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Was läuft da schief? Es ist leicht, die Frage so einfach zu stellen. Doch wenn es eine schnelle, wirkmächtige Antwort gäbe, wäre das Problem längst kein Problem mehr. Zumal die Frage seit Jahrzehnten immer mal wieder drängend auftaucht. Jetzt sowieso, da die SPD seit mehr als zwei Jahren den Regierungschef stellt und doch in den Sympathiewerten weit absackt, der Kanzler diesbezüglich vorneweg. Und all die möglichen aktuellen Erklärungen, von Personenfragen bis hin zu Programmatik und Kommunikationsschwäche, für sich alleine genommen viel zu kurz greifen.
Was da schief läuft, hat auch tiefer reichende soziale und kulturelle Ursachen, die sich auswirken in dem, wie Tagespolitik wahrgenommen wird. Die aber vielleicht zu tief reichen, um in diesem Tagesgeschäft direkt eine Rolle spielen oder auch nur bewusst werden zu können. Mal ganz oberflächlich beginnend: Warum Parteien, nicht zuletzt die Sozialdemokratie, bis in Führungspositionen hinauf mitunter eher blasse, charismaarme, manchmal auch engstirnig wirkende Charaktere hervorbringen, ist kein Thema für die Tagesdebatte – aber ein systemisches Problem.
Schmelztiegel unterschiedlicher kultureller Ausprägungen.
Das System SPD bedeutet, jedenfalls spätestens seit der pragmatischen Wende hin zum Godesberger Programm von 1959: Brücken zu bauen und darüber das Land voranzubringen. Denn seit vielen Jahrzehnten schmelzen die klassischen gesellschaftlichen Milieus ab oder differenzieren sich zumindest aus, auch das Arbeitermilieu, die alte sozialdemokratische Basis. Die Partei wurde darüber erst mal zu einem Schmelztiegel unterschiedlicher kultureller Ausprägungen, legendär anfangs durch massive programmatisch überhöhte Konflikte nach der Eintrittswelle junger, linker Studierender seit den späten 60er Jahren.
Eine Spektrumserweiterung war das nicht zuletzt infolge des schulpolitischen Erfolgs, Aufstieg durch Bildung zu ermöglichen. Zugleich bedeutete es, dass selbst intern seitdem kulturelle Brücken zu bauen sind. Nicht nur bei Programmdebatten auf Parteitagen, im Alltag zudem bei den Stil- und Geschmacksfragen. Was seit der Parteigründung der grünen Generation in den 80ern bei alteingesessenen SPD-Mitgliedern nicht selten zu dem Vorwurf führte, dass sich die jüngere Funktionärsschicht im Zweifel den Grünen (oder dem, was man als grün ortete) näher fühle als den alten Stammmilieus, deren Interessensspektrum ja auch gesellschaftlich an Gewicht verlor.
Seit sich diese kulturellen Gräben inzwischen gesamtgesellschaftlich immer weiter ausdifferenzieren und insbesondere im Stadt-Land-Verhältnis zu mas–siven wechselseitigen Fremdheitsgefühlen führen, ist die Brückenbaupartei gleichzeitig unersetzlich und ständig infrage gestellt. In einem Bild ausgedrückt: Wenn eine Spalte mit der Zeit größer wird, drohen Fundamente zu bröckeln und Brücken darüber einzustürzen. Was in der Politik dann die Wohlmeinenden, die Engagierten als extrem ungerecht und geradezu unerklärlich empfinden, weil sie selbst ja dagegen ankämpfen.
Emotionale Grundstimmung
Mit der Stimmungslage von heute hat das viel zu tun – jedenfalls, wenn man nicht ernsthaft glaubt, dass der Zustimmungsschwund nach zwei Ampeljahren nur mit mehr oder weniger gut kommunizierten Politikentscheidungen zu erklären ist oder mit den Stärken und Schwächen von Personen. Es gibt so etwas wie eine emotionale Grundstimmung in der Gesellschaft, ein Gesamtbild, ein Sich-zugehörig-Fühlen oder eben auch nicht, eine Nähe-Distanz-Problematik gegenüber der konkreten Politik, woraus sich die Frustrationsschwellen ergeben. Das Problem: Die Zündschnüre zwischen Anlass und Stimmungsexplosion sind generell extrem kurz geworden. Siehe Agrardiesel.
