Kennen Sie Fabrizio del Dongo? Der junge Mann irrt als Hauptfigur in einem Roman von Stendhal durch Europa, und zwar während der Schlacht von Waterloo. Er erlebt also eine Zeit, in der die Macht in Europa neu verteilt wird, und sich dadurch die Lebensbedingungen vieler Menschen verändern. Ihm aber ist völlig unklar, was passiert. Er hat nicht mal sein eigenes Schicksal im Griff.
Was das mit der Gegenwart zu tun hat? Vielen Menschen geht es heute wie Fabrizio. Auch wir überblicken kaum, welche Umbrüche zeitgleich passieren, selbst wenn erste Auswirkungen längst spürbar sind. Die Verteidigungsausgaben belasten die öffentlichen Haushalte. Die Digitalisierung, bahnbrechende Neuerungen im Verkehr, in der Medizin und bei der Energiegewinnung verändern die Industriestruktur – und auch schon unseren Alltag. Die Rückkehr der Geopolitik und die damit verbundenen Machtverschiebungen wirken auf die Demokratie. Und als ob das nicht reichen würde, kommen dazu noch das Artensterben und die Klimakrise.
Dem Wandel das Bedrohliche nehmen
In diesem bedrohlichen Knäuel aus Krisen und Veränderungen hat die Ampelregierung zunächst etwas sehr Richtiges getan: Sie hat versucht, dem Wandel das Bedrohliche zu nehmen. Durch eine »Transformation« sollte die Zukunft, oder wenigstens ein Teil davon, gestaltet werden. Der Kampf gegen die Klimakrise sollte für eine Erneuerung der industriellen Basis sorgen, zu mehr Jobs und mehr Wohlstand führen. Die Wirtschaft sollte unabhängiger vom volatilen Weltmarkt werden, resilienter, und die Politik dadurch mehr außenpolitischen Freiraum gewinnen. Innovationen sollten nicht nur den CO2-Ausstoß reduzieren, sondern auch die Lebensqualität erhalten. »Wenn wir diese Umbrüche gestalten, liegen auch große Chancen darin«, hatte der Koalitionsvertrag der Ampel versprochen und dass sie »eine neue Dynamik auslösen« wolle, »die in die gesamte Gesellschaft hineinwirkt«.
»Den Worten fehlt bis heute die Übersetzung ins politische Leben.«
Soweit die Worte. Leider nur fehlt es ihnen bis heute an der nötigen Übersetzung ins normale Leben. Niemand will gern »transformiert«, »dynamisiert« oder »modernisiert« werden. Um also aus der theoretischen Idee der Transformation des Landes gute Politik zu machen, hätte die Ampel viel schneller konkret werden müssen. Durch massive Investitionen in Infrastrukturen und Daseinsvorsorge, durch gute Gesetze und mitreißende Geschichten. Sie aber schrieb zwar »Fortschritt« über ihren Koalitionsvertrag, kann sich aber bis heute nicht darauf einigen, was das konkret bedeuten soll.
»Keine gemeinsame Analyse der ökonomischen und ökologischen Probleme, keine Konvergenz bei den Lösungen.«
Für die ersten Monate muss man ihr das sicher nachsehen. Da absorbierte der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine viel Kraft. Nur, spätestens als der Gaspreis wieder fiel, hätten SPD, Grüne und FDP gemeinsame Antworten auf ein paar sehr grundsätzliche Fragen finden müssen: Wie sehr muss der Staat die Transformation finanzieren und antreiben? Wie stark soll sich die Regierung in die Wirtschaftspolitik und in den Alltag der Menschen einmischen, wie konkret die neuen Pfade für die Mobilität oder die Energieversorgung der Zukunft vorzeichnen? Was soll sie einschränken, was fördern? Bis heute sind SPD, Grüne und FDP trotz nächtelanger Sitzungen nicht zu einer gemeinsamen Analyse der ökonomischen und ökologischen Probleme gekommen, geschweige denn zu einer Konvergenz bei den Lösungen. Man muss nur Verbrennerverbot, Heizungsgesetz oder Schuldenbremse nennen – und schon ist das ganze Elend dieser Koalition umrissen.
Als dann einzelne Kabinettsmitglieder begannen, die abstrakte Erzählung der »Transformation« in Politik und Gesetze zu übersetzen, krachte es nicht nur bei fast jedem Vorhaben, und das oft monatelang. Auch wenn schließlich Kompromisse gefunden wurden, verwirrten die oft nicht nur das Publikum, auch die Partner interpretierten sie bis heute jeder für sich unterschiedlich: Haben wir nun ein hartes Verbrennerverbot oder nicht? Lohnt es sich die Gasheizung schnell durch eine Wärmepumpe zu ersetzen? Hat Deutschland nun einen Sparhaushalt oder nicht?
Ein deutscher Sonderweg?
Das alles lässt wenig Gutes für die letzten zwölf Monate der Ampel hoffen. Zwar könnten sich große Teile von SPD und Grünen leicht darauf einigen, dass sich das Land in einer historisch einmaligen Situation befindet und sich jetzt entscheidet, ob und wie wir die Klimakrise halbwegs gebremst bekommen – oder eben nicht. Sie befürworten daher eine starke Rolle des Staates bei der Energiewende, mehr Klimaschutz und massive Investitionen in die Infrastruktur, selbst wenn das nur durch das Aussetzen der Schuldenbremse oder eine erneute Verkündung einer Haushaltsnotlage geht. Und sie sehen sich bestätigt durch Studien des IWF und der OECD, die den jährlichen Investitionsbedarf auf 400 bis 800 Milliarden Euro beziffern.
Doch die Ampel will im Jahr 2025 – großzügig gerechnet – gerade mal 100 Milliarden Euro investieren (aus dem Klima- und Transformationsfonds und dem Haushalt). Das klingt viel, ist aber nur zwischen einem Viertel und einen Achtel der Summe, die internationale Institutionen empfehlen. Kaum ein Ökonom aus dem Ausland versteht das noch. »Irrsinnig« nennt Martin Wolf, Chef-Kolumnist der Financial Times die Schuldenbremse, »töricht« die »deutsche Verachtung« von Schulden, und er verweist darauf, dass der Anteil der öffentlichen Investitionen geringer ist als in allen anderen bedeutenden Volkswirtschaften – ausgenommen Spanien.
Der eine, sehr offensichtliche Grund für diesen deutschen Sonderweg ist die FDP, eine Partei, in der viele die Klimakrise immer noch nicht ernst nehmen, die außer der Schuldenbremse wenig anderes ihres Markenkerns pflegt, und in der bis heute eine verblüffende Marktgläubigkeit herrscht. Doch es gibt einen weiteren: Bundeskanzler Olaf Scholz. Der hat sich in der Finanzpolitik immer eher aufseiten der FDP geschlagen, weder die Schuldenbremse kritisiert, noch die Art und Weise wie Finanzminister Christian Lindner besonders Singles und Paare ohne Kinder entlastet – und sogar in Kauf genommen, dass die Sozialdemokratie bei ihrem Kernanliegen nicht liefern kann: bei der Reduzierung der Ungleichheit. »Wenn ich mir angucke, wie sich die Vermögensverteilung in Deutschland in den letzten Jahren entwickelt hat, ist das nicht gerecht«, gibt selbst der eher konservative sozialdemokratische Haushälter Achim Post zu.
Es ist ja auch zu offensichtlich: Zwar gab es auch in den ersten drei Ampeljahren durchaus Bemühungen, etwas für Leute mit kleinem Geld zu tun (beim Mindestlohn, der Rente, beim Bürgergeld und Kinderzuschlag). Dennoch nehmen viele fundamentale Ungleichheiten nicht ab: beim Zugang zu Bildung, zu Infrastruktur (zwischen Stadt und Land), bei der Vermögensverteilung, bei der Generationengerechtigkeit – und auch wenn es um die Verteilung der Kosten der Transformation geht.
»Ein grundsätzlicher Richtungswechsel der Ampel ist höchst unwahrscheinlich.«
Das hat Folgen – direkt für die betroffenen Menschen und indirekt für die SPD. Nicht nur wird die Partei seltener gewählt. Sie sieht sich auch noch zunehmend vom Bündnis Sahra Wagenknecht und der AfD in die Zange genommen. Spätestens in diesem Herbst wird daher die Unzufriedenheit in der SPD lauter werden, und während der Haushaltverhandlungen des Bundestages für Streit in Partei und Fraktion sorgen. Ein grundsätzlicher Richtungswechsel der Ampel, der dann auch die Transformation zu dem ökosozialen Vorzeigeprojekt machen könnte, ist allerdings höchst unwahrscheinlich. Denn das würde einen anderen Kanzlerkandidaten voraussetzen, und das obwohl Scholz seine erneute Kandidatur vor der Sommerpause noch schnell bekräftigt hat. Und auch das Postulat: Es sei »die Lehre und die Einsicht in der ganzen SPD: Wir bleiben geschlossen und verfolgen unseren [also seinen, P.P.) Kurs«, wie der Kanzler in der Sommer-Pressekonferenz formulierte.
