Menü

Hauptbibliothek Oslo. © Foto: picture alliance/dpa | Sigrid Harms

Worüber öffentliche Bibliotheken gerade nachdenken Orte für alle

Kaum eine Institution musste in der Vergangenheit ein ähnlich groteskes Missverhältnis zwischen medialer Darstellung und alltäglicher Realität erdulden wie die Bibliothek. Viel zu schnell hat sich die Einrichtung vom geräuschempfindlichen Bücherlager zum multimedialen Gesellschaftslabor gewandelt, als dass der bildungsbürgerliche Diskurs dem noch hätte folgen können. Wer lange keine öffentliche Bibliothek mehr von innen gesehen hat, sollte das also besser schleunigst nachholen – und das schreibe ich nicht, weil ich selbst in einer solchen tätig bin, sondern weil der soziale Zustand einer Stadt vielleicht nirgends markanter sichtbar wird als in einer öffentlichen Bibliothek.

An jedem ihrer sechs Öffnungstage zählt die Münchner Stadtbibliothek in ihren Filialen über 20.000 Besuche, Tendenz steigend, genau wie in allen deutschen Stadtbibliotheken. Viele der Gäste sind Kinder, die mit einem Elternteil (üblicherweise der Mutter) oder der KiTa-Gruppe kommen, um an einer der zahlreichen Veranstaltungen teilzunehmen oder ein Buch, ein Spiel, einen Film auszuleihen. Für Familien, gerade in Großstädten, ist die Bibliothek eine preiswerte Möglichkeit, den Wissenshunger und Unterhaltungswunsch des Nachwuchses zu stillen. Und sie ist ein sicherer und offener Ort: Bibliotheken bürgen dafür, dass sie ihren Bestand nach bestem Wissen und Gewissen kuratieren und dass sie Zugänge öffnen, statt sie zu beschränken. Viele der Gäste sind Teenager – des Kapitalismus´ liebste Zielgruppe –, viele davon aus prekären Milieus, denen es zuhause am WLAN und/oder am eigenen Raum für Leben, Lieben und Bildung mangelt. Viele der Gäste sind Senior/innen, einige davon vereinsamt bis einsam und deshalb in ihrem Sozialverhalten etwas aus der Übung. Ein paar der Gäste sind Obdachlose, die hier wesentlich mehr finden als Wärme: Bibliotheken sind Institutionen ohne Eingangskontrolle, ohne Konsumzwang, ohne Überwachungskameras, in denen man nicht weiter auffällt, wenn man untätig herumsitzt. Und viele der Gäste sprechen mehr als eine Sprache – sie leihen Bücher in ihrer Herkunftssprache oder laden sich einen Deutschkurs herunter, sie begleiten ihre Kinder zur mehrsprachigen Vorlesestunde oder treffen sich mit einem Sprachpartner zum internationalen Dialog. Gemein ist den Besucherinnen und Besuchern von Bibliotheken nur eines: Im öffentlichen Diskurs haben sie nur eine sehr leise Stimme, wenn sie denn überhaupt eine haben.

Diese Menschen treffen in der Bibliothek auf Bibliothekarinnen und Bibliothekare, auf Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste, kurz FaMIs, sowie auf Technische Angestellte, die für das Ein- und Aussortieren der Medien, fürs Anmelden und für die Kasse verantwortlich sind. Auch auf der Seite der Mitarbeitenden herrscht mithin eine soziale und kulturelle Vielfalt, wie man sie wohl nur selten findet: Bibliothekar/innen haben ein Fachhochschulstudium absolviert, FaMI ist ein Ausbildungsberuf, die dritten sind ungelernt, wie es offiziell heißt, de facto aber oft Akademiker/innen mit Migrationshintergrund, deren Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt werden.

