Es »war einfach ungeheuer, was es da (in China) alles Fremdartiges und Merkwürdiges zu sehen gab. Zum Beispiel die Ohrenputzer! Die Ohrenputzer arbeiteten so ähnlich wie bei uns die Schuhputzer. Sie hatten auf der Straße bequeme Stühle aufgestellt, darauf musste man sich setzen. Und dann wurden einem die Ohren geputzt. Aber nicht nur so einfach mit dem Waschlappen, o nein! Das war eine lange und kunstvolle Prozedur. Jeder Ohrenputzer hatte ein kleines Tischchen mit einer silbernen Platte und darauf lagen unzählige kleine Löffelchen und Pinselchen und Stäbchen und Bürstchen und Wattebäuschchen und Döschen und Töpfchen. Und damit machte er sich ans Werk. Die Chinesen gehen sehr gerne zum Ohrenputzer. Erstens natürlich aus Reinlichkeit, zweitens aber auch, weil es so angenehm kitzelt und kribbelt, wenn der Ohrenputzer ganz vorsichtig seine Arbeit verrichtet.« Dass in allen Auflagen von Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer seit 1981 das Land nicht mehr China heißt, sondern den Fantasienamen »Mandala« trägt, ist eine andere Geschichte …
Schon als Kind konnte man sich beim Lesen dieser Passage aus Michael Endes Kinderbuch-Klassiker – bei entsprechend lebendiger Fantasie – das angenehme Gefühl im Ohr ganz genau vorstellen. Und dann entstand ein angenehmes Kribbeln auf der Kopfhaut und zog sich langsam den Rücken hinunter. Für all jene, die sich ihren Kindheitswunsch, sich auch einmal in China die Ohren kitzeln zu lassen, noch nicht erfüllen konnten, gibt es nun eine günstigere Alternative: Eine große Zahl von ASMR-Videos auf YouTube lässt den Usern eine virtuelle Ohrreinigung zukommen.
ASMR? Die Abkürzung steht für »Autonomous Sensory Meridian Response« und bezeichnet ein kribbelndes Gefühl auf der Haut, das laut Wikipedia »typischerweise auf der Kopfhaut des Hinterkopfs« beginnt und sich »entlang des Nackens und der oberen Wirbelsäule bis in den Schulterbereich« bewegt (sogenannte Tingles). ASMR wird ausgelöst durch Trigger wie Flüstern, eine sanfte Stimme oder sehr leise Geräusche. Es wirkt entspannend, beruhigend, zum Teil sogar einschläfernd. Jedoch reagieren nicht alle Menschen gleich, bei manchen lösen die genannten Trigger keine entsprechende Empfindung aus.
Doch bei allen, die empfänglich für ASMR sind, ist die Wirkung enorm. Vor allem bei der Verwendung von Kopfhörern kommt das angenehme Kopfkribbeln via YouTube den Gefühlen bei einer echten Ohrreinigung verblüffend nahe. Dabei ist beispielsweise beim Video »Chinese Ear Cleaning – Sichuan Style« der YouTuberin Tingting ASMR der erste optische Eindruck geradezu aseptisch: Zwei weiße Kunststoffohren sind links und rechts an einem hochempfindlichen Mikrofon befestigt, die Ohrenputzerin begrüßt uns mit blauen Plastikhandschuhen. Doch schon die erste Bewegung der Hände lässt die Plastikhandschuhe hochverstärkt knistern, als bewegten sie sich wenige Millimeter von unseren Ohren entfernt.
Die 27-jährige Chinesin ist mit ihrem ASMR-Kanal zu einem YouTube-Star geworden. Sie veröffentlicht inzwischen dreimal pro Woche ein neues Video und hat über 780.000 Abonnenten. Damit liegt sie noch lange nicht an der Spitze, denn berühmte ASMR-YouTuber erreichen Klickzahlen im mehrstelligen Millionenbereich. Vor etwa neun Jahren tauchte der Begriff ASMR im angloamerikanischen Raum zum ersten Mal auf, recht bald folgten erste Videos auf YouTube, die das angenehme Gefühl auslösen sollten. Schon 2012 gab es erste deutsche Videos zu diesem Phänomen, doch vor allem in den vergangenen Monaten explodierten die Angebote und Klickzahlen zu ASMR.
Beim Klicken durch die ASMR-Kanäle entsteht der Eindruck, dass sich inzwischen einige beliebte Themenbereiche durchgesetzt haben. So hat sich etwa Tingting ASMR besonders auf Kopfpflege spezialisiert: Sie reinigt Ohren, wäscht und schneidet Haare, massiert, legt Gesichtsmasken auf – und verkauft die von ihr präsentierten Pflegeprodukte auch gleich im eigenen Amazon-Shop. Ein weiterer großer Bereich sind Geräusche, die beim Essen entstehen (auch hier oftmals verbunden mit recht schamlosem Product-Placement). Spannender als die massenhafte Wiederholung immer gleicher oder ähnlicher Geräuschspektren ist jedoch der Wettkampf zwischen den YouTubern, immer neue Geräusche zu entdecken. Seien es Haarbürsten, Spielkarten, ein Zollstock oder einfach nur die eigenen Hände: Die Geräuschwelten, die in den Dingen unseres Alltags verborgen liegen, sind unendlich. Der musikalische Effekt, der sich in vielen ASMR-Videos offenbart, ist nicht zu unterschätzen. Wenn Tingting ASMR beim Reinigen der Ohren zu zwei großen Stäben mit Wattebäuschchen greift und über die Ohrmuscheln streicht, drängt sich die Assoziation an Schlägel von Schlaginstrumenten auf, die sanft über ein Trommelfell [sic!] streichen.
In den besten Momenten von ASMR-Videos ist der Übergang zu den Klangwelten der Neuen Musik fließend. Im Zentrum des Schaffens des deutschen Komponisten Helmut Lachenmann etwa steht die Erkundung der geräuschhaften Anteile aller Klänge, die mit einem traditionellen Musikinstrument erzeugt werden können. In Lachenmanns Klavierkomposition Guero von 1970 streicht der Spieler mit den Fingernägeln mal lauter, mal leiser über die Tasten, sowohl seitlich als auch von oben, wodurch schabende Klänge entstehen, die an das Percussion-Instrument Güiro erinnern. Bei Helmut Lachenmann wird der gesamte Korpus der Instrumente in die Klangproduktion miteinbezogen: Es wird geklopft, geschabt und gestreichelt – oftmals an der Grenze zum (Un-)Hörbaren.
Das weite Feld »jenseits der Töne« hat die Komponistinnen und Komponisten der Neuen Musik seit jeher gereizt. Spätestens seit den Schriften und Kompositionen von John Cage umfasst Musik auch das Geräuschhafte und Nicht-Klingende. Und der künstlerische Aspekt des Geräuschhaften nimmt auch im ASMR-Bereich immer mehr Raum ein. Ursprünglich der Beruhigung und Entspannung dienend und damit eher dem Bereich Wellness und Gesundheit entstammend, beginnt ASMR nun auch Formen der künstlerischen Performance zu entwickeln. So veröffentlicht etwa das Lifestyle- und Fashionmagazin W Magazine regelmäßig auf YouTube sogenannte ASMR-Interviews, in denen Stars aus Musik und Gesellschaft über sich und ihre Musik berichten – flüsternd und unter Einbeziehung von Alltagsgegenständen, die auf ihre Geräuschklänge hin untersucht werden. Die britische Sängerin und Schauspielerin Rita Ora etwa zerreißt knisternd Plastiktütchen, schabt an einem Papierlampion oder erzeugt mit Beatboxing und dem Klacken der Buttons einer TV-Fernbedienung rhythmische Strukturen. Und Cardi B, derzeit angesagte Rapperin aus New York, gurrt in die Mikrofone und streichelt ein flauschiges Schmusekissen. Bereits im Juli 2016 bot die Agentur »ASMR yourself« im Rahmen des Festivals »Body Talk« an den Münchner Kammerspielen den Teilnehmenden »ein 35-minütiges ASMR-Treatment an, in dem das You-Tube-Phänomen zur Live-Erfahrung wird. Der Kopforgasmus wird zur Dienstleistung.«
Geht es also bei ASMR nur um den nächsten (erotischen) Kick, um rauschhafte Erfahrungen? Die noch spärlich vorhandene wissenschaftliche Forschung zu ASMR macht deutlich, dass die damit bezeichnete Erregung nichts mit der sexuellen zu tun habe. Auch die ASMR-YouTube-Community lehnt eine sexuelle Konnotation von ASMR mehrheitlich ab und betont die medizinisch-heilende Komponente der Stressreduktion. In einer durch Hektik und Lärm geprägten Alltagswelt verspricht ASMR einen Ausgleich durch Ruhe und Geborgenheit, gepaart mit einer Neugier auf noch unentdeckte Geräuschwelten, die sich in den Dingen des Alltags verbergen. Nicht nur im (musik-)pädagogischen Kontext kann durch ASMR eine neue Lust am Hören und Experimentieren geweckt werden – und eine neue Kultur des »Zu-Hörens« womöglich in unserem konfliktgeladenen Alltag zu mehr Entspannung führen.
Doch auch ohne jede Wunschvorstellung bezüglich einer gesellschaftlichen Wirksamkeit von ASMR: Wer einmal den Ohrenkitzel erlebt hat, kann sich dem Suchtpotenzial von ASMR nur schwer entziehen. Oder um es mit Driss aus der französischen Erfolgskomödie Ziemlich beste Freunde zu sagen, dessen vom Hals abwärts gelähmter Freund Philippe nur noch an den Ohren sexuelle Lust verspüren kann: »Bleib schön am Ohr – das mag er!«
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