OK Computer, so lautet der Titel eines Albums der britischen Band Radiohead von 1997. Es begründete eine ganz eigene Form hybriden Sounds zwischen analog und digital. Das zustimmende »Okay« macht diesen Albumtitel zu einer Metapher der heutigen Digitalisierung. Es deutet auf ein neues Verhältnis, eine neue responsive Schnittstelle zwischen menschlichen und nicht-menschlichen »Wesen«.
Eine solche Anrede und Aktivierung einer Künstlichen Intelligenz spiegelt sich heute beispielsweise in ChatGPT wider. Jenes Programm bildet eine neue Design- und Programmierstufe der Interaktionstools, Suchmaschinen, Datensortierungen und kreativen Texterstellung. Komplexe Rechenvorgänge filtern wahrscheinliche Antworten und (er-)finden schlüssige Erklärungen; sie generieren auch manchmal allzu menschlich-originell wirkende Geschichten und Gedichte. Sie definieren und kopieren alle möglichen Stile. ChatGPT agiert ästhetisch und reproduziert menschliche Kreativität.
Wie wird sich diese neue Form einer kommunikativen und kreativen Schnittstelle auf die Gesellschaft und auf das Wissen auswirken? Darauf, was wir unter menschlich verstehen, was unter Kunst? Galt letztere nicht immer als ein sicherer Ort des Menschlichen und seiner Autonomie, zuweilen auch in Form des Unperfekten? Wenn nun gerade die kreativen Vorgänge wie Dichten, Gestalten und Komponieren von einer Rechenmaschine übernommen werden, wenn Originalität vollends in einer Kette von Reproduktionen aufgeht und wenn die Kunst Produkt eines zuvor von Menschen hinterlegten Datenpools wird, ist es dann überhaupt noch Kunst?
Nicht, dass Kunst nicht schon immer aus einem begrenzten Repertoire künstlerischer Ausdrucksformen geschaffen worden wäre, aber wem gehören diese Daten und wer ist Hüter*in des Diskurses? Was wie eine Dystopie und nach Kulturpessimismus klingt, sei hier nicht als solche verstanden. Ausgehend von diesen Überlegungen stellt sich aber folgende Frage noch einmal umso dringlicher: Wie verändern sich die Künste innerhalb des technologischen Wandels durch Digitalisierung? Welche Position haben sie innerhalb einer (zunehmend ästhetisierten) Kultur des Digitalen inne und welche Verantwortung tragen sie? Der Beitrag diskutiert – freilich fragmentarisch und unabgeschlossen – das Verhältnis von (Theater-)Kunst und Digitalisierung und wägt sein utopisches Potenzial ab.
#artonline. Digitale Kulturen der Künste
Unsere Gesellschaft ist durch die Digitalisierung tiefgreifenden Veränderungen unterworfen. Der technologische Wandel durch das Internet, Maschinelles Lernen, Algorithmen und diskrete Daten- und Automatisierungsprozesse bringen neue Infrastrukturen und Lebensweisen hervor; und die alltäglichen Computerpraktiken wirken in die technologische Sphäre zurück. Sie verändern wirtschaftliche und industrielle Prozesse sowie die Formen von Bildung und Kommunikation.
Längst befinden wir uns in einer Kultur des Digitalen, in der sich online und offline, privat und öffentlich immer mehr vermischen, wo sich Wissen und soziale Interaktion in hybriden Räumen ereignen. Was ist überhaupt noch real? Macht es heute überhaupt noch Sinn, analoge und digitale Erfahrungsweisen gegenüberzustellen, sie gar als konträr zu verstehen oder muss für diese Hybridisierung ein ganz neues Vokabular entwickelt werden?
Seit jeher haben die Künste, die sich über die (leiblichen) Erfahrungsweisen, über die aisthetis (Ästhetik) an den Diskursen und am Wissen über die Welt beteiligt haben, zu neuen Begriffen inspiriert. Stets haben sie die sinnliche Erfahrung im Spiegel des medialen Wandels erforscht. 1933 beschrieb Walter Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz die Veränderung der Sehgewohnheiten durch den Film und versuchte eine Neubestimmung von Kunst mit den Begriffen »Aura« und »technische Reproduzierbarkeit«. Auf diese Verwobenheit von Kunsterfahrung und Medienkultur hat mehr als ein halbes Jahrhundert später auch der Kulturtheoretiker David Harvey in seiner Studie The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change (1989) hingewiesen.
Heute hat sich angesichts der Digitalisierung eine weitaus stärkere Verschiebung von leiblicher Kunsterfahrung zu einer medialen Zerstreuung von Kunst ereignet. Heute finden Kunstausstellungen nicht mehr nur in Galerien und Museen statt, sondern werden durch Social-Media-Präsenzen entgrenzt und transformiert. Performances von Maria Hassabi oder Anne Imhof etwa finden eigentlich im Zwischenraum von Kunstbiennalen und Instagram statt; andere performative Arbeiten verlagern gleich die ganze künstlerische Arbeit ins Netz.
Neue Ästhetiken wie die sogenannte Post Internet Art oder die Digitalästhetik von Beeple, Hito Steyerl oder Banz und Bowinkel thematisieren den scheinbaren Verlust von Präsenz, stellen Effekte von körperlicher Verortung im Digitalen her und kommentieren und kritisieren bisweilen den medialen Strukturwandel von Öffentlichkeit und dessen soziale Auswirkungen.
Andere Künstler*innen arbeiten mit einer KI oder verwenden die medialen Praktiken des Samplens, Collagierens, Montierens von Daten aus dem Netz, imitieren DIY-Techniken, wenden die Prosumer*innen-Praktiken, also die Verbindung von Produzent*in und Konsument*in, an und gehen spielerisch und proaktiv mit den neuen Möglichkeiten um. Sie schaffen niederschwellige Zugänge zur Teilhabe an digitalen Räumen und schaffen virtuelle Räume, die an interaktive Videospiele oder an verfremdete Grafikprogramme erinnern. Künstlerische Arbeiten, die sich auf die Kulturen des Digitalen beziehen, eignen sich also die neuen technischen Werkzeuge sowie deren symbolische Formen an.
Technologische Schnittstellen wie das Smartphone werden zum alltäglichen Berührungsfeld mit Kunst von Produzierenden und Konsumierenden; das Touch-Display zum Ko-Kurator und Erfahrungsraum, der auch das Soziale der Kunst mitstrukturiert. Betrachter*innen verwirklichen und vervollständigen das »offene Kunstwerk« (Umberto Eco), nicht nur durch ihre eigene Imagination und leibliche Präsenz vor Ort, sondern aktiv im immateriellen Raum etwa durch Teilen, Liken, Kommentieren, Aufrufen, Posten eigener Ausstellungserfahrungen. Die Kunsterfahrung wird eine geteilte, im doppelten Sinne von »Inhalte teilen« und von zerteilter, zerstreuter Aufmerksamkeit.
Das alles fühlt sich zunächst an wie eine Zäsur oder ein Umbruch. Sind wir überhaupt »bereit dafür, die – phänomenologisch gesprochen – leibliche Wahrnehmung von Kunst und damit eine fundierte Betrachtung und Beurteilung zu verlassen«, fragt denn auch der Kunstphilosoph Georg Imdahl in einer Buchbesprechung in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Dezember 2022 über zeitgenössische Kunst und Digitalität. Was verlieren wir, wenn wir die »analoge Ausstellung« inzwischen weniger als »materielle Basis« denn als »virtuelles Äquivalent ihrer medial vernetzten (Re-)Präsentation« verstehen? Oder liegt genau in dieser »Neuaufteilung des Sinnlichen« (Jacques Rancière) der Kunst ein utopisches oder politisches Potenzial?
Jene Überlegung einer Neuverteilung von Kunstpraxis adressieren seit einigen Jahren insbesondere die performativen Künste, die vielleicht noch mehr als die Bildende Kunst auf die Vervollständigung des Kunstwerks durch ein leiblich anwesendes Publikum angewiesen sind. So wirkten 2021 die Kontaktbeschränkungen während der Coronapandemie sowohl für die freie Szene als auch für die institutionalisierten Häuser als Beschleuniger eines Reflexionsprozesses über den Wert der analogen Anwesenheit, der Versammlung (Judith Butler) im Theater.
Auch wenn das Theater bei genauerem Hinsehen schon seit der Moderne an Fragen von Liveerfahrung und Aufzeichnung gearbeitet hat, so diversifiziert sich momentan die digital-analoge Theaterszene und probiert neue, entgrenzte Formen von Performance aus. Sie versucht dabei aber auch eine Idee von Zukunft und neuem gesellschaftlichem Miteinander sowie neue Grundregeln von Arbeit und Kunst zu imaginieren.
