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Die Wisting-Krimis von Jørn Lier Horst Norwegens Höhlenmenschen

Das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse hat eine lebendige Literaturszene, darunter auch eine erfolgreiche Krimiszene. Zwischen Autorinnen und Autoren wie Karin Fossum, Jo Nesbø und Gunnar Staalesen sticht der 1970 in Bamble geborene Jørn Lier Horst nicht nur hervor, weil er zuvor ein echter Kriminalhauptkommissar war. Anders als Fossums schattenhafter Kommissar Sejer, Nesbøs selbstzerstörerischer Held Harry Hole und Staalesens vom Sozialarbeiter zum Detektiv mutierter Varg Veum erscheint Horsts Protagonist William Wisting als norwegischer Normalbürger.

Der 1958 geborene Arztsohn Wisting ist leitender Ermittler in der Polizeiwache von Larvik, einer ehemaligen Industrie- und Fischereistadt nordwestlich von Oslo. Anders als Henning Mankells Wallander kennt er keine Geldsorgen und Familienkonflikte. Er war lange mit der Lehrerin Ingrid verheiratet und ist Vater von Zwillingen. Seine Frau kam 2006 bei einem Auslandseinsatz ums Leben. Ihr gemeinsamer Sohn Thomas ist Hubschrauberpilot in Afghanistan; dessen Zwillingsschwester Line Journalistin bei Norwegens großer Tageszeitung Verdens Gang (deutsch: »Gang der Welt«) und wird dadurch oft zur Co-Ermittlerin bei Wistings Fällen. Privat ist Horsts Held ein Paradebeispiel für die Mitglieder einer harmonischen, doch sehr mobilen skandinavischen Wohlstandsgesellschaft, in der alle immer sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt sind. In seltenen Momenten erinnert er sich gemeinsamer Urlaube, in denen sie alle zusammen waren und seine Frau noch am Leben war.

Nicht nur das fragile wistingsche Familienglück ist eine Folie, auf der sich die Schatten der Kriminalfälle abheben. Vinterstengt (Winterfest) beginnt mit einer Urszene des skandinavischen Mittelstandes: der Fahrt eines Mannes zu seinem Sommerhaus, das er für den Winter einrichten will. Doch die Tür ist aufgebrochen, das Haus ausgeraubt und verwüstet. In einer ebenfalls ausgeraubten Nachbarshütte entdeckt er Blutspuren; die Polizei findet eine Leiche, und später werden in der näheren Umgebung noch weitere Leichen gefunden. Sterbende Vögel fallen vom Himmel, und langsam wird klar, dass hier mehrere kriminelle Aktionen zusammengekommen und eskaliert sind. Je mehr Horst die Handlung darauf fokussiert, desto mehr geraten Details wieder aus dem Blick, die am Schluss zur Aufklärung führen.

Nicht nur wenn sie winterfest gemacht werden sind Skandinaviens Sommerhäuser Schauplätze von Urszenen. Vor allem sind sie Kindheitsparadiese, die Erinnerungen an Generationen unbeschwerten Familienlebens bewahren. In der Beschreibung einiger der aufgebrochenen Häuser gelingt Horst ein Querschnitt durch etablierte Kreise der norwegischen Gesellschaft – vom betuchten TV-Moderator, der seine verwüstete und besudelte Hütte unsentimental von Handwerkern runderneuern lässt, über einen Mann, der die materiellen und immateriellen Schäden betrauert, die man ihm zugefügt hat, bis zum frisch Geschiedenen, der die Hütte zwar hätte verkaufen müssen, aber nun den Verlust seines Kindheitsorts auf noch brutalere Weise erlebt. Bei aller Zuspitzung des Falls drängt sich Wisting dort auf, was kein Polizist wiedergutmachen kann: »Zwei Paar sommerliche Kleinmädchenschuhe standen neben Hammersnes' großen Stiefeln im Flur. Wisting dachte daran, dass die Mädchen nie mehr über die Dünen laufen oder am Wasser spielen konnten, wenn die Hütte verkauft war.«

