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Otto Kirchheimer – ein kritischer Begleiter der Sozialdemokratie

Sucht man nach griffigen Formulierungen, wie man die aktuelle Situation der deutschen (wie der europäischen) Sozialdemokratie auf den Punkt bringen könnte und die in ihrer Kürze auch als Überschriften für eine Beschreibung taugen, wird man bei der Zeitschrift perspektiven ds fündig. »Auf der Suche nach der verlorenen Sozialdemokratie« hieß das Motto für die Ausgabe 2/2017. Und fast wie das Pfeifen im Walde klingt der Titel der Ausgabe 1/2018: »Totgesagte leben länger. SPD in der Existenzkrise«. Die Zeitschrift Neue Gesellschaft|Frankfurter Hefte wählte hingegen zu Jahresbeginn mit »SPD. Ein Kassensturz« eine eher ökonomistische Variante. Zu denjenigen, die sich bereits vor Jahrzehnten auf die Suche nach den Gründen machten, die den Funktionswandel wie den inneren Transformationsprozess sozialdemokratischer Parteien würden erklären können, gehört der zunächst deutsche, dann US-amerikanische Jurist und Politikwissenschaftler Otto Kirchheimer. Er hat den so einprägsamen wie stimmigen Begriff der catch all party geprägt, der gleichermaßen sowohl Licht wie eben auch Schatten eines Prozesses charakterisiert, der ansonsten meist nur als Erfolgsgeschichte erzählt wurde.

Mit dieser Erfolgsgeschichte ist die über eine Phase von mehreren Jahrzehnten erfolgende Transformation der SPD aus einer Interessen- und Milieupartei (reine Klassenpartei war sie nie) in eine sogenannte Volkspartei gemeint. Wer wollte bestreiten, dass dieser Wandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem starken Mitgliederzuwachs, zu erheblichen Zugewinnen bei Wahlen und damit zu einem enormen Anwachsen des politischen Machtpotenzials für sozialdemokratische Politik geführt hat? Die Schattenseite des zunächst nur erklärenden Begriffs der catch all party wird von Kirchheimer in folgender Weise erläutert: »Wenn die Partei eine Organisation ist, die weder Schutz für eine gesellschaftliche Position bietet noch als ein Ankerplatz für intellektuelle Anliegen gilt und kein Bild für die Gestaltung der Zukunft besitzt, wenn sie stattdessen eine Maschine für kurzfristige und nur von Fall zu Fall auftauchende politische Alternativen wird, dann setzt sie sich den Risiken aus, denen sich alle Hersteller von Verbrauchsgütern gegenüber sehen: die Konkurrenz bringt fast den gleichen Artikel heraus – in noch besserer Verpackung.«

Schon seit Jahren führt die SPD darüber Klage, dass ihr die christdemokratische Kanzlerin die Themen klaue und bemüht sich – Wahlkampf für Wahlkampf – als Reaktion darauf um bessere Verpackungen. Dass jemand die durchaus treffende Zustandsbeschreibung der deutschen Sozialdemokratie auch des Jahres 2018, bereits vor mehr als 50 (!) Jahren (nämlich schon 1965) zu Papier bringen konnte, sollte ausreichend sein, um auf diesen klugen Kopf neugieriger zu machen. Wer also war dieser Otto Kirchheimer, der heute nur noch Fachwissenschaftlern ein Begriff ist?

Er wird kurz nach der Jahrhundertwende, 1905, in Heilbronn in einem durchaus wohlhabenden jüdischen Elternhaus geboren, engagiert sich in der jüdisch-deutschen Wandervogelbewegung und wendet sich Schritt für Schritt sozialistischem Gedankengut zu. Er wird bald bei den Jungsozialisten aktiv und schriftstellerisch im linken Flügel der Weimarer SPD tätig. Seine breiten wissenschaftlichen Interessen drücken sich darin aus, dass er zunächst ein Jurastudium absolviert, Jahrzehnte später aber eine Professur für Politikwissenschaften antritt. Er gehört zu einer beeindruckenden Garde jüngerer sozialdemokratischer Juristen in der Periode der Weimarer Republik, die mit ihren politischen wie wissenschaftlichen Interventionen Generationen von Schülern geprägt haben: Zu nennen wären neben seiner Person etwa Ernst Fraenkel, Hermann Heller, Otto Kahn-Freund oder Franz L. Neumann. In gewisser Weise ist Kirchheimer so eine Art »Paradiesvogel« in diesem Kreis: Seine unverstellte wissenschaftliche Neugier führt ihn Mitte der 20er Jahre auch in das Seminar von Carl Schmitt in Bonn, der ihn in den Kreis seiner Doktoranden aufnimmt und 1928 auch promoviert. Schmitt ist in diesen Jahren bereits eine anerkannte Koryphäe seines Fachs, ihn umweht noch nicht der Geruch seiner späteren Rolle als »Kronjurist des NS-Systems«. In beider Schriften (wie in Schmitts Tagebüchern) werden sich auch in den folgenden Jahrzehnten immer wieder Bezugnahmen aufeinander sowie scharfzüngig ausgetragene Kontroversen aufspüren lassen.

Nach seinem Staatsexamen arbeitet Kirchheimer zunächst als Anwalt. Aber schon 1933 wird ihm die Zulassung entzogen, es folgt eine kurzzeitige Inhaftierung, und er flüchtet über Paris in die Vereinigten Staaten. Dort wird er Mitarbeiter im berühmten Office for Strategic Services (OSS) und ist hier u. a. an der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses beteiligt. Später tritt er die genannte Professur für Political Science an der New School for Social Research in New York an. Kirchheimer stirbt 1965 in Washington.

Einer der besten Kenner seines Werkes, der Greifswalder Politikwissenschaftler Hubertus Buchstein, hat sich nun an die lohnenswerte Aufgabe gemacht, die Schriften Kirchheimers in acht thematisch gegliederten Bänden herauszugeben. Der bereits erschienene erste Band versammelt seine Schriften zu Recht und Politik in der Weimarer Republik. Wo seine wissenschaftlichen Schwerpunkte in den frühen Jahren lagen, dokumentiert die Themenwahl für seine 1928 erstellte und hier nachgedruckte Promotion: »Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus«. Bei ihrer Lektüre lernt man zugleich die politische Positionierung des jungen Kirchheimer kennen – als ein von marxschem Gedankengut beeinflusster, aber nicht leninistischer linker Sozialdemokrat. Andere Texte wiederum sind eher journalistische Produkte, Texte im innerparteilichen Meinungskampf, so eine kritische Nachbetrachtung zum Magdeburger SPD-Parteitag von 1929. Stärker fachjuristisch ausgerichtet präsentieren sich wiederum Interventionen zur Wahlrechtsreform bzw. zu seiner Kommentierung von Text und Funktion der Weimarer Reichsverfassung. Auch die für die frühen 30er Jahre dokumentierten Interventionen Kirchheimers changieren zwischen den beiden Disziplinen der Rechts- und der Politikwissenschaft, zeigen zugleich eindrücklich seine Sensibilität für die bedrohlicher werdenden Anzeichen für eine bevorstehende Machtübernahme der Nationalsozialisten.

Verständlicherweise lesen sich viele der hier präsentierten Texte als Kommentierungen zeitgenössischer Probleme und Interessenkonstellationen. Dennoch ist es erstaunlich, in welcher Weise Kirchheimer schon zu dieser Zeit, also nicht erst 1965, ein sensibles Gespür für die Gefährdungen entwickelt, die sich aus innerparteilichen Verkrustungsprozessen entwickeln. Sein Text »Die Problematik der Parteidemokratie« von 1930 könnte eine wahre Fundgrube für die sein, die seit der Verkündigung des Ergebnisses der letzten Bundestagswahl 2017 landauf landab den unabweisbaren Zwang zur Erneuerung der Sozialdemokratie proklamieren, ohne dabei schon näher kenntlich zu machen, wohin denn die Reise gehen soll. Kirchheimer ist ein rigoroser Verfechter des unabweisbaren Zwangs zur Organisation kontroverser innerparteilicher Debatten, soll denn innerparteiliche Demokratie gelingen, und eines entsprechenden Bildungsauftrags seiner Partei. Hierzu lesen wir: »Wir haben heute Meinungsäußerungsfreiheit, aber keine Meinungsfreiheit mehr. Keinem Mitglied der sozialdemokratischen Partei ist es verwehrt, seine Meinung zu äußern; seine Überzeugung ist frei, und die Partei ist im Vergleich etwa zu den Nachbarn von links [Anm.: der KPD] höchst liberal. Aber wer über die Probleme keine eigene Meinung besitzt, wird sich auch kaum eine in der Partei bilden können; denn gerade über die strittigen Punkte, über die die eigentliche Parteimeinung erst gebildet werden soll, wird der Leser täglich im ›Vorwärts‹ oder der ›Fränkischen Tagespost‹ die gleiche einseitige Belehrung erhalten, wie er sie auf der andern Seite etwa durch das ›Sächsische Volksblatt‹ in Zwickau erhält. Eine auf Meinungsfreiheit basierende Meinungsbildung wäre nur möglich, wenn jede Zeitung verpflichtet wäre, ihren Lesern jedes Mal beide Argumente vorzuführen.«

Kirchheimer plädiert zudem für die Aufstellung »scharfer Unvereinbarkeitsprinzipen«: Nichts sei verderblicher, als wenn die Masse der werktätigen Bevölkerung den Willen der Parteiführung mit der tatsächlichen Leistung der Staatsgewalt verwechsele. Deshalb könