1966 trat Ernst Ulrich von Weizsäcker der SPD bei. Er promovierte in Biologie, wurde 1972 zum ordentlichen Professor der Biologie berufen und 1975 zum Präsidenten der Universität Kassel. Anschließend ging er als Direktor am UNO-Zentrum für Wissenschaft und Technologie nach New York. Von 1991 bis 2000 war er Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Während seiner Zeit als Mitglied des Deutschen Bundestages (1998 bis 2005) war er Vorsitzender des Umweltausschusses und von 2012 bis 2018 Co-Präsident des Club of Rome. Über die aktuellen Herausforderungen in der Umweltpolitik und die Positionierung der SPD in diesem Bereich sprach Thomas Meyer mit ihm.
NG FH: Herr Weizsäcker, neben Hermann Scheer, der 2010 starb, Erhard Eppler, der im Oktober verstorben ist, und wenigen anderen sind Sie einer der maßgeblichen Vordenker der SPD beim Thema Ökologie. Zunächst vielleicht die Frage: Was war die Botschaft Epplers, was hat er bewirkt?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Zum einen hat er auf dem berühmten IG-Metall-Kongress »Aufgabe Zukunft: Qualität des Lebens« in Oberhausen im April 1972 die Gewerkschaften erst für das Thema Umwelt sensibilisiert. Die waren da lange Zeit sehr skeptisch. Statt immer nur über die Schadstoffbekämpfung zu sprechen, hat Eppler zudem die Auswirkungen auf die Lebensqualität in den Diskurs eingeführt. Darüber hinaus hat er mich vor ein paar Monaten angesprochen, dass die SPD unbedingt wieder das Thema Frieden auf die Agenda setzen muss, weil nach der Kündigung des Mittelstreckenraketenabkommens durch Donald Trump ein neuer Rüstungswettlauf begonnen hat. Das heißt, dass Frieden für ihn auch immer ein Riesenthema war.
NG FH: Sie haben 2010 Ihr Buch Faktor Fünf: Die Formel für nachhaltiges Wachstum veröffentlicht. Es enthält ein umfassendes umweltpolitisches Programm, mit wissenschaftlichen Begründungen und politischen Perspektiven. Welche Impulse hat das Buch innerhalb und außerhalb der SPD gesetzt und eventuell geprägt?
Weizsäcker: Es hat das Denken beeinflusst, insbesondere auf internationaler Ebene. Als ich etwa kürzlich in Genf beim World Resources Forum war, sprachen alle davon, dass auch das Fünf- oder Zehnfache der Energie- und der Ressourcenproduktivität von heute technisch ohne Weiteres möglich sei. Aber man weiß auch, dass zum Beispiel die Umrüstung eines Hauses in ein Passivhaus ökonomisch nicht sonderlich interessant ist, solange die Politik dafür sorgen möchte, dass Energie und Material möglichst billig sind. Die Heizkosten sind dann nämlich im Verhältnis zu den Umbaukosten relativ niedrig. Eine Sache aber, die ich ins Gespräch gebracht habe, hat bisher noch kaum eine Wirkung gezeigt. Der Vorschlag war, dass man doch am Ende eines jeden Jahres die Energie um gerade so viel teurer machen möge, wie die Energieeffizienz im abgelaufenen Jahr Fortschritte gemacht hat. Die Idee ist, dass man auch im neuen Jahr trotz verteuertem CO2 oder verteuerter Energie nicht mehr bezahlt, weil im Durchschnitt ja die Effizienz gestiegen ist. Dann kann man immer noch einen Sozialtarif einführen, damit die ärmeren Familien nicht darunter leiden, dass die reicheren effizienter werden.
Dieses könnte, über Jahrzehnte gesehen, dazu führen, dass man bei sehr hohem Wohlstand vollkommen klimaneutral leben kann und nicht die ganzen Kohorten von der AfD und anderen plötzlich gegen sich hat.
NG FH: Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, lautete eine These in Ihrem Buch, dass der entscheidende Impuls für eine Sicherung der Umwelt durch ein verändertes Bewusstsein und das Handeln von Menschen und Unternehmen kommen müsse und weniger von der Politik.
Weizsäcker: Nein, das habe ich so nicht formuliert. Ich finde es ungeheuer wichtig, dass der Staat handelt um die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass der Einzelne, die Familie und die Industrie nicht Geld verlieren, wenn sie das Richtige tun. Heute haben wir ja das Problem, dass in den meisten Ländern ein neues Kraftwerk wie eine Lizenz zum Gelddrucken ist. Also wird das nach wie vor gemacht. Erst wenn man den Rahmen so korrigiert, dass die guten Taten lukrativ sind und die negativen Taten zu Verlusten führen, dann hat man wirklich eine Chance, dass alle mitmachen.
NG FH: Ist es denkbar, dass die Politik, die Parteien von sich aus das ökologisch Richtige konsequent genug umsetzen ohne den Impuls von außen durch eine aktive Umweltbewegung wie aktuell »Fridays for Future«? Oder muss nicht immer ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Mobilisierung dahinterstehen?
Weizsäcker: Ich bin ziemlich sicher, dass es ohne eine gesellschaftliche Bewegung nicht funktioniert. Denn dann geht es nämlich oft nur darum, dass alles billiger wird und das ist meistens das Gegenteil von Umweltschutz. Erst seit Greta Thunberg und viele Schülerinnen und Schüler weltweit protestieren, streiken und sich sichtbar machen, ist die Politik, die vorher geschlafen hat, in einigen Ländern aufgewacht.
NG FH: Können Sie einschätzen, ob mit der zunehmenden Gefährdung der Umwelt diese Bewegung mobilisiert bleibt, oder flaut das wie in den letzten Jahrzehnten auch wieder ab?
Weizsäcker: Wissenschaft fördert ja immer wieder neue Erkenntnisse zutage und dann kommt meist auch die Aufregung wieder. Das ist ja gerade die Aufgabe von »Scientists for Future«, einer Initiative von vielen tausend Wissenschaftlern, zu denen ich auch gehöre, die die streikenden Schülerinnen und Schüler unterstützen. Ich befürchte, dass die Nachrichten in Zukunft immer schlimmer werden. Beim klassischen Umweltschutz war das ganz anders, denn da konnte man ein Problem etwa durch Schadstoffkontrolle mit Emissionsschutzgesetzen innerhalb von einem Jahrzehnt im Wesentlichen lösen.
Beim Klima hat man es dagegen mit einem Horizont von 100 Jahren zu tun und die Auswirkungen sind nicht heute, nicht morgen, sondern tendenziell übermorgen spürbar. Da muss die Wissenschaft nachhelfen, weil die Natur (glücklicherweise) etwas träge ist. Die Ausnahmejahre waren 2018 und 2019, als die Menschen plötzlich gemerkt haben, dass der Klimawandel auch uns weh tut und nicht erst den Enkelgenerationen. In Schweden gab es 2018 zum Beispiel die größten Waldbrände seit 100 Jahren und Greta Thunberg hat mir gesagt, wenn sie 2017 angefangen hätte zu streiken, hätten alle sie für verrückt erklärt. 2018 aber war auf einmal ganz Schweden auf ihrer Seite. Es ist also leider manchmal nötig, dass wir das Problem erst auf der eigenen Haut zu spüren bekommen.
NG FH: Ist denn das jetzt verabschiedete Klimapaket der Großen Koalition ein wirksamer Schritt in die richtige Richtung?
Weizsäcker: Ich fürchte, dass es unter praktischen Politikgesichtspunkten das Beste ist, was wir kriegen konnten. Denn zur ganzen Wahrheit gehören eben auch die Wahlergebnisse in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, wo die explizite Antiklimapartei AfD die Anzahl ihrer Stimmen verdoppeln konnte. Die Koalitionäre in Berlin haben dadurch natürlich kalte Füße bekommen. Denn wenn man solche Ergebnisse auch auf der Bundesebene bekommt, wird Deutschland unregierbar und Klimaschutz erst recht erschwert. Hinsichtlich der Schwerpunktsetzung auf den unmittelbaren Wohlstand ist das Klimapaket gar nicht so schlecht. Dass Fliegen teurer und Bahnfahren billiger werden muss, dass CO2-Emissionen etwas kosten müssen – und zwar anfangs weniger und später mehr –, das sind vernünftige Ansätze. Aber das wird noch nicht einmal ausreichen, um auch nur die selbstgesteckten Klimaschutzziele Deutschlands zu erreichen.