Der Sand der Vergänglichkeit

Norwegens Idylle ist bedroht. Im Inneren der Gesellschaft wirken Auflösungsprozesse, die deren Zusammenhalt gefährden. Norwegen ist ein Seefahrer- und Auswandererland, aber Wistings Provinz Vestfold war lange auch von Landwirtschaft, lokalem Fischfang und kleineren Industriebetrieben geprägt. Mit der gewachsenen Mobilität und dem zunehmenden Tourismus haben sich Strukturen und soziale Kontrollmechanismen gelockert, neue Kommunikationstechniken sind dafür kein Ersatz. In Bunnfall (»Bodensatz«) werden Turnschuhe an der Küste angespült. An sich wäre das nichts Ungewöhnliches, aber hier befinden sich die Füße ihrer Besitzer noch darin. Es sind linke Schuhe, billig in China produziert. Wer trägt solche Schuhe? »Alte Leute«, antwortet Wisting, denn in seinem Revier werden einige Alte vermisst. Auch sein Vater trage solche Schuhe. Sie seien preiswert. Trotzdem irritiert diese Schlussfolgerung, denn als die Vermissten jung waren, wäre im ländlich-kleinstädtischen Raum niemand auf die Idee gekommen, alte Leute mit Turnschuhen in Verbindung zu bringen. Stiefel, Holz- oder Gummischuhe wären realistisch gewesen, aber ein greiser Turnschuhträger hätte zumindest als Exzentriker gegolten. Doch Turnschuhe und Trainingsanzüge sind billig und leicht zu tragen. Selbst in den Supermärkten, vor denen die Schuhgeschäfte gewichen sind, wie die umständliche Würde des Alters einer Parodie endloser Jugend und Sportlichkeit gewichen ist, kann man sie bekommen. Das Alter soll pflegeleicht sein. Manchmal wird Wisting bewusst, dass auch er dem Alter schon nahe und alleinstehend ist.

Alter bedeutet oft Einsamkeit, nicht nur in Norwegen. Immer wieder stoßen Wisting und seine Tochter auf ältere und alte Menschen, Vermisste und Opfer, die kaum jemand näher gekannt zu haben scheint. Dabei kommt es auch zwischen jungen Menschen zu Verständigungsproblemen: So versucht Line in Jakthundene (Jagdhunde) telefonisch, ein unbekanntes Mordopfer über dessen langhaarigen Hund zu identifizieren: »So einen wie Labbetuss«, sagt sie, aber das Mädchen am Telefon ist »offensichtlich zu jung«, um dieses Stichwort zu verstehen.

Labbetuss war der langhaarige, einem Bobtail nachempfundene Star einer TV-Kinderserie und wurde im norwegischen Fernsehen zwischen 1982 und 1984 vom Schauspieler Geir Børresen im überdimensionalen Hundekostüm verkörpert. Die 1983 geborene Line hat entweder schon die Erstsendung oder eine der zwischen 1986 und 1993 ausgestrahlten Wiederholungen gesehen, die ihrer jungen Gesprächspartnerin entgangen sind. Auch deutschen Lesern dürfte Labbetuss völlig unbekannt sein, und so zeigt Horsts Roman, dass es in unserer weltweit vernetzten Kommunikationsgesellschaft prägende Medienerfahrungen gibt, die regional und zeitlich eng begrenzt geblieben sind.

Überhaupt spielen Medien eine herausragende Rolle, weil Line Journalistin und ihrem Vater in technischer Hinsicht voraus ist. Drahtlos mit Redaktion, Archiven, Fotografen und Zeugen verbunden, wechselt sie zwischen der Rolle einer Nachrichtenempfängerin und -senderin, produziert neben Texten und Fotos immer öfter auch Audio- und Videobeiträge für die Onlineausgabe von Verdens Gang. Doch nicht nur das Beispiel von Labbetuss zeigt, dass solcher Innovationsfreudigkeit ein Hauch von Vergänglichkeit anhaftet. In Jakthundene findet sich in alten Aktenkartons eine Tonbandkassette, die ein Mordopfer mithilfe einer jener tragbaren Kassettenrekorder besprochen hatte, die vor Jahrzehnten bei der Jugend so beliebt waren – »Walkman« wurden sie genannt. Immer wieder zeigen Horsts Romane so, warum die Sanduhr als Symbol der Vergänglichkeit der Zeit ausgedient hat und durch den Ladestand des Handys ersetzt wurde.

