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Bücher zum Verhältnis von Abend- und Morgenland »Nord und West und Süd zersplittern…«

Was wäre die deutsche Sprache ohne ihre Komposita, und was wäre die Bundesrepublik Deutschland ohne den Begriff der »Westorientierung«, der zusammenfügt, was nicht zusammenwachsen will. Steckt im Wort Orientierung doch die Ausrichtung nach dem Orient, also nach dem Osten, wo die Sonne aufgeht und wo das »Morgenland« und darin wiederum jenes »Heilige Land« mit der Stadt Jerusalem liegt, an deren Lage man über Jahrhunderte hin die Weltkarten des Abendlandes auszurichten pflegte. Im Westen hingegen wurde zu Beginn der Neuzeit eine »Neue Welt« entdeckt, deren mächtigster Vertreter, die USA, unserer »Alten Welt« Anfang des 20. Jahrhunderts den Rang ablief. Am Ende des Zweiten Weltkriegs lagen die einstigen europäischen Weltmächte in Trümmern, wurden zu Nebendarstellern des Ost-West-Konflikts zwischen UdSSR und USA, und die Teilung Deutschlands in Westzonen und eine Ostzone half mit zu vergessen, dass Deutschland einmal weiter nach Osten gereicht hatte als bis zur Oder-Neiße-Grenze.

Verdrängt worden war da längst auch, dass der Erste Weltkrieg sich nicht auf die Materialschlachten des Westens beschränkt hatte, sondern auch im Osten zum Weltkrieg geworden war. Dort ging damals neben Österreich-Ungarn und dem Zarenreich auch das Reich der Osmanen unter, dessen Rolle als frühe Weltmacht heute oft unterschätzt wird. Verdrängt wurde schließlich auch, dass der Zweite Weltkrieg im Nahen Osten diesen Prozess fortsetzte, ohne die innerhalb der muslimischen Welt bestehenden Konflikte zu lösen.

Während der israelische Historiker Dan Diner in seinem Buch Ein anderer Krieg den Zweiten Weltkrieg aus der Sicht des jüdischen Palästina beschreibt, hat sein US-amerikanischer Kollege Eugene Rogan dem Untergang des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg eine umfangreiche Monografie gewidmet, die den Blick auch zeitlich über das Jahr 1918 hinaus ausweitet. Einen noch weiteren Bogen spannt Rogans Landsmann Alan Mikhail in seinem Buch Gottes Schatten, wenn er postuliert: »Das Osmanische Reich prägte um die Wende zum 16. Jahrhundert die bekannte Welt von China bis Mexiko.« Über seinen Titelhelden Sultan Selim I. (1470–1520) nach dessen Eroberung des ägyptischen Mamlukenreichs schreibt der Autor: »Nach 1517 hielt Selim die Schlüssel zur Weltherrschaft im 16. Jahrhundert in der Hand: Er kontrollierte die Mitte der Welt, besaß das Monopol über die Handelsrouten zwischen Mittelmeerraum und Indien und China, gebot über Häfen in allen wichtigen Meeren und Ozeanen der Alten Welt, verfügte über unangefochtene religiöse Autorität in der muslimischen Gemeinschaft, über enorme Geldreserven, Land und militärische Stärke. Selim war zum mächtigsten Souverän der Welt aufgestiegen, zu Gottes reinem Schatten auf Erden.«

Katalysator der Moderne

Dies ist freilich nur die Ausgangsbasis für Mikhails explizit »revisionistisches« Bemühen um ein »innovatives, ja revolutionäres Verständnis der Rolle des Islam und des Osmanischen Reichs bei der Gestaltung der Alten und der Neuen Welt«. Ohne die Osmanen, so spitzt es der Klappentext zu, »hätten die Europäer nicht Amerika erobert, hätte es keine Reformation gegeben und keine Moderne«. Etwas zurückhaltender formuliert es der Autor selbst: »Dutzend bekannter Gestalten wie Kolumbus, Vasco da Gama, Montezuma, der Reformator Luther, der Kriegsherr Timur, Generationen von Päpsten und Millionen größerer und kleinerer historischer Persönlichkeiten orientierten sich, was ihre Aktionen und ihre Existenz betraf, an der Reichweite und Größe der osmanischen Macht.«

Jene Reichweite und Größe hatte Mikails Titelheld noch erheblich erweitert, sodass Europas großer Sprung nach Westen auch als ein Zurückweichen vor der muslimischen Übermacht erscheint. Oder als ein strategisches Ausweichen, denn die Suche nach dem Seeweg nach Indien führte in beide Richtungen – ums Kap der Guten Hoffnung und um Kap Horn – um den lukrativen Asienhandel an den muslimischen Herrschern und Händlern vorbei zu erschließen.

