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© picture alliance / Sergey Nivens/Shotshop | Sergey Nivens

Wie der Moralismus die Demokratie gefährdet Offene Gesellschaften müssen offen bleiben

Bereits seit mehr als zehn Jahren wird der langanhaltende Aufwärtstrend bei der Demokratisierung in den OECD- oder EU-Staaten gebrochen. Die Trendumkehr vollzog sich 2008 inmitten der Finanzkrise. Von diesem konkreten Ereignis darf allerdings nicht kausal auf die Erosion der Demokratie geschlossen werden. Die Ursachen liegen tiefer, sind vielfältiger. Die Statistik zeigt den Abwärtstrend nicht nur als Durchschnittswert für die gesamte EU oder OECD, sondern für fast alle ihre Mitgliedsländer, Deutschland eingeschlossen. Nur ganz wenige Länder wie Dänemark erwiesen sich als resilient gegenüber der allgemeinen Demokratieerosion (abzulesen am wissenschaftlich renommiertesten Demokratieindex von »Varieties of Democracy«: V‑Dem). Symptomatisch für unsere Debatten heute ist, dass wir kaum mehr über die »Demokratisierung der Demokratie« reden, schreiben und diskutieren. Wir reden nun über die »Krise der Demokratie«, darüber »wie Demokratien sterben«, den »Niedergang« oder die »Resilienz der Demokratie« und wie sie gestärkt werden könne.

Wirft man einen genaueren Blick in die Qualitätsanalysen der Demokratie, zeigen sich zwei wiederkehrende Muster. Ein Qualitätsverfall wird weniger den Wahlkampagnen, Wahlen und dem politischen Wettbewerb attestiert. Vielmehr sind es vor allem die spezifisch liberalen und rechtsstaatlichen Elemente, die von den Verächtern und bisweilen auch von den Verteidigern der Demokratie beschädigt werden.

Zum anderen werden die politische und gesellschaftliche Polarisierung als die gegenwärtig am stärksten grassierenden Krankheiten der Demokratie herausgefiltert. Unsere Gesellschaften zerteilen sich, wirtschaftlich, sozial, kulturell, diskursiv. Subkulturen schließen sich ab. Wie in der physischen Infrastruktur des Landes bröckeln auch die kulturellen und kommunikativen Brücken zwischen den Teilkulturen, falls sie je solide gebaut wurden. Aber auch die Mehrheitsgesellschaft zieht die Zugbrücken hoch. Der gesellschaftliche Kitt vertrocknet. Die Gemeinschaft und der Sinn für die solidarische Zugehörigkeit zu Land, Staat und Gesellschaft verblassen.

Nun ist es ebenso richtig wie banal, für die Polarisierung der Gesellschaft vor allem die Rechte, insbesondere die Rechtspopulisten verantwortlich zu machen. Von der Kritik an ihnen dürfen wir schon der Demokratie wegen nicht ablassen. Problematisch ist es aber, wenn wir uns selbst von der Kritik aussparen und bequem in der neuen Begrifflichkeit der »asymmetrischen Polarisierung« einrichten. Das schiebt die Schuld stets den anderen zu und schützt uns vor den Mühen der Selbstreflexion. Selbstgerechtigkeit ist die Folge. Hier stehen wir, die Guten, die Aufrechten, die Linksliberalen, dort sind die Schlechten, die Rechtspopulisten, welche sowohl Minderheiten (Migrant/innen) als auch Mehrheiten (Frauen) diskriminieren.

Wenn dann noch die von uns gezogenen roten Linien von der Gegenseite überschritten werden, entlasten wir uns gerne der weiteren Mühen der Ebene, überhaupt noch einen Diskurs zu führen. Warum sollten wir denn auch? Wir sind doch offensichtlich im Besitz der richtigen Moral. Wer dies nicht sehen will, gehört nicht mehr zum Lager der Demokraten, der Aufrechten und Hüter der Wahrheit, die immer nur die eine, nämlich die unsere sein kann. Der ganze Rest besteht aus Fakenews, alternativen Fakten.

Die diskursive Welt zerfällt in zwei Lager, dazwischen ist Niemandsland. Lagerzuordnung wird verlangt. Es geht mir nicht darum, eine Lanze für Grautöne zu brechen. Schon gar nicht um die Akzeptanz von Nationalismus, Rassismus, Homophobie und Misogynie. Die darf es nicht geben. Was aber sind Rassismus, Homo-, Trans- und andere Phobien, wo beginnt Sexismus, was fällt unter Meinungsfreiheit, was ist Diskriminierung? Und wer definiert das eigentlich? Etwa die Gebildeten, kognitiv Kompetenten, die linksliberalen Diskurswächter, die die Meinung der diskursiv Herrschenden zur dominierenden Meinung erheben?