Solange der Akku geladen ist, lassen sich Mobiltelefone orten, speichern Kontaktdaten und anderes, geben aktuell mehr über ihre Benutzer preis als Dokumente und Zeugen. Doch ihr elektronisches Gedächtnis reicht nicht weit zurück. Wistings Fälle hingegen schon, denn darin spielt der Strukturwandel im ländlich-kleinstädtischen Vestfold eine erhebliche Rolle. Neben Sommerhäusern bilden alte und oft schon seit Jahrzehnten nicht mehr landwirtschaftlich genutzte Höfe Schauplätze und Tatorte der Handlung. Die ehemaligen Besitzer sind fortgezogen und wissen nicht, warum andere sich dort hingezogen fühlen. In alten Kellern, Scheunen und Brunnenschächten aber lässt sich verbergen, was nicht ans Tageslicht kommen soll. Horst dreht die Schraube noch ein ganzes Stück weiter, indem er den »Hulemannen« auftreten lässt, den Höhlenmann.

In den Hohlräumen der digitalen Welt

Der Roman Eisige Schatten beginnt mit einer Szene, in der Wisting Bilder eines Leichenfundes durchblättert, um sie zu den Akten zu legen. Man hat den Toten mumifiziert vor seinem Fernseher gefunden, der wochenlang in Betrieb war, ohne dass ein Nachbar etwas bemerkt hätte. Wegen des Zustandes der Leiche kann das Todesdatum nur durch die aufgeschlagene Fernsehzeitschrift bestimmt werden, in der der Verstorbene eine Sendung über Fälle des FBI markiert hatte. Sein einsamer, unbemerkter Tod wiederum ruft Line und deren Gespür für Stories auf den Plan, weil auch die Wistings selbst zu diesen Nachbarn gehören. Ihr Vater hat bald Wichtigeres zu tun, als sich mit dem Phänomen der Vereinsamung zu beschäftigen. In seiner Weihnachtsbaumplantage ist eine Leiche und auf deren Tascheninhalt ein Fingerabdruck gefunden worden, der das FBI alarmiert. Der Abdruck gehört zu einem Serienmörder, der schon vor Jahren aus den USA verschwunden ist. Als die Bundesagenten in Larvik eintreffen, haben sie eine interessante Theorie im Gepäck, die dem Buch seinen enigmatischen Originaltitel beschert.

Der Gesuchte könnte ein »Caveman« geworden sein: »Sie übernehmen die Identität und das anonyme Dasein eines anderen Menschen, der von niemandem vermisst wird. In gewisser Weise füllen sie bloß einen Lehrraum aus und leben genauso isoliert und einsam weiter wie der Mensch, dessen Platz sie eingenommen haben.« Später erfährt Line, dass jener einsame Tote vor dem Fernseher nicht zuletzt deshalb so isoliert geblieben war, weil man ihn Jahre zuvor wegen vermeintlicher Zwangsvorstellungen, die sich nun als zutreffend erweisen, hospitalisiert hatte: »Er war auf jeden Fall davon überzeugt, dass jemand, den er kannte, nicht der war, für den er sich ausgegeben hat.«

Nur auf den ersten Blick erscheint es unglaublich, dass in einer Welt umfassender elektronischer Erfassung und DNA-Spuren so etwas möglich sein soll, tatsächlich aber ist es gerade deshalb möglich, weil man sich auf die Technik verlässt. Jørn Lier Horsts Norwegen ist ein Land, dessen soziale Bindungen sich gelockert und wo sich Leer- und Hohlräume aufgetan haben, in denen sich Menschen verlieren oder sich der gesellschaftlichen Kontrolle entziehen können. Scheinbar triviale Verständigungsprobleme wie im Fall Labbetuss demonstrieren, wie stark sich die Filterblasen und Echoräume von Menschen unterscheiden, die nur wenige Lebensjahre trennen. Man weiß immer mehr über alles Mögliche, aber immer weniger übereinander. Und nicht nur in Norwegen und nicht nur im Krimi hat man erleben müssen, was passieren kann, wenn ein bis an die Zähne bewaffneter Unbekannter eines Tages seine Höhle verlässt.

Von Jørn Lier Horst sind in deutscher Übersetzung erschienen: Ruhe nicht in Frieden. Rowohlt, Hamburg 2006, 352 S., 8,90 €. – Wenn das Meer verstummt. Rowohlt, Hamburg 2007, 336 S., 8,90 €. – Winterfest. Grafit, Köln 2013, 346 S., 10,99 €. – Jagdhunde. Grafit, Köln 2013, 381 S., 10,99 €. – Eisige Schatten. Droemer, München 2015, 432 S., 14,99 €. – Blindgang. Droemer, München 2016, 464 S., 14,99 €. – Wisting und der Tag der Vermissten. Piper, München 2019, 448 S., 15 €.

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