Entkommen konnten die Europäer dem islamischen Einfluss freilich nicht, und selbst Luthers Wirken erscheint bei Mikhail als ein Pendant zu dem, was er als »Selims Reformation« bezeichnet. Damit meint der Autor das Vorgehen des Sultans gegen die Schiiten, wobei er seine Rolle als »Katalysator« der europäischen Reformation nicht theologisch, sondern in Selims weltlicher Wirkungsmacht begründet sieht: »In seinen Angriffen auf die Kirche führte Luther regelmäßig das ›muslimische Gegenstück‹ zu Europa als Vergleich an. Nützlicherweise bot der Sultan – zuerst Selim, dann Suleiman – ein kraftvolles Gegenbild zum Medici-Papst Leo X., dessen moralische Verkommenheit es laut Luther den Osmanen erst ermöglicht habe, den Islam weltweit zu verbreiten.«

Mikhails Buch beginnt mit einem Abstecher an die Grenze zwischen Texas und Mexiko, wo ein Ort namens »Matamoros« an die Zeiten der spanischen Konquistadoren erinnere. Matamoros heißt »Maurentöter« und ist für ihn das Zauberwort zur Umdeutung der Geschichte des modernen Westens. »Die Conquista der Indianer begann«, so zitiert Mikhail einen der ersten Geschichtsschreiber der Neuen Welt, »als die der Mauren beendet war, sodass die Spanier immer weiter gegen die Ungläubigen kämpften«. Und in der Neuen Welt überall auf türkische, arabische oder maurische Spuren zu treffen meinten: »Die europäischen Unternehmungen in Amerika begannen, wie es ein Historiker formulierte, ›als eine Art Stellvertreterkrieg gegen die islamischen Gespenster, die immer noch ihre Vorstellungswelt heimsuchten‹«, schreibt Mikhail. Aber ist es wirklich so bemerkenswert, dass den Konquistadoren die Neue Welt als eine gespenstische Version des Orients erschien? Eines Orients freilich, dessen Wurzeln mit monströsen Pyramiden und Tempelanlagen in Ägypten wie in Mexiko weit in vorislamische Zeiten zurückreichten. Doch wenn Mikhails These stimmt, so ließe sie sich dahin fortentwickeln, dass es dem über den Atlantik vorgerückten Okzident in Amerika gelang, sich dort seiner islamischen Gespenster zu entledigen, während die Türkenangst in Europa bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts akut blieb.

Neue Sichtweisen auf Ost und West

Doch schon bevor die Türken 1683 vor Wien besiegt wurden, hatte der seit dem Ende des 16. Jahrhunderts massiv und global anwachsende westliche Handelskolonialismus begonnen, die Ost-West-Relationen zu verschieben. Und es ändert nichts an der zunehmend überlegenen Effizienz der europäischen Schiffsbautechniken, Reedereien und Kanonen, wenn man deren Entwicklung als Reaktion auf die Übermacht des Ostens interpretiert. Immerhin mussten Europäer im Mittelmeer und selbst im Atlantik bis ins 19. Jahrhundert fürchten, von muslimischen Korsaren gefangen und versklavt zu werden. Im Jahre 1699 etwa, so Mikhail, beklagte der puritanische Geistliche Cotton Mather das Schicksal der Kolonisten, die sich in Neuengland ansiedeln wollten, aber auf der Überfahrt nach Amerika in die nordafrikanische Sklaverei verschleppt wurden. Zu den »wilden Ungeheuern Afrikas«, die dies praktizierten, zählte der berüchtigte Gottesmann »mohammedanische Türken und Mauren sowie Teufel«.