Es ist dies bei Weitem nicht nur ein Thema, das die Sozialdemokratie berührt. Alle, die sich um die gesellschaftliche Mitte bemühen, kennen das Problem – bald wird es auch jener Wagenknecht-Lafontaine-Partei so gehen, die mit rechts-links-rechtem Schillern glaubt, Volkes Meinung zu treffen. Und es ist hier ja tatsächlich eine Fragestellung, bei der das klassische Verständnis von trennscharfen Rechts-Links-Kategorien nicht reicht. Weil zum Beispiel klassisch linke Gewerkschaftspositionen und Anti-Woke-Kampagnen einander nicht ausschließen. Ebenso wenig neoliberaler Marktglaube und kulturelle Weltoffenheit.
»Die Unterscheidung zwischen Struktur und Kultur hilft weiter.«
Die Unterscheidung zwischen Struktur und Kultur hilft weiter. Die Haltung gegenüber den großen gesellschaftlichen Strukturen und Systemen (Wirtschaft, Staat, Eigentumsfragen, Steuerpolitik, Krieg und Frieden) kann sehr unabhängig davon sein, in welchen kulturellen Loyalitäten Menschen leben. Das gilt umso mehr, als sich die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung zwischen städtisch-modernistischen und ländlich-unbeweglichen Milieus weiter verstärkt – bis hin zu einem strukturbedingten Einander-gar-nicht-mehr-Erleben. Wobei hier insbesondere die systemische Veränderung durch die Digitalisierung durchschlägt: die generelle Privatisierung von Kommunikation und Meinungsbildung, von Begegnung und Erleben.
Das junge städtische Bildungsbürgertum, wo die Klimakatastrophe das politische Schlüsselthema ist und Gendern genauso wie Antirassismus zum selbstverständlichen Lebensstil zählt, sieht in traditionalistischen Gegenreflexen sehr schnell nur noch die Nähe zum Rechtsextremismus. In vielen ländlichen Gegenden ist grüne Bevormundung zum Feindbild schlechthin geworden. Dort sind insbesondere Männer für Antipositionen empfänglich, die sich in ihren traditionellen Verhaltensweisen kulturell im Alltag infrage gestellt sehen und spätestens mit der Berliner Ampelkoalition diese große kulturelle Unordnung jetzt auch noch in der Politik entdecken, chronisches Staatsversagen inbegriffen.
Wenn die realökonomische Entwicklung der kulturellen entspricht...
Mit der Zeit verfestigt sich all das umso mehr, wo die realökonomische Entwicklung der kulturellen entspricht. Ländliche Gegenden entvölkern sich, die – häufig inzwischen sehr alten – Übriggebliebenen suchen die Schuldigen in der Politik. In den Städten wird das Abitur fast schon zur Eintrittskarte ins postmateriell geprägte Normalleben, während in den prekären, stark migrantisch geprägten Milieus die Aufstiegschancen wieder schwinden. Bei den einen gibt es chronischen Wohnungsleerstand mit entsprechend wirtschaftlichem Perspektivverlust für Häuschenbesitzende, bei den anderen sind Wohnungsnot und teure Mieten die stadtpolitische Kernfrage.
»An allen Ecken und Enden tun sich Gräben auf.«
Ärztemangel auf dem Land, kaum mehr Vereinsleben in den Städten, chronisches Dienstleistungsversagen der Behörden nahezu überall, tiefe Prioritätenspaltung bei allen Mobilitätsfragen, stark auseinandergehende Wahrnehmungen zur Arbeitsmoral: An allen Ecken und Enden tun sich Gräben auf. Wo sie eindeutig symbolisch ausgelebt werden können, wie etwa zum sprachlichen Gendern, wird es besonders unversöhnlich. Die sich geradezu wieder verschärfende Ost-West-Emotion hat zu einem Teil auch mit solchen soziokulturellen Spaltungen in einer unübersichtlicher werdenden Gesellschaft zu tun. Denn im Westen sind selbst abgelegene, bäuerlich strukturierte Gegenden sozialräumlich manchmal noch näher dran an kleineren Wachstumskernen als – beispielsweise – im südlichen Thüringen, wo großstädtische, kulturübergreifende Erfahrungen völlig fehlen. Und zugleich mitgliederstarke demokratische Parteien.
