Im Bundestagswahlkampf 1998 prägten noch drei Segmente den Nachrichtenzyklus: die Tageszeitungen/Boulevardpresse, das Radio und die TV-Nachrichtenformate zwischen 19:00 und 22:30 Uhr am Abend. Montags kamen dann noch der Spiegel und der Focus dazu. Alle zu berücksichtigenden Medien hatten eine Gatekeeper-Funktion. Sie empfingen, sortierten, recherchierten, kommentierten und sendeten das Ergebnis an ihre Leser-, Zuhörer-, Seher:innen. Und diese konsumierten ohne größere Partizipationsmöglichkeiten.
Eine moderne Wahlkampforganisation muss heutzutage dagegen die Medienlandschaft täglich rund um die Uhr überschauen, ungleich mehr Kanäle professionell bedienen, mit den Wähler:innen im permanenten Dialog bleiben, die Basis ständig aktivieren und motivieren und jederzeit damit rechnen, durch eine massive Disruption in kürzester Zeit aus der Bahn geworfen zu werden. Ein Wahlkampf unter diesen Bedingungen kennt in der Hochphase nur noch zwei zentrale Ziele: Krisenvermeidung und Krisenmanagement.
Diese massiven Veränderungen stellen hohe Anforderungen an die Kanalstrategien, Ressourcenplanungen und natürlich auch an die Kommunikationsdisziplin.
Umso wichtiger ist es, die zentrale Wahlkampforganisation früh festzulegen und die Strategiearbeit mindestens 18 Monate vor dem Wahltag zu beginnen. Die Organisation muss sich lange vor Einsetzen des Krisenmodus einspielen können. Ein Beispiel für gelungene beziehungsweise misslungene Vorbereitung ist der Bundestagswahlkampf 2021. Während die SPD bei äußerst ungünstiger Ausgangslage später als Nr. 1 durchs Ziel ging, vermasselten die eigentlich favorisierten Grünen sowie die CDU/CSU ihre jeweiligen Kanzlerkandidaturen in einer Mischung aus Überheblichkeit, Schlamperei und tatsächlichem Unvermögen. Weder die Grünen noch die Union waren einem Wahlkampf auf der Höhe der Zeit des Jahres 2021 gewachsen.
Ein Wahlkampf ist ein hochkomplexes Gebilde. Auf Grundlage einer hoffentlich vorhandenen Strategie greifen zahlreiche Gewerke ineinander und müssen perfekt geplant, koordiniert und exekutiert werden: Themensetzung, Positionierung des Spitzenpersonals, Reden-/Interview-/Debattenvorbereitung, klassische PR, klassische Werbung, Social-Media-Campaigning, Fundraising, Eventmarketing, Dialogmarketing, Monitoring von Medien und Mitbewerbern, Krisenkommunikation/Damage Control, Grass-Roots-Campaigning, Mitglieder-aktivierung, Redner:inneneinsätze/Koordination von Medienauftritten, Innerparteiliche Koordination und Disziplinierung, begleitende Marktforschung und Implementierung der Erkenntnisse in die Kampagne.
Und das alles in einem extrem kritischen, häufig auch feindlichen Umfeld.
Die Arbeit aller Gewerke hat durch die Revolution der Kommunikationstechnologien unserer Zeit an Dringlichkeit und auch an Gefahrenpotenzial zugenommen. Die veränderten technischen Rahmenbedingungen treffen dabei auf eine stark veränderte politische Landschaft.
Kampf um Aufmerksamkeit
Wahlentscheidungen werden heute in weiten Teilen anders getroffen als noch vor zwei Jahrzehnten. Die klassischen soziodemographischen Faktoren sind zwar nicht völlig verschwunden, haben aber deutlich an Aussagekraft verloren. Wesentlich entscheidender sind heute soziokulturelle Einstellungen zu den großen Themen unserer Zeit. Hierzu gehören: die grundsätzliche Haltung zur Demokratie als Staatsform; die Einstellung zu Nation, Tradition, Mulitlateralismus, Globalisierung; die Einstellung zu der Rolle des Sozialstaates, die Einstellung zum Klimawandel, die Einstellung zu Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit, die Einstellung zu Chancen/Risiken der Digitalisierung.
Polarisierung durch eine lautstarke Minderheit findet ihren Widerhall.
Wahlforscher:innen haben diese Veränderungen in ihre Wähleranalysen einfließen lassen und danach den deutschen Wählermarkt neu kartografiert. Deutschland insgesamt ist dabei bezüglich progressiver Grundeinstellungen wesentlich positiver eingestellt als andere Demokratien. Die Trennlinie verläuft nicht bei 50:50 wie etwa in den USA, Großbritannien oder Frankreich von heute, sondern gut 75 % der Bevölkerung ordnen sich themenübergreifend eher dem weltoffeneren und toleranteren Lager zu. Nichtsdestotrotz findet die harte Polarisierung durch eine lautstarke Minderheit ihren Widerhall vor allem in den Medien und damit auch in der politischen Debatte.
Der Grad der Polarisierung und damit verbunden auch die Unversöhnlichkeit der Positionen führt zu einem Problem bei der späteren Kompromisssuche. Die Aufsplitterung des Wählermarktes in aktuell bis zu sieben in den Parlamenten vertretenen Parteien (CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP, AfD, Linke, Freie Wähler) führt immer seltener zu Koalitionen mit nur zwei Partnern – und noch seltener zu einer absoluten Mehrheit.
Koalitions- beziehungsweise Regierungsbildung und auch die Legislaturperiode werden von einem medialen Dauerfeuer begleitet, das den Akteur:innen immer weniger Zeit zur Reflexion lässt. In der medialen Arena findet ein permanenter Kampf um Aufmerksamkeit statt – der bei nicht wenigen Medien und Journalist:innen gleichzusetzen ist mit einem Kampf um wirtschaftlichen Erfolg oder gar ums wirtschaftliche Überleben. Der Marktwert von Journalist:innen orientiert sich heute immer mehr an ihrer Followerschar in den sozialen Medien und weniger an dem Status des Mediums, für das sie aktuell arbeiten. Ebenso versuchen Politiker:innen in diesem Umfeld Persönlichkeitsmarken jenseits ihrer Parteizugehörigkeit aufzubauen – häufig auch gegen ihre Parteiführung.
Dieser Kampf um Aufmerksamkeit bleibt einer großen Öffentlichkeit zwar weitgehend verborgen, da sich immer mehr Menschen aus eben diesem Zyklus aktiv oder passiv ausklinken, der Politisch-Mediale-Komplex genügt sich aber weitgehend selbst und setzt sich auch permanent selbst unter Druck.
Politische TV-Talkshows erreichen selten mehr als 2,5 Millionen Zuschauer:innen – und diese überschneiden sich mit vielen anderen Politformaten, die Bild verkauft nur noch rund eine Million Exemplare, es gibt aber rund 61 Millionen Wahlberechtigte. Tweets finden hauptsächlich deshalb Verbreitung, weil andere Medien über sie berichten. Politische »Superpromis« wie Karl Lauterbach kommen zwar auf eine Million Follower – aber auch hier gibt es natürlich zahlreiche Überschneidungen mit den politisch Interessierten Follower:innen anderer.
Während eine einflussreiche aber relativ überschaubare Gruppe der Überinformierten permanent aktiv ist, zieht es die breite Masse eher weg von der Politik. In diesem Umfeld finden Wahlkämpfe statt, die sich in mindestens zwei Zeitzonen bewegen: der langfristigen Orientierungsphase und der (sehr) kurzfristigen Ad-Hoc-Kommunikation.
Inhaltliche Unterschiede zwischen den Parteien dringen immer weniger durch.
Die Veränderungen beim Medienkonsum und im allgemeinen Kommunikationsverhalten breiter Bevölkerungsschichten resultieren in einer großen Konfusion. Bereits seit Jahren beobachten wir in den von uns begleiteten Fokusgruppen eine deutliche Abnahme des Allgemeinwissens. Also ein Basiswissen über die wichtigsten politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Akteure in Stadt, Land, Bund; die Fähigkeit zur Einordnung wirtschaftlicher und internationaler Zusammenhänge und die Zuordnung politischer Positionen zu einzelnen Parteien. Mit Ausnahme radikaler Randpositionierungen wie der AfD, dringen Unterschiede zwischen den Positionen der Parteien jenseits ihres Markenkerns immer weniger durch. Was nicht nur an den Vermittlungsproblemen der Parteien liegt, sondern auch an dem Desinteresse der Wähler:innen.
Das Ablenkungs- und Zerstreuungspotenzial im digitalen Zeitalter ist so massiv, dass sich weite Bevölkerungsschichten immer weiter aus dem Informationsfluss jenseits ihrer Hauptinteressen verabschieden. Politik, Wirtschaft, Kultur oder internationale Zusammenhänge gehören bei vielen Menschen schlicht nicht zum Kerninteresse.
Will man diese Menschen – von denen am Ende ja dann doch gute 80 Prozent wählen gehen – erreichen, müssen Parteien Leuchttürme sein, Orientierung bieten und den Weg in die Zukunft weisen.
Wer in diesem Umfeld irritiert, irrlichtert, immer wieder unterschiedliche Signale aussendet, wird es auf Dauer schwer haben. Denn die kurzfristige Ad-Hoc Kommunikation, die jede heiße Wahlkampfphase bestimmt, muss stimmig zur zentralen, über Jahre aufgebauten Erzählung passen – um nicht ausgerechnet in der Endphase des Wahlkampfes massiv zu irritieren.
Ein Irrlichtern auf den letzten Metern – ein aus Verzweiflung geborener politischer Vorstoß, eine aus dem Nichts kommende Personalentscheidung – das sind die Zutaten eines Zusammenbruchs auf den letzten Metern des Wahlkampfes. Denn jetzt treffen die beiden Informationsniveaus aufeinander. Ein medialer Megahype – etwa um das vermeintliche Lachen von Armin Laschet am Rande der Flutkatastrophe – trifft auf eine wenig informierte und damit auch wenig gefestigte Öffentlichkeit, die sich irritiert von einem ihr wenig bekannten Kanzlerkandidaten abwendet. In diesem Fall profitierte der als beständiger angesehene Olaf Scholz. Das langfristig aufgebaute Vertrauen der Person Scholz war in diesem Fall der entscheidende Faktor, der Orientierung bot und Verlässlichkeit versprach.
Von diesen Entwicklungen wird mal die eine, mal die andere Seite profitieren. Langfristig betrachtet tragen Medien und Politik aber gleichermaßen zur Destabilisierung demokratischer Prozesse und damit der Demokratie selbst bei. Zu sehr erliegen einige der zentralen Akteur:innen den Profilierungsversuchungen des Politisch-Medialen-Komplexes. Wenn demokratische Parteien in Zeiten der allgemeinen Konfusion selbst irritieren und Medien häufig hyperventilieren – oft wegen nichtiger Anlässe – öffnen sie das Fenster für Kräfte, die genau aus diesen Irritationen ihre destruktive Energie ziehen.
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