NG FH: In Ländern wie den USA, der wichtigsten Wirtschaftsnation, oder Brasilien, dem größten Land Südamerikas, sind Klimaleugner an der Macht. Ist ohne diese Länder eine wirksame Umweltpolitik im globalen Maßstab überhaupt realistisch machbar?
Weizsäcker: Ja, wenn man es im Sinne von Faktor Fünf schafft, eine äußerst profitable Umwelttechnologiegeneration aufzubauen. Dann wird auch die Wall Street aufwachen und denken: Um Gottes Willen, die Deutschen, die anderen Europäer und die Japaner und Chinesen rennen uns ja davon. Wenn dann die Wall Street anfängt zu rebellieren, dann kann das selbst das Weiße Haus nicht mehr stoppen.
NG FH: Worin sehen Sie die Haupthindernisse für die ziemlich zögerliche Umweltpolitik hierzulande, aber auch in anderen Ländern? Welche Faktoren sind da wirksam?
Weizsäcker: Ich sehe eine gewisse Trägheit und einen gewissen Zorn auf disruptive Veränderungen, wie er aus Amerika zu uns rüberschwappt. Und dann wollen die Leute, dass möglichst alles so bleibt wie es ist und nichts verändert wird. Das hat mit Psychologie zu tun. Aber durch eine glaubwürdige Bürgerbewegung wie etwa »Fridays for Future« kann man da auch etwas verändern.
NG FH: Dann ist also die Bürgerbewegung der Hauptfaktor für die Mobilisierung und für ein gewisses Tempo.
Weizsäcker: Ja.
NG FH: Wie viel Zeit haben wir denn überhaupt noch, um die Weichen so zu stellen, dass am Ende nicht das Schlimmste eintritt?
Weizsäcker: So gemütlich wie wir es uns in den 90er Jahren gemacht haben, funktioniert es heutzutage nicht mehr. Es ist einfach schon so viel kaputt gegangen. Andererseits gab es auch die kleine Eiszeit im Mittelalter, fürchterliche Vulkanausbrüche und die Sintflut vor vielleicht 7.000 Jahren, und auch das hat die Menschheit überlebt. Ich würde also sagen: Um eine erträgliche Klimasituation herbeizuführen, haben wir durchaus noch Zeit, aber wir müssen uns sputen.
NG FH: Viele Menschen, darunter auch viele in Deutschland sind der Meinung, dass das Elektroauto ein ganz wichtiger Teil der Lösung sei. So investiert China beispielsweise im Moment zunehmend in diese Technik. An dieser Einstellung gibt es aber auch Kritik. So wird zum Beispiel auch über andere Lösungen diskutiert.
Weizsäcker: Das Elektroauto ist gut für die Luftqualität. Das fasziniert vor allem die Chinesen. Fürs Klima ist es gut, wenn der Strom aus erneuerbaren Energien kommt. Aber China beginnt schon umzudenken. Ich las neulich einen Artikel von vier ziemlich prominenten chinesischen Autoren, dass das Elektroauto höchstens die zweitbeste Lösung sei und man eigentlich auf Wasserstoff umsteigen müsse. In Deutschland wird die Diskussion aus verschiedenen Richtungen befeuert. Da ist die Automobilzuliefererindustrie, die mit dem Verbrennungsmotor groß geworden ist. Dort hat man nun Sorge um die Arbeitsplätze. Dann gibt es ein paar ökologische Bedenken hinsichtlich der Knappheit von Lithium und anderen Metallen, die für die Batterien der E-Autos notwendig sind. Und schließlich gibt es Leute, die technologisch argumentieren, dass die Wasserstoffbrennstoffzelle oder eine Methan- oder Methanolmobilität doch eigentlich konventioneller und zugleich günstiger und praktischer wäre. Andererseits gibt es einen mobilitätsunabhängigen Elektrifizierungstrend weltweit und Deutschland kann es sich auch nicht leisten, die Batterieentwicklung und die Elektrotechnologie zu vernachlässigen. Es gab ja auch schon Jahrzehnte, in denen Deutschland in der Elektroindustrie führend war.
NG FH: Ist das dann eher eine Zwischenlösung?