Das bedeutet: Stukturlinks und kulturlinks erleben einander nicht mehr automatisch als verwandt. Mitunter sehen sie sich geradezu als Antipoden – und die Rechtspopulisten nutzen die so ausgelösten Heimatlosigkeitsgefühle. Sie bieten geschlossene Lebensregeln an und im Gefolge auch Weltsichten, die kulturellen Brückenbau offensiv ablehnen. Es ist diese überwölbende Auseinandersetzung, in der eine Regierungs-SPD sich täglich bewähren muss.
Kulturelle Distanzen überwinden
Die große strategische Frage ist dann, wie über realpolitische Allparteienkompromisse hinaus und mit dem Personal, wie es nun mal ist, die wachsenden kulturellen Distanzen zu überbrücken wären. Wie immer wieder positive Anziehungskräfte geweckt werden können. Die Frage so apodiktisch und absolut zu stellen, kann aber erst recht ins Elend führen – wegen Selbstüberforderung. So wie es wenig hilfreich ist, nur mit einer quasi-journalistischen Suche nach eigenen Fehlern und Schuldigen zu antworten. Oder aus purem Schwächegefühl heraus tagespolitisch immer wieder schnell zurückzuzucken und die eigenen Leute zu kritisieren, sobald irgendwo lauter Protest auftaucht. Siehe Berliner Dauerkrise.
»Es wird Zeit, wieder die Geschichte des ganzen Landes zu erzählen.«
Etwas anderes kann eher helfen. Es wird Zeit, statt immer neuer Teilblicke auf Einzelthemen wieder die Geschichte des ganzen Landes zu erzählen. Es ist alles in allem eine Erfolgsgeschichte, aber es ist auch eine Geschichte, die im konkreten Lebensumfeld meist nicht mehr so empfunden werden kann. Es ist die Geschichte von der Notwendigkeit, staatliches Handeln wieder verlässlich und berechenbar zu machen, ohne ständig neue Regeln zu erfinden. Es ist die Geschichte einer neuen Dialoglust über die Milieugrenzen hinweg. Es bleibt in jederlei Hinsicht eine Geschichte über die Kraft kultureller Vielfalt, nicht Abgrenzung. Aber ohne damit ständig Minderheiten im Diskurs überzubewerten und/oder sich selbst mehr als nötig in die kulturellen Gräben hineinziehen zu lassen.
In den nächsten Monaten wird die einfache Versuchung wieder locken, den eigenen Pragmatismus mit Verbaldradikalität in Richtung nächsthöhere Ebene zu überspielen, wo ja andere entscheiden als man selbst. Im Europawahlkampf hat rechts wie links der Wettlauf um eine möglichst lautstarke emotionale Abgrenzung von der EU begonnen. Es ist, wieder einmal, ein spalterisches Konzept: Identität durch Abgrenzung zu definieren, hier in nationaler. Die Wirkweise des Giftes: kulturelle Einigelung zur Eigenstabilisierung.
Was läuft da schief? Der Machtkampf innerhalb der freien Gesellschaften wird zu häufig auf Abwegen ausgetragen. Und die Prognose ist nicht schwer: Sozialdemokratische Parteien werden immer nur so erfolgreich sein, wie es ihnen gelingt, der kulturellen Polarisierung glaubwürdig etwas Positives entgegenzusetzen. Nur Mut, SPD! Es beginnt bei Gemeinsamkeit und Wertschätzung. Wo kulturelle Gräben die Politik zerreißen, wird am Ende auch die demokratische Machtfrage darüber entscheiden, welches Verständnis politischer Kultur sich durchsetzt.
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