen, sodass man gespannt sein durfte, was er nun zu der tiefen Umwälzung der politischen Öffentlichkeit durch die explosionsartige Verbreitung der neuen sozialen Medien zulasten vor allem der Printmedien an Erhellendem zu sagen hat.

Habermas’ jüngster Text zum Thema ist der krönende Schluss, eine Art Fazit der immerhin 20 durchweg interessanten Textbeiträge einschlägig gut ausgewiesener Autorinnen und Autoren in dem Sammelband Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit der Zeitschrift Leviathan (2021). Dieses verdienstvolle Buch in einer Zeit der Ratlosigkeit über die verheerenden Nebenwirkungen der sogenannten neuen sozialen Medien und der Hilflosigkeit angesichts der kaum erreichbaren globalen Macht ihrer Herrscher im Silicon Valley verdient eine gesonderte Würdigung auf breiterem Raum. Im Folgenden konzentriere ich mich auf einige Aspekte des Beitrags von Jürgen Habermas.

Der wirkmächtige Ursprungstext »Strukturwandel der Öffentlichkeit« erschien 1961 als Habilitationsschrift des Autors bei dem leidenschaftlichen Marxisten Wolfgang Abendroth, Professor an der Marburger Universität, weil dem eigentlich dafür vorgesehenen Max Horkheimer an der »Heimatuniversität« des Autors in Frankfurt am Main Habermas ganzes Denken in dieser Zeit angeblich einen zu engen Anschluss an die marxsche Theorie hatte.

Das war eine für den Prinzipal der Kritischen Theorie, die doch gerade von der Art kreativer Aktualisierung des marxschen Impulses lebte, die Habermas betrieb, nicht nur eine überraschende, sondern eine beschämende, bis heute kaum zu erklärende Wendung, die in den theoretischen und politischen Arbeiten von Habermas tatsächlich keine Basis hat. Vielleicht hat jedoch gerade dieser Mythos zum Ruhm des Buches beigetragen.

Im ursprünglichen Werk entfaltet Habermas, wie es bis heute seine Art geblieben ist, auf der Grundlage einer akribischen sowohl ideengeschichtlich-politischen wie auch soziologischen Rekonstruktion den Entstehungsprozess und die Strukturen einer »bürgerlichen Öffentlichkeit« in Europa. Diese will dem historischen Anspruch des Republikanimus kantischer Art genügen, ein »sich selbst aufklärendes Publikum« hervorzubringen, das die Ausübung der politischen Macht dem Urteil der deliberativen Vernunft unterwirft. Dazu bedarf es neben dem republikanischen Geist einer ausreichenden Zahl von Bürgern vor allem auch einer technischen Infrastruktur für das große politische Gespräch.

Die Erfindung des mechanischen Buchdrucks hatte seit Langem alle, die eine Schule besuchen konnten, zu Lesenden gemacht, sodass seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert das Entstehen und die sich verbreiternde Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften ein politisch diskussionsfähiges Publikum heranbildete, das sich in Kaffeehäusern und Clubs eine Vorform moderner bürgerlicher Öffentlichkeit schuf.

Mit der entscheidenden technischen Erweiterung der Leserschaft durch günstige Tageszeitungen und der allmählichen Anpassung des Wirtschaftsbürgertums an den Obrigkeitsstaat setzte dann jener erste Strukturwandel ein, der Habermas’ Analyse ihren Namen gab. Die kapitalistischen und die politischen Eliten verständigten sich zunehmend untereinander, sodass die privatwirtschaftlich betriebenen Massenmedien in der neuen Konstellation alsbald aus einer aufklärenden und mahnenden Stimme von unten zu einem Sprachrohr für die gemeinsame Politik der Herrschenden von oben wurden – nicht hermetisch, aber in der Gesamttendenz.

In dieser Analyse konnten aufgeklärte Geister auch nach 1968 noch die mediale Wirklichkeit ihrer eigenen Lebenswelt erkennen. Das Bild änderte sich erst deutlich, als es den neuen sozialen Bewegungen in den 70er und 80er Jahren durch ihre mit neuen spektakulären Formen des Bürgerprotestes verbundene Gegenöffentlichkeit gelang, den etablierten öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Massenmedien ihre eigenen Themen und Stellungnahmen gegen die vorherrschende mediale Logik sozusagen »aufzuzwingen«.

Habermas zog daraus für seine Theorie der Öffentlichkeit die fällige Konsequenz. Dazu nutzte er ein ausführliches Nachwort zur Neuauflage seines Buches 1992. Er sah, dass die alternativen Bürgerforen der Zivilgesellschaft nicht nur in bestimmten aktivistischen Phasen als »alternative Öffentlichkeit« fungieren und damit große Teile der Gesellschaft einbeziehen können, sondern durch ihre Außenwirkung sogar eine Zeit lang den »Aggregatszustand« der großen medialen Öffentlichkeit selbst produktiv verändern können.