Weizsäcker: Ja, natürlich, aber nicht unbedingt gleich flächendeckend. Dennoch halte ich die Wasserstoff- oder Methanbrennstoffzelle noch für plausibler.
NG FH: Welche großen Schritte für eine vernünftige Umweltpolitik müssen denn jetzt als nächstes getan werden, bundes- wie parteipolitisch? Was müsste zum Beispiel die SPD tun? Sie sind ja selbst bei der Erarbeitung des Berliner Programms von 1989 dabei gewesen, was noch unter der Leitung von Willy Brandt und der tatkräftigen Mitwirkung von Erhard Eppler entstanden ist. Hat nicht damals schon so eine Art ökologische Wende auf politischer Ebene stattgefunden?
Weizsäcker: Ja.
NG FH: Das ist aber seither im Grunde vollkommen in den Hintergrund gerückt, hat im öffentlichen Erscheinungsbild der SPD und auch im eigenen Selbstverständnis gar keine Rolle mehr gespielt. Was müsste denn passieren, damit man innerhalb und außerhalb der SPD zu dem Schluss kommt: Ja, das ist auch eine ökologische Partei?
Weizsäcker: Zunächst einmal sollte sich möglichst jedes Parteimitglied zum Beispiel eine Umfrage von Mitte Juni 2019 zu Herzen nehmen. Beim ARD-DeutschlandTrend wurden damals Bürgerinnen und Bürger gefragt, welche Partei aktuell die besten Antworten auf die Fragen der Zukunft hat. 27 % nannten hier die Grünen, 12 % die CDU/CSU. Die SPD kam gerade einmal auf 2 %, was natürlich eine Katastrophe auch für die Zukunft der Partei ist. Wenn man sich dieses Ergebnis einmal richtig klar macht, dann wird man schließlich erkennen, dass wir uns viel mehr um die großen Fragen der Zukunft kümmern müssen. Und eine Modifikation von Hartz IV gehört meines Erachtens nicht dazu.
NG FH: Welchem wichtigen, machbaren Projekt müsste sich denn die SPD jetzt annehmen?
Weizsäcker: Ich habe in einem Vortrag vor der SPD in Bayern sieben Punkte genannt. Einer davon war Klimaschutz, Umwelt und Nachhaltigkeit, immer im Sinne von Erhard Epplers Friedenspolitik gedacht. Des Weiteren die Kontrolle der Finanzmärkte. Arrogante Finanzmärkte, die das Soziale und das Ökologische ignorieren und nur nach der Kapitalrendite handeln, schaden der Menschheit. Die Erneuerung der nationalen Sozialpolitik funktioniert nicht, wenn man die Macht des internationalen Kapitals nicht antastet. Zudem benötigen wir Technologien, um wettbewerbsfähig zu sein, ein Europabild, was nicht in Bürokratie ertrinkt, sondern ein Friedensprojekt darstellt. Problematisch ist auch die bisherige Bildungspolitik, die immer noch so aufgebaut ist, als ob das Lernen in der Schule und allenfalls noch in der Hochschule das ganze Leben abdeckt. Dies ist natürlich heutzutage völlig überholt. Wir brauchen eine umfangreiche Erwachsenenbildung, die aber noch nicht gut genug organisiert ist. Ganz wichtig ist auch die Kommunalpolitik. Da ist die SPD ja noch immer sehr gut vertreten und ganz nah an den Menschen dran.
NG FH: Was wäre denn auf dem Gebiet der Ökologie das nächste größere Projekt?
Weizsäcker: Zunächst einmal die bereits genannte Ressourcenproduktivität und dann natürlich auch der Naturschutz, insbesondere im Landwirtschaftsbereich. Die heutige chemie-intensive Landwirtschaft ist leider ein Feind der Natur geworden, Böden, Wasser, Tiere und Pflanzen werden in Mitleidenschaft gezogen. Im Frühjahr 2019 hat der Weltbiodiversitätsrat der UN in einem Bericht vor einer unglaublichen Artenvernichtung gewarnt, dass nämlich in den nächsten Jahrzehnten rund eine Million Tier- und Pflanzenarten an den Rand der Ausrottung gedrängt würden. Dies ist ein ganz großes Thema, ähnlich wichtig wie das Klima.
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