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Ein Rückblick auf die 58. Biennale in Venedig Offen überall

Hohe Mauern umgeben zum Wasser wie zum Land das militärische Sperrgebiet Venedigs, »l’arsenale«, im Nordosten der Insel. Wo im Mittelalter Menschen in der innovativsten Schiffsproduktion der Welt beschäftigt waren, wird heute die Elite der italienischen Marine ausgebildet; große Teile des Geländes sind militärisch nutzlos geworden. So infiltriert die Kunst: 1980 erweiterte sich die traditionsreiche L’Esposizione Internazionale d’Arte, la Biennale di Venezia, wie die zweijährlich stattfindende Schau ganz offiziell heißt, um eine »Aperto« (deutsch: offen) genannte Schau in den ehemaligen Seilerhallen des Arsenals, die junge Künstlerinnen und Künstler jenseits von staatlichen Zugehörigkeiten präsentierte – sowohl als postmoderner Kommentar wie als kritische Ergänzung zu den Nationalpavillons in den Giardini Pubblici, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts den Nukleus der Biennale bilden. 1999 erhandelte der »Aperto«-Erfinder Harald Szeemann weitere 4.000 Quadratmeter Arsenal-Flächen und nannte das Ganze »dAPERTuttO«, offen überall.

20 Jahre später wirken die Folgen dieser Öffnung. Schon seit 2007 verkündet die Kunst-Biennale bei jeder Ausgabe einen neuen Besucherrekord, 2017 waren es schon ca. 615.000. Auf den Ausstellungsgeländen sind Menschen zahlreicher Nationalitäten und jeden Alters unterwegs, wo es möglich ist, wird für Barrierefreiheit gesorgt. Wer also wissen will, wie man mehr Teilhabe von Laien und Durchschnittsbürger/innen an den kulturellen Debatten der Gegenwart ermöglicht, nehme sich hier ein Beispiel.

Das bleibt nicht ohne Folgen für die Stadt. In einer globalisierten Welt nehmen mehr und mehr Länder an internationalen Events teil, doch der Platz in den Giardini und dem Arsenal ist begrenzt – so wird die Lagune während der Kunst-Biennale neu vernetzt und kartografiert. In Palazzi, Hinterhofwohnungen, Renaissancekirchen und Lagerhallen zieht von Mai bis November die Kunst ein. In den abgelegensten Winkeln trifft man auf Menschen mit demselben Ziel – in diesem Jahr: die Calle de la Celestia, der Pavillon von Litauen. Oft mehrere Stunden musste ausharren, wer den litauischen Biennale-Beitrag »Sun & Sea (Marina)« von der Regisseurin Rugilė Barzdžiukaitė, der Schriftstellerin Vaiva Grainytė und der Komponistin Lina Lapelyte erleben wollte, denn die Aufführung war nur an zwei Wochentagen zu sehen und erlaubte je nur eine begrenzte Zuschauerzahl. Von einer rundumlaufenden Galerie blickte man auf eine Sandfläche, mehr als ein Dutzend Darstellerinnen und Darsteller in Badehosen und Bikinis agierten sommerlich auf ihren Strandtüchern und sangen: von Umweltverschmutzung und Ignoranz, Klimawandel und Einsamkeit.

»Sun & Sea (Marina)« wurde mit dem Goldenen Löwen, dem Hauptpreis der Kunst-Biennale ausgezeichnet, und damit ist viel gesagt über ihre 58. Ausgabe. Ursache und Wirkung seien dahingestellt: Erstmals verzeichnet die Liste der Teilnehmenden zur Hälfte Frauen – ein zentrales Ziel der »Aperto« –, und so buchstäblich anrührend wie in diesem Jahr war die Ausstellung vielleicht noch nie. »May you live in interesting times« hatte Kurator Ralph Rugoff die Schau in dem zentralen Pavillon in den Giardini und dem Arsenal überschrieben – frommer Wunsch oder zynische Drohung? Dieses »Du« ist jedenfalls kein leeres Versprechen, sondern ernsthafte Aufforderung zum Dialog zwischen Kunst und Mensch.

Noch behauptet sich zwar hier und da die Unbedarftheit interaktiver Elemente: Im isländischen Pavillon darf man sich durch grellbunte Synthetikhaarhöhlen kuscheln (»Chromo Sapiens« von Hrafnhildur Arnardóttir), und im japanischen Pavillon versorgen erst die Besucher/innen via überdimensionierter Luftmatratze ein mechanisches Flötenquartett mit dem erforderlichen Luftdruck (»Cosmo-Eggs« von Motoyuki Shitamichi, Taro Yasuno, Toshiaki Ishikura und Fuminori Nousaku). Doch friedliche Werke sind rar, der Umgang wird rauer. Im israelischen Pavillon, dem »Field Hospital X« von Aya Ben Ron, wird man von vornherein als Patientin behandelt. Nach der »Aufnahme« und einer kurzen Schreitherapie in der schallisolierten Box geht es auf den Behandlungsstuhl zum Videoschauen: palästinensischer Widerstand, sexueller Missbrauch, Kinderhandel, Gewalt gegen transsexuelle Menschen.