Nichtdestotrotz war die Theaterszene während der Coronazeit erst einmal ratlos und experimentierte mit neuer digitaler Öffentlichkeitsarbeit und Publikumsbindung, mit neuen Formaten (Online-Proben und -Konzerten, Desktop-Theater, Games-Performance und so weiter) und entwickelte Ästhetiken, die zwischen On- und Offline changierten. Es wurde über weite Strecken hinweg kommuniziert (auch zwischen Schauspieler*innen, Dirigent*innen, Performer*innen auf der ganzen Welt), der Theaterabend in unterschiedliche Zeiten und Räume entgrenzt und anders »verwaltet«, in dem Sinne, dass auch Produktionswege verschlankt wurden und somit Arbeitsprozesse für alle (auch die im Homeoffice mit Familien- oder anderer Care-Arbeit) erleichtert wurden. Im Grunde wurde mit der Kunst an einer Utopie, einem besseren kollektiven Leben gearbeitet.
Digitale Utopien in und mit der Kunst?
Seit den 10er Jahren, besonders aber mit dem Digitalisierungsschub im Zuge der Pandemie haben sich also die Künste durch die Verschränkung mit der virtuellen Sphäre verändert. Sie wurden ästhetisch, kommunikativ und räumlich entgrenzt. Ist das das Ende der Kunst, weil sie sich in der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie, im Konsumkapitalismus und in kreativen KI-Prozessen auflöst? Was passiert in dieser Transposition in den digitalen Raum eigentlich mit dem Körper und mit dem wertvollen Moment der leiblichen Kunsterfahrung im physischen Raum? Ist dies zu bedauern oder ist es ein Muss der Künste, die virtuellen Räume zu erobern?
Die Digitalisierung ist in jeder Hinsicht ein Strukturwandel von Öffentlichkeit (Jürgen Habermas). Welche Öffentlichkeiten erzeugt ein künstlerisch gestalteter Raum auf Social Media eigentlich? Bleiben in dieser Welt der Daten überhaupt noch künstlerische Freiräume und Möglichkeiten zur Kontingenz, Kontemplation und Reflexion? Kann die Digitalisierung vielleicht sogar unverhoffte Teilhaben, nachhaltige Produktionsweisen und eine gerechtere Welt begünstigen – utopisch sein?
Utopien, Erzählungen und Imaginationen einer besseren Welt sind aus der Mode gekommen, zumindest beschrieb der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher einst das Ende der Utopien im 20. Jahrhundert und kritisierte den Siegeszug des Kapitalismus in der Gegenwart. Auf der anderen Seite ist einst das Internet als die große Utopie des 21. Jahrhunderts beschrieben worden. Als neue medientechnologische Infrastruktur stand es für die grenzenlose Teilhabe und demokratische Vernetzung. Und teils erscheint es, als hätte sich eine utopische Welt in der Welt herausgebildet, in der wir uns barrierelos verbinden können.
Auch identitätspolitische, gestalterische Praktiken auf Social Media können wichtige, die soziale Gerechtigkeit fördernde Repräsentationen und Sichtbarkeit von marginalisierten Gruppen erzeugen. Nur zu gut wissen wir aber auch, dass die scheinbar demokratische Internet-Teilhabe eine gedeckelte ist, die sich nicht nur von Land zu Land unterscheidet. Von Zensur- und Propagandatechniken abgesehen sind es auch transkulturell organisierte Algorithmen, KIs, Überwachung und Big Data, die heute die politischen Güter und Werte regeln. Der Zugang zu Wissen, Information und Archiven ist keineswegs so barrierefrei, wie man einst gehofft hat.
In ihrer kritischen Erforschung von digitaler Ästhetik können die (performativen) Künste potenziell eine bessere Zukunft imaginieren helfen. In ihren experimentellen Praktiken liegt vielleicht eine Chance für offene Zugänglichkeit und nachhaltige Produktions- und Arbeitsweisen. Digitale, interdisziplinäre Kunstwerke der Gegenwart ermöglichen so vielleicht eine Unterbrechung des computergestützten Datenkapitalismus und Räume für Kritik und Kontemplation. Und das nicht als analoge oder technophobe Erzählung, sondern im Austausch mit den Technologien und KI-Programmen, deren Daten und Inhalte sie beeinflussen und mitgestalten können. OK Computer?
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