Wenn Kulturinstitutionen wie Theater oder Museen mehr oder weniger laut darüber nachdenken, wie die Diversifizierung von Kundschaft wie Belegschaft gelingen kann, huscht den Mitarbeitenden in öffentlichen Bibliotheken schon mal ein stolzes Lächeln über die Lippen. Denn sie haben sich bereits vor Jahren auf diesen Weg begeben – vielleicht nicht immer ganz freiwillig, doch stets im Bewusstsein, dass genau dieses Für-alle-da-Sein ihre Existenzberechtigung darstellt. Denn tatsächlich sind (fast) alle da: die Alten, die Jungen, die Kleinen, die Großen, die Gutverdienenden und die Armen, die Christen, Juden und Muslime mit heller und dunkler Haut. Die Bibliothek hat sich mithin nicht neu erfunden, sondern deren Nutzerinnen und Nutzer haben sie neu erfunden: Immer mehr Menschen wollen nicht nur leihen und zurückbringen, sondern sich in der Bibliothek aufhalten, um dort zu lesen, zu lernen, zu schreiben, und das geschieht nicht selten gemeinsam mit anderen – die Lust an Kopräsenz ist groß und scheint stetig zu steigen, nicht zuletzt wegen des realen Mangels an öffentlichen nicht kommerziellen Räumen. Dass das nicht immer reibungslos verläuft, versteht sich von selbst; in öffentlichen Bibliotheken prallen die Milieus schon mal aufeinander – das ist am Ort nicht immer angenehm, aus der Distanz betrachtet jedoch ein kaum zu unterschätzender Wert. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute wird in dem offenen und öffentlichen Raum der Bibliothek soziale Gemeinschaft geprobt und ausgehandelt. Auf diese urdemokratische Rolle und Funktion hat der US-amerikanische Soziologe Eric Klinenberg in seinem jüngsten Buch Palaces for the People.How Social Infrastructure Can Help Fight Inequality, Polarization, and the Decline of Civic Life hingewiesen:

»Die soziale Infrastruktur bietet den Rahmen und den Kontext für die soziale Teilhabe, und die Bibliothek gehört zu den kritischsten Formen der sozialen Infrastruktur, die wir haben. Sie ist auch eine der am meisten unterbewerteten.« Noch heute mag es manchmal wie ein Wunder erscheinen, dass einst die öffentliche Bibliothek überhaupt erfunden wurde und sich als Konzept durchgesetzt hat. Wer wollte schon den Zugang an Wissen für andere öffnen und damit an Macht einbüßen? In München begann die Popularisierung in den 20er Jahren mit Volksbüchereien, Kinderlesestuben und der legendären Wanderbücherei in einem Straßenbahnwagen. »Das Buch muss zu den Leuten, nicht umgekehrt!« lautet der Satz, dem man dem damaligen Direktor Hans Ludwig Held in den Mund legte; noch heute sind in München fünf Bücherbusse im Einsatz, die 80 % der Münchner Kinder mit Büchern und anderem versorgen. Bibliothekar/innen können nur milde lächeln, wenn wieder mal jemand behauptet, es brauche im Internetzeitalter doch keine Bibliotheken mehr.

Was stimmt: Der Bestand an gedruckten Büchern wird geringer (aber darüber redet man aus nachvollziehbaren Gründen nicht so gern). Dafür wächst der Umfang und die Vielfalt der digitalen Bestände exponentiell an – nicht nur bei eBooks und Hörbüchern, sondern auch bei den Zeitungsarchiven, Datenbanken, Streamingdiensten, Apps, Clouds, Journalismus-Plattformen usw. Viel länger als Netflix oder Amazon wird in Bibliotheken darüber nachgedacht, warum und wie sich welche digitalen Inhalte vermitteln lassen und ob sie überhaupt in ihren Aufgabenbereich fallen. Dass die Überlegungen nicht von kommerziellen sondern von sozialen Argumenten geleitet werden, macht die Sache schöner, aber nicht leichter. Hinzu kommt: Bibliotheken bewahren die Daten ihrer Nutzer/innen strengstens für sich, weil sie für freien und unkontrollierten Zugang zum Wissen stehen. Mit Amazon oder Netflix werden sie deshalb wohl noch länger nicht mithalten können, selbst wenn sie mehr bieten, wesentlich weniger kosten und ihre Kund/innen eben nicht ausspionieren. Zudem wollte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Branchenverband der Buchhandlungen und Verlage, erst vor kurzem die Bibliotheken für Umsatzeinbrüche auf dem eBook-Markt verantwortlich machen; offenbar möchte man neu über die Bedingungen der digitalen Ausleihe verhandeln. Allerdings hatte bereits 2016 der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Bibliotheken – genau wie bei gedruckten Büchern – ein Recht darauf haben, eBooks zu erwerben und zu verleihen.