Ich hege keinen Zweifel, der Kampf gegen Diskriminierung, für Gerechtigkeit und Respekt ist den Wertvorstellungen der Rechten ethisch überlegen. Das Problem scheint mir, dass »wir« die roten Linien immer weiter in die Mitte verschieben. Das verengt zum einen den öffentlichen Raum der Meinungsäußerung und der legitimen kontroversen Debatte. Zum anderen drohen viele ins Lager der »Leugner« oder nicht Respektwürdigen abgeschoben zu werden, die etwa zweifeln, dass wir nur noch wenige Jahre haben, um die kaskadierenden Kipppunkte der globalen Erderwärmung zu verhindern, die ihre Arbeitsplätze in der fossilen Energieproduktion verteidigen, die argumentieren, dass es für das Weltklima keinen Unterschied macht, ob Deutschland 2030 oder 2038 aus der Braunkohle aussteigt, die die Allgemeinverträglichkeit der Zero-COVID-Strategie bestreiten oder auch nur für das tradierte Familienbild werben. Noch einmal: Das sind nicht meine Positionen. Der Umgang mit diesen aber behagt dem Demokratieforscher in mir ganz und gar nicht.

Zwei Thesen möchte ich deshalb vortragen und versuchen zu rechtfertigen: Erstens, wir haben die linksliberale Moral teilweise in einen Moralismus verwandelt und damit die ursprünglich asymmetrische von rechts betriebene Polarisierung in eine symmetrische Rechts-links-Polarisierung transformiert; zweitens, unser Mangel an selbstreflexiver »Kritik der kritischen Kritik« droht dann in Ignoranz, Intoleranz und Arroganz zu kippen, wenn wir uns stets auf der richtigen Seite sehen und unsere eigenen Positionen nicht mehr hinterfragen, sondern moralistisch immunisieren. Daraus entsteht nicht selten ein ungeduldiger Illiberalismus.

Von der Moral zur Moralisierung

Moralismus ist ein umkämpfter Begriff. Zunächst sollte er von Moral unterschieden werden. Moral, abgeleitet vom lateinischen mores (Sitten, Gebräuche) oder moralis (sittlich) bedeutet deskriptiv eine Sammlung von Sitten, Konventionen und Erwartungen, die »gute Sitte« sind und das abdecken, was »sich schickt«. Moral hilft uns mit unserer Freiheit umzugehen, die Triebe zu kanalisieren, sie in die Gemeinschaft der Freien einzubetten und in ihr zu leben. Politische Moral ist innerhalb von Demokratien in Menschen- und Freiheitsrechten kodifiziert. Sie manifestiert sich in Gleichheits- und Gerechtigkeitsnormen. Moral zeigt sich aber auch in den nicht kodifizierten gesellschaftlichen Werten wie Toleranz, Respekt und Solidarität. Ohne Moral keine Demokratie.

Moralismus ist etwas anderes. Auf diesen kann die Demokratie getrost verzichten. Moralismus ist eine selbstgerechte Stilisierung der eigenen moralischen Position. Sie ist eine Spielart des Egozentrismus, eine »moralische Ostentation«, die auf den Anspruch der eigenen moralischen Überlegenheit verweist, wie das die beiden Philosophen Christian Neuhäuser und Christian Seidel jüngst in ihrem lesenswerten Suhrkamp-Band Kritik des Moralismus präzisierten. Strategisch eingesetzt dient sie der Ausgrenzung anderer, per definitionem unmoralischer Positionen. Das moralistische Argument wird nicht in der Sache formuliert, sondern ad personam gerichtet. Es geht darum, eine vermeintlich unmoralisch argumentierende Person aus dem legitimen Diskurs auszuschließen. Das kann, wie beschrieben, viele treffen. Da braucht man nicht erst den von Menschen gemachten Klimawandel oder die Existenz von COVID-19 leugnen. Schon, wer daran zweifelt, dass Deutschland wirklich relevant zur Begrenzung der globalen Klimakrise beitragen kann, ist für manche kein rationales, sondern ein verkommenes Subjekt. Ein anderes Beispiel kommt aus der Corona-Diskussion. Darin geht es immer wieder um die schwierige Abwägung zwischen dem Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG und den klassischen Freiheitsrechten aus den Artikeln 4, 8, 11 und 12.

Wenn aber jemand unter Verweis auf die klassischen Freiheitsrechte oder den »schwedischen Weg« den kardinalen Satz von Art. 2, Abs. 2 (»Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit«) nicht als das alles überragende Grundrecht akzeptierte, handelte er/sie sich den Vorwurf ein, Leben aufs Spiel zu setzen und damit unmoralisch zu argumentieren. Künstler, die sich der Kunst bedienten, um mit der Aktion »Alles Dichtmachen« die Regierungspolitik des Lockdowns zu kritisieren, wurden gerade von den liberalen Medien als unverantwortlich, unseriös und unmoralisch angegriffen.

»Moralisierungsüberschuss« nennt Peter Strohschneider, der langjährige Vorsitzende des deutschen Wissenschaftsrats und der DFG dies und anderes. Ein solcher wird auch deutlich im gesellschaftlichen, medialen und politischen Umgang mit den sogenannten Querdenkern. Der Name war schnell gefunden: Coronaleugner, das Analogon zum Klimaleugner. Den Argumenten dieser Gruppen, gleichgültig ob sie aus rechten, esoterischen, anthroposophischen, libertären, religiösen, hippiesken oder anderen irrationalen Quellen kommen, kann ich nicht das Geringste abgewinnen. Manche Gruppen verdienen eher ein therapeutisches Gespräch angesichts des hanebüchenen Unsinns, den sie verzapfen. Dennoch halte ich den unterschiedslos eingeschliffenen Umgang mit ihnen für intolerant, wenig demokratisch und politisch unklug.

Mit Lügnern und Leugnern kann man, ja soll man nicht reden. Sie werden erst diskursiv, dann gesellschaftlich und schließlich politisch ausgegrenzt. Dadurch werden Menschen in eine neu entstehende antisystemische Subkultur abgedrängt oder gar der Rechten in die Fänge getrieben. Die AfD reibt sich die Hände. Demokratie verlangt aber nach Debatte, nach der »Freiheit der Andersdenkenden« (Rosa Luxemburg) oder eben dem »eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes« (Jürgen Habermas). Demokratie verlangt Inklusion, nicht Exklusion.

Der Moralismus schleust eine problematische Binarität in den politischen Diskurs. Die binären Codes lauten: Facts or Fake, Wahrheit oder Lüge, legitim oder illegitim, Moral oder Unmoral. Abweichende politische, wissenschaftliche oder auch moralische Positionen werden als Zumutung aufgefasst – auf beiden Seiten. Diese Transformation der politischen Kommunikation gießt die Konflikte um in die Narrativform des Freund-Feind-Denkens. Dabei sind es nicht nur die rechten Verehrer Carl Schmitts, die dies als die Essenz des Politischen begreifen. Es sind auch, meist unbeabsichtigt, linksliberale Strömungen, die solch diskursive Ausgrenzung als ihre moralische Pflicht begreifen. Der Versuch beider Seiten, mit ihrem je partikularen Moralismus komplexe moderne Gesellschaften auf Kurs zu bringen, kommt seltsam unmodern daher.

Linksliberaler Illiberalismus?

Die Überzeugung, den Klimawandel und die COVID-19-Pandemie mithilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse zu bekämpfen, wird mit Recht von allen demokratischen Parteien vertreten, mit Ausnahme der AfD. Das Gleiche gilt für rassistische Entgleisungen und homophobe Intoleranz. Schwierig wird es aber bei der Debatte um Universalismus und partikulare Sonderrechte von Minderheiten, die meist eine gutorganisierte Stimme haben und leicht mediale Verstärkung finden.

Noch problematischer wird es, wenn sich in der Selbstzuschreibung »linke« Gruppen auf den Universitätscampi der westlichen Welt advokatorisch beleidigt, diskriminiert und verletzt »fühlen«, Professoren zum Rücktritt zwingen und dissentierende Vorträge verhindern. Auch formalisierte Sprachregelungen durch Universitätsführungen und deren Berücksichtigung bei Klausurbewertungen in Österreich, Deutschland und manch angelsächsischen Universitäten sind keineswegs Seltenheit. Liberal sind sie jedenfalls nicht.

Auch außerhalb der Universitäten dehnt sich ein ungeduldiger Illiberalismus unter den Linksliberalen aus. Rechte Bewegungen, Parteien, Parteiflügel oder selbsternannte Querdenker sollen vom Verfassungsschutz beobachtet und von der Exekutive verboten werden. Das erinnert an den Radikalenerlass, der in den 70er Jahren »suspekten Linken« den Zugang zum öffentlichen Dienst versperrte. Dieses Mal geht es gegen »suspekte Rechte«. Ist es deshalb besser? Der Begriff der wehrhaften Demokratie jedenfalls vermag dies weder zu nobilitieren noch zu legitimieren. Offene Gesellschaften müssen offenbleiben. Das Argument und vor allem eine faire respektvolle Politik sollen überzeugen. Ihre Wehrhaftigkeit erzeugt die Demokratie durch Überzeugung und Fairness nicht durch Verbot und Repression.

Illiberale Maßnahmen gefährden die liberale Demokratie, auch wenn sie von linken Liberalen in guter Absicht vorgeschlagen werden. Beobachtung, Verbot und Repression dürfen stets nur die Ultima Ratio sein. Sie mögen für die Reichsbürger und Höckes dieser Republik taugen, für unliebsame akademische Dissidenz, esoterische Impfverweigerer, verblendete Corona- oder Klimaleugner taugen sie nicht. Toleranz tut stets auch weh. Geben wir sie auf, transformieren wir die »asymmetrische« in eine »symmetrische« Polarisierung.

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