So liefert Mikhails Buch viel Stoff und bedenkenswerte Ansätze zur Neubewertung der neuzeitlichen Geschichte und regt sowohl zu Widerspruch wie zur Überprüfung gewohnter Sichtweisen an. Was zu Selims Zeiten freilich noch in voller Machtfülle stand, entwickelte sich, während der Westen reüssierte, zum »kranken Mann am Bosporus«, wie ein dem Zaren Nikolaus I. zugeschriebener abschätziger Ausdruck lautet. Doch wenn Eugene Rogan konstatiert, seit 1699 sei das osmanische Territorium durch äußeren Druck kleiner geworden, aber mit Beginn des 19. Jahrhunderts hätten die Osmanen »nach und nach Gebiete an neue nationalistische Bewegungen« verloren, die in ihren Balkanprovinzen auftauchten, dann sind Parallelen zu den Reichen der Habsburger und der Romanows erkennbar. Die Startschüsse zum Ersten Weltkrieg wurden 1914 nicht von deutschen Zeppelinen auf Paris und London abgefeuert, sondern von einem serbischen Nationalisten auf das österreichische Thronfolgerpaar. Und eingedenk der Worte Michail Bulgakows, Russland würde sich durch die Revolution von 1917 verspäten, kann man die UdSSR als Zwangsgemeinschaft verstehen, die den Zerfall des Zarenreichs in Nationalstaaten um ein Menschenalter verzögert hat.

Ironischerweise, so Rogan, habe des Osmanische Reich in der Furcht des Westens vor dem Dschihad, einer Art panarabischer oder panmuslimischer Reconquista, fortgelebt, während sich die Araber nach »vier gemeinsamen Jahrhunderten in einem Vielvölker-Großreich unter osmanisch-muslimischer Oberhoheit« auf eine Reihe neuerer Staaten verteilt gefunden hätten, die unter der Kontrolle Frankreichs oder Großbritanniens standen. Deren Aufteilung nennt Rogan »in der Rückschau haarsträubende Vereinbarungen«, die allein dem Bestreben dieser Westmächte nach einer Ausdehnung ihrer imperialen Einflusssphäre entsprungen seien. Wäre es ihnen um einen stabilen Nahen Osten gegangen, urteilt der Autor, wären die Grenzen ganz anders gezogen worden: »Dennoch haben sich ebendiese Grenzen als erstaunlich langlebig erwiesen – genauso langlebig aber sind auch die Konflikte, die sich an ihnen entzündet haben.«

Deren langlebigster ist der arabisch-israelische Konflikt. So eröffnet Dan Diner mit Der andere Krieg nicht nur eine unbekannte Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg. Sein Buch über das jüdische Palästina in den Jahren 1935–1942 zeigt auch, wie dem »langfristig angelegten, sich anfänglich behutsam entwickelnden zionistischen Projekt« der Zweite Weltkrieg »unerwartet in die Quere« kam – vor allem durch Millionen von Flüchtlingen, die aus Not und nicht als überzeugte Zionisten oder Anhänger des Projektes Israel ins Land kamen. Umkleidet von viel New Yorker Lokalkolorit lässt Diner sein Buch mit der Biltmore-Konferenz im Jahre 1942 enden, auf der der Beschluss fiel, »that Palestine be established as a Jewish Commonwealth integrated in the structure of the new democratic world«. Womit gewissermaßen selbst der ferne Westen im Nahen Osten angekommen war, ohne dadurch heilsgeschichtliche Erwartungen zu erfüllen.

Jenseits aller Ost-West-Konflikte zeigen die darauf verengten Darstellungen vor allem den Zerfall von Vielvölkerreichen in dynamischere Nationalstaaten, zu denen auch die protestantisch geprägten USA zählen. Verkehrs- und kommunikationstechnisch gesehen ist die Welt kleiner geworden, während die Zahl ihrer Bewohner und ihrer Konflikte rasant gestiegen ist. Globalisierung und neue Völkerwanderungen heben die Distanz zwischen Ost und West zunehmend auf, während die Tendenz zu nationalistischer Abschottung und identitätspolitischem Streit in vielen Ländern zunimmt.

Dan Diner: Ein anderer Krieg: Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935–1942. DVA, München 2021, 352 S., 34 €. – Alan Mikhail: Gottes Schatten. Sultan Selim und die Geburt der modernen Welt. C.H.Beck, München 2021, 508 S., 32 €. – Eugene Rogan: Der Untergang des Osmanischen Reichs. Der Erste Weltkrieg im Nahen Osten 1914–1920. Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Theiss, Darmstadt 2021, 592 S., 38 €.

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