Die basisdemokratisch deliberative Öffentlichkeit der zivilgesellschaftlichen Foren bürgerschaftlicher Verständigung über gemeinsame politische Zwecke kann nämlich dem System der Massenmedien nicht nur Themen aufnötigen, die dessen Filtersysteme sonst aussondern, sondern ihnen auch ein Maß an Information und Argumentation bei der Behandlung dieser Themen abtrotzen, das deren Inszenierungsgewohnheiten eigentlich fremd ist. Damit verändern sich temporär die Struktur der gesamten Öffentlichkeit und die Arbeitsweise der Massenmedien in Richtung größerer Inklusion und demokratischer Qualität.

Nicht lange danach traten die sozialen Medien ihren globalen Triumphzug an, anfänglich begleitet vom Beifall vieler progressiver Akteure aus der Zivilgesellschaft, die in ihnen die lang ersehnte technische Infrastruktur für eine basisdemokratisch fundierte deliberative Öffentlichkeit jenseits der vermachteten etablierten Öffentlichkeit sahen.

Nach zwei Jahrzehnten praktischer Erfahrung mit ihnen zieht Habermas nun abermals Bilanz. Er sieht in der »Plattformisierung der Öffentlichkeit« (Otfried Jarren) einen »revolutionären Schub« in den technischen Voraussetzungen der öffentlichen Massenkommunikation, denn nun kann aus dem Publikum der Lesenden insgesamt eine Gemeinschaft von Autorinnen und Autoren werden.

Nach der »Verschriftlichung des gesprochenen Worts« und der »Einführungen der mechanischen Druckpresse« ist die »elektronische Digitalisierung« die »dritte Umwälzung der Kommunikationstechnologien«. Sie führt nun zu einer »Entgrenzung in Raum und Zeit und eröffnet für »viele Lebensbereiche unzweideutige Fortschritte. Aber für die demokratische Öffentlichkeit entwickelt die zentrifugale Entgrenzung der zugleich beschleunigten Kommunikation auf beliebig viele Teilnehmer in beliebiger Entfernung eine ambivalente Sprengkraft«.

Deren destruktives Potenzial entfalte sich erst durch die »Art und Weise, wie die Nutzer der neuen Medien Gebrauch von den Plattformen« machen. Kennzeichnend für letztere seien »einstweilen« zwei bestimmende Eigenarten: Es fehlt die »Gatekeeper«-Funktion des Journalismus mit seiner »professionellen Auswahl und diskursiven Prüfung der Inhalte anhand allgemein anerkannter kognitiver Maßstäbe«, und es fehlt die klare Trennung von öffentlichem Raum bzw. öffentlicher Sprecherrolle und Privatsphäre (»anonyme Intimität«), denn »auch die Autorenrolle will gelernt sein«.

An die Stelle der großen, inklusiven Öffentlichkeit, von der die Demokratie lebt, entsteht so »einstweilen« eine in sich zerklüftete »Halböffentlichkeit« des entfesselten Narzissmus, der Verantwortungslosigkeit und der wechselseitigen Exklusion. »Das große emanzipatorische Versprechen wird heute von den wüsten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen übertönt«.

Offensichtlich eine treffende Erklärung. Nun ist Habermas sicher nicht der Autor, von dem auch gleich die Rezepte zur Verbesserung der Lage zu erwarten wären. Allerdings deutet er mit dem einen tröstenden »einstweilen« mehrfach an, dass es dabei nicht bleiben muss. Seine Erklärungen für die Fehlentwicklungen deuten immerhin an, wo angesetzt werden müsste.

Da ist zunächst die Überwindung der weltweiten Vorherrschaft der »libertären« Weltplaner der Digitalkonzerne im Silicon Valley und, damit verbunden, eine durchgreifende Verantwortlichkeit der Betreiber von Plattformen für die Einhaltung der gebotenen Grenzen. Wenn es um die Überwindung der »anonymen Intimität« als Quelle des enthemmten Verhaltens geht, liegt eine Verpflichtung zum Klarnamen in den sozialen Medien nahe. Vielleicht würde schon das zur Einübung einer der demokratischen Kultur verpflichtenden Autorenrolle anregen.

Die vielfältigen Hinweise des Autors, was heute fehle, sei vor allem die Zugangskontrolle durch den professionellen Journalismus, eröffnen hingegen kaum eine praktische Perspektive. Denn zum einen ist die hochgradige Selbstbezüglichkeit und politisch-moralische Selektivität eines großen Teils des »amtierenden« Journalismus selbst ein demokratisches Problem und einer der Gründe für einen Teil der Auswanderung aus den offiziellen Massenmedien; zum anderen ist eine solche Verlagerung der Zugangskontrolle durch Journalisten ins Netz technisch kaum vorstellbar. Und außerdem wäre sie im Falle des Gelingens wohl nur der Anlass für die Nerds, sie findig aufs Neue zu umgehen.

Vermisst hat der Rezensent Überlegungen des Autors zu einem seiner früheren großen Themen, dass nämlich gelingende Kommunikation neben der Verständigung über die Inhalte auch solidarische Bindewirkungen hervorbringt, die die Gesellschaft zusammenhalten. Was ist beim gegenwärtigen Strukturwandel daraus geworden? Und wie kann diese große Aufgabe in Zeiten digitalisierter Kommunikation gerettet werden?

Jürgen Habermas: Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit. In: Martin Seeliger/Sebastian Sevignani (Hg.): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit? Sonderband Leviathan 37/2021. Nomos, Baden-Baden 2021, 49 S, 99 €.

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