Dabei trennt Olaf Scholz nicht nur der Blick auf die Finanzpolitik von Teilen seiner Partei, sondern auch der auf die Gesellschaft. Die Klimakrise macht das sehr deutlich: Die ist für ihn bis heute eher keine gesellschaftspolitische Frage, sondern mehr ein technisches Problem, das vor allem in der Wirtschaft gelöst werden muss. Und von deren Problemen man die Menschen weitgehend verschonen muss. Das Wärmepumpendesaster hat diese Haltung eher noch verstärkt: Gesellschaft verändern? Das gehört ins vergangene Jahrhundert. Bis heute hat Scholz daher weder eine partizipative Strategie der Transformation entwickelt, noch ausreichend Worte gefunden, um den Leuten die Angst vor dem Wandel zu nehmen.
Stellen wir uns kurz einmal vor, der Kanzler hätte stattdessen die Wärmewende frühzeitig als das Projekt erkannt, mit dem Deutschland es sich selbst und anderen beweist und Putin die lange Nase zeigt. Das das Heizen billiger, sauberer, und sicherer macht. Damit die Nation wieder weltweit für ihre Klimapolitik bewundert wird. Das zeigt, dass Transformation fair und partizipativ geht. Doch statt so ein ökosoziales Vorzeigeprojekt groß zu machen, hat Scholz den Grünen Robert Habeck im Regen stehen lassen und zugesehen, wie der Boulevard hetzte. Heute gewinnt die AfD Stimmen mit dem Slogan: »Keine Heizung ist illegal.« Was für ein Irrsinn.
Heute, im Spätsommer 2024 und ein Jahr nach dem Pumpendesaster ist dreierlei klar: Erstens wird das letzte Jahr dieser Regierung mindestens so zäh wie die drei vorherigen, denn im Wahlkampf werden alle Parteien das Trennende noch stärker als bisher betonen. Zweitens wird der Kanzler nicht müde werden, darauf zu verweisen, dass Medien und Öffentlichkeit nur mal besser hinschauen müssen, um die Erfolge seiner Politik zu sehen. Und drittens hat die Ampel, bei der Transformation, vorsichtig formuliert, verbrannte Erde hinterlassen. Viel zu viele Menschen begreifen sie heute nicht mehr als eine Möglichkeit, die Zukunft sicherer zu machen. Sondern sie fürchten sich davor.
Umbau gerecht gestalten
Womit wir beim größten Versagen dieser Fortschrittskoalition sind, das sich im Wahljahr zeigen wird: die intellektuelle Leere – wenn es um die sozialen Aspekte des Wandels geht. Sie hat es nicht geschafft, überzeugend zu demonstrieren, wie der größte Umbau des Landes seit der industriellen Revolution gerecht gestaltet werden kann. Weder hat sie ein Klimageld eingeführt, das die Geringverdienenden von steigenden CO2-Preisen entlasten könnte. Noch hat sie dafür gesorgt, dass die Wärmewende als etwas begriffen wird, bei dem die Lasten gerecht verteilt sind, oder die Verkehrswende als ein Projekt, das sinnvoll, machbar und finanzierbar ist. Es gibt bis heute nicht mal genug E-Tankstellen.
»Aus der Transformation ist keine gute Geschichte einer fairen Modernisierung geworden.«
Im Wahljahr werden daher Sozialdemokraten und Grüne je eine offene Flanke in ihrer Argumentation haben: Eine ökologische – und eine soziale. Denn Deutschland schützt das Klima auch nach vier Ampeljahren nicht ausreichend. Und aus der Transformation ist keine gute Geschichte einer fairen Modernisierung geworden. Das ist besonders bitter, weil die Erzählung über die Zukunft in der Politik mindestens so wichtig ist wie die Gegenwart. Oder anders formuliert: Wer wählt, will sich nicht dafür bedanken, dass es heute vielleicht noch gut geht – sondern will wissen, dass es morgen und übermorgen mit der nächsten Regierung vielleicht anders, aber nicht sehr viel schlechter sein wird. Dass die nächste Regierung die Zukunft gut vorbereitet. Und Krisen in Chancen verwandelt.
Die Ampelparteien hatten das im Koalitionsvertrag versprochen. Heute können sie damit nicht mehr sehr überzeugend argumentieren.
Kommentare (1)
Uwe Giffei
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