Der israelische Pavillon ist nicht der einzige, bei dem man am Eingang gewarnt wird. Nicht immer geht es dabei um »sensitive content« – es gilt nicht nur, sich selbst zu schützen, sondern auch die Kunst, denn vielgestaltig sind die zierlichen Formen und zerbrechlichen Objekte in diesem Jahr. Bezaubernd im britischen Pavillon die Mädchenzimmer von Cathy Wilkes – dünnbeinige Frauentorsi, feine Gestelle, weiße Gaze, pergamentene Trockenblumen – und im Arsenal die archaischen Klänge der Keramikinstrumente von Tarek Atoui.

Kaum zufällig avancierten die beiden Werke des Pekinger Künstlerpaars Sun Yuan und Peng Yu zu Publikumsmagneten, da sie einen Industrieroboter (»Can’t help myself«) und einen Schlauch (»Dear«) wie unberechenbare Tiere vorführen. Eingekerkert in einen Plexiglaskubus verrichtet der Roboter wie ein Tanzbär seine nie endende Arbeit; mit einem riesigen Wischblatt kehrt und kehrt die künstliche Intelligenz, das dumme Ding, eine zähe rote Flüssigkeit zusammen, die umgehend wieder auseinanderfließt. Durch den Schlauch von »Dear«, der aus einem marmornen Thron herauswächst, wird in regelmäßigen Abständen 30 Sekunden lang Druckluft geschickt, sodass er wild durch die Luft schlägt – auch diese Skulptur in einem Glaskäfig, um die Besucherinnen und Besucher nicht zu gefährden.

»Can’t help myself« ist im internationalen Pavillon in den Giardini zu sehen, »Dear« in den Hallen des Arsenals – eine Neuerung des diesjährigen Kurators Ralph Rugoff, der alle Künstlerinnen und Künstler seiner zweigeteilten Schau auf doppelte Teilnahme verpflichtet hat; für jedes der Ausstellungsgelände mindestens ein Werk, bestenfalls eines, das im produktiven Widerspruch zum anderen steht.

»In einem Moment, in dem die digitale Verbreitung von Fake News und ›alternativen Fakten‹ den politischen Diskurs und das Vertrauen, von dem er abhängt, beeinträchtigt, lohnt es sich jedoch, nach Möglichkeit eine Pause einzulegen, um unsere Aufgabenstellungen zu überdenken«, schreibt Rugoff in seinem Mission Statement. Was nach Didaktik klingt, funktioniert: Beim zweiten Blick auf einen Künstler, eine Künstlerin – einen Tag später, an anderem Ort, in anderen Umständen – begreift man besser, warum da jemand Kunst macht und wie, entwickelt einen schärferen Blick für Materialien, Perspektiven, Handschriften.

Zhanna Kadyrova etwa baut Alltagsgegenstände als geflieste nach, mit irritierenden Effekten für die Wahrnehmung harter und weicher Materialien. In den Giardini hängen ihre bunten Kleider aus Fliesen (»Second Hand«), im Arsenal ist ihr naturgetreuer Markt zu sehen (»Market«), Obst, Gemüse, Schinken und Salami aus Fliesen. Die umgekehrte Variante davon verdankt man Christine und Margaret Wertheim und ihren gehäkelten Unterwasserlandschaften. Andra Ursuţa wiederum verwendet in den Giardini skelettierte menschliche Brustkörbe als Papierkörbe, im Arsenal stellt sie ihre Glasflaschen aus: seltsam dysfunktionale Behältnisse, die dekonstruierte Leiber darstellen, drinnen oft noch ein Pfützchen abgestandener Flüssigkeit.

Dass die Versicherung der gemeinsamen Werte, von der Rugoff spricht, beim menschlichen Körper und der Frage nach dessen Grenzen beginnt und endet, zeigt auch eine Reihe weiterer Werke, ebenfalls fast allesamt von Frauen oder Transgendern. Martine Gutierrez präsentiert zwei großformatige Fotostrecken: Porträts grotesk ausstaffierter Indigenen-Darstellerinnen und erotische Aufnahmen einer Frau, die mit lebensgroßen männlichen Barbiepuppen posiert. Ästhetische Recherchen über den Leib und dessen Perspektiven betreibt auch Lara Favaretto. In den Giardini vernebelt sie den Blick, im Arsenal zeigt sie fünf Abdrücke ihres eigenen Körpers bei einer Tätigkeit in Beton – »Blocking. Buffering. Dragging. Overburning. Sniffing« –, ein Katalog der Abwesenheiten. Teresa Margolles sucht nach Spuren vieler Leben, indem sie Szenerien imaginiert und Kulissen befragt. In den Giardini steht ein Stück Wand einer öffentlichen Schule in Ciudad Juárez (Mexiko), an der die organisierte Kriminalität vier Menschen hinrichten ließ; im Arsenal eine Installation mit drei Glasscheiben aus Ciudad Juárez, die in Abständen vibrieren, als führe eine U-Bahn im Untergrund vorbei, darauf kleben ein Dutzend Vermisstenanzeigen, die von verschwundenen Mädchen und Frauen zeugen. Nicht weniger schmerzhaft inszeniert Shilpa Gupta den Verlust. In einem Raum des Arsenals hängen 100 Mikrofone, unter jedem ein Ständer, darauf je ein Text aufgespießt. Die Mikrofone sind zu Lautsprechern geworden, aus ihnen flüstern Stimmen die jeweiligen Verse – riskante Texte aus vielen Jahrhunderten, die ihre Autorinnen und Autoren ins Gefängnis gebracht haben; »For, in your tongue, I cannot fit« heißt die Installation über die Gefährlichkeit der Literatur einst und jetzt. Laut und bedrohlich dagegen Guptas Werk in den Giardini: Ein metallenes Tor schlägt mit Schwung immer wieder gegen eine Wand des Raums, haut Kerben ins Mauerwerk.

Nicht selten stehen die Dinge auf dieser Biennale im Verdacht, ein gefährliches Eigenleben zu führen, doch vom Grotesken der heutigen Welt berichten vor allem jene Kunstwerke, die vom Menschen und seinem Körper erzählen. Und damit sind nicht die brasilianischen und Schweizer Tänzerinnen und Tänzer gemeint, die in den Medien bereits für Aufsehen sorgten – als würde die Kunstkritik hier zum ersten Mal mit Menschen konfrontiert, die sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen lassen. Gemeint sind Werke wie Ed Atkins Selbstporträts als Spinne und seine Videos von hemmungslos weinenden künstlichen Personen. Sowie die Menschenbilder – Fotografien, Gemälde, Skulpturen – von Njideka Akunyili Crosby, Michael Armitage, George Condo, Zanele Muholi, Jill Mulleady, Jon Rafman, Yin Xiuzhen, İnci Eviner, Frida Orupabo und vielen anderen. Herausragend hier Kaari Upsons Holzgebäude, das sich als überdimensioniertes Puppenhaus vorstellt, in dem – zu sehen auf Videos – zwei Frauen herumgeistern, deren Gesichter mit Gesichtern überschminkt wurden. Nicole Eisenman wiederum, von der in den Giardini hinreißende Gemälde zu sehen sind, zeigt im Arsenal ihre Studien männlicher Charakterköpfe (»King Head«, »The General«). Wie Erzählungen Körper formen ist auch im belgischen Pavillon zu erleben, wo Jos de Gruyter und Harald Thys ein weitläufiges Puppentheater veranstalten (»Mondo Cane«), das von Marionetten gewordenen Klischees und Volkslegenden bespielt wird. Sich selbst als Gliederpuppe präsentiert Mari Katayama. Sie besitzt einen Gendefekt, ihre linke Hand besteht aus zwei Daumen, in jungen Jahren wurden ihr beide Unterschenkel amputiert. Für ihre fotografischen Selbstporträts arrangiert sie sich in Zimmerlandschaften aus Stoffen und Prothesen als verlustreiche Sammlerin menschlicher Formen und Hüllen.

Die künstlerisch klügsten Kommentare der Gegenwart verdankt man in diesem Jahr Alexandra Bircken, die markerschütternde Skulpturen beigetragen hat. Im zentralen Pavillon in den Giardini sind ihr messerscharf mittig durchgesägtes Motorrad, ihr bronzener, bäuchlings liegender Frauentorso mit Schleifchen über dem geöffneten Anus (»Eva«) und die Plazenta hinter Glas (»Origin of the world«) zu sehen. Im Arsenal ein weiteres Motorrad, diesmal buchstäblich dekonstruiert, sowie das raumgreifende Werk »Eskalation«: Auf Leitern, an Balken, in Fensterrahmen hangeln sich Menschen in die Höhe – nein, keine Menschen, sondern schwarze Ganzkörperanzüge, die über Sprossen und Vorsprüngen erschlafft sind, als wäre kurz vor dem Erreichen des Höhepunkts etwas entwichen, die Luft, der Atem, die Seele. Das ist wunderschön und schaurig, ist Schock und schreckliche Erkenntnis – was vom Menschen bleibt, ist vielleicht nur die Erinnerung an sein irrwitziges Streben nach dem Metaphysischen, das früher oder später noch jedes Mal mit dem Tod geendet hat. Was bleibt, ist, wenn wir Glück haben, die Kunst.

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