Die Sache ist verzwickt, auch in anderer Hinsicht. Die Demokratisierung des Diskurses durch den digitalen Wandel hat Bibliotheken in den vergangenen Jahren viel positive Aufmerksamkeit beschert. Aber die stetig lauter werdende (vor allem rechts-)populistische Kritik an staatlichen Institutionen im Allgemeinen trifft auch die Bibliothek immer wieder. Sie entzündet sich in der Regel am Bestand, seltener auch am Veranstaltungsprogramm. Tatsächlich ist das Gespür der Mitarbeitenden einer Bibliothek für undemokratische und herabwürdigende Inhalte besonders fein, und so diskutiert die Bibliotheksszene seit einiger Zeit immer wieder den Unterschied zwischen Katalogisieren und Kuratieren: Wer entscheidet eigentlich darüber, ob die Junge Freiheit in der Bibliothek ausliegt, und nach welchen Kriterien tut er oder sie das? Und was bedeutet das in Artikel 5 grundgesetzlich verbriefte Recht aller Bürgerinnen und Bürger, »sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten«? In der Branche herrscht alles andere als Einigkeit in solchen Fragen, und gute Argumente haben beide Seiten.

Das Recht, sich zu unterrichten, spielt mittlerweile eine merklich kleinere Rolle als das schlichte Recht, sich in Bibliotheken aufzuhalten. Die gegenwärtige Erscheinungsform von Bibliotheken wurde in jüngster Zeit deshalb unter verschiedene Begriffe gefasst; am erfolgreichsten ist die Rede vom »Dritten Ort«, mit der der Soziologe Ray Oldenbourg jene Orte meint, die weder Arbeits- noch Familienorte sind, sondern Orte der lokalen Gemeinschaft, Orte der sozialen Interaktion, die sich durchaus auch in gegenseitiger Wahrnehmung erschöpfen kann. Solche Orte werden weniger; gerade in den wachsenden Großstädten schrumpfen die Räume für unverbindliche Begegnungen mit verbindlichen Regeln. Daher der Aufschwung der Bibliotheken, der sich mittlerweile auch städtebaulich und architektonisch niederschlägt. Bibliotheksgebäude gewinnen heute Architekturpreise und fungieren als städtische Landmarken. (Wenn Sie nicht wissen, wovon ich spreche: Googeln Sie mal »LocHal« und »Oodi«.)

Nicht zuletzt initiieren Bibliotheken neue Formen zivilgesellschaftlichen Engagements. Das erschöpft sich nicht in den vielfältigsten Kooperationen, sondern meint vor allem das Nachdenken über den öffentlichen Ort als solchen. Landauf, landab experimentieren Bibliotheken mit »open library«: Die Türen der Bibliothek stehen offen, aber kein Personal ist anwesend, das informieren oder beaufsichtigen könnte. Manch Bibliothekar/in sticht das ins Herz: ein Bestand, und keine/r da, der ihn vermittelt? Für Bürgerinnen und Bürger bedeuten solche Modelle neben dem Zugewinn an Flexibilität auch, in die Verantwortung für gemeinschaftliches Gut genommen zu werden. Und für die Bibliothek selbst ist »open library« nicht nur eine Möglichkeit, den Arbeitszeitregelungen des öffentlichen Dienstes mit modernster Technik ein Schnippchen zu schlagen. Sondern vor allem ein weiterer Baustein in ihrem Portfolio, das einem zentralen Zweck dient: Wissen und Bildung möglichst allen möglichst gut und möglichst einfach zugänglich zu machen. Dass dies aktuell nicht die einfachste Aufgabe ist, ahnt jeder, der nur ein bisschen Ahnung von den sozialen und medialen Umbrüchen dieser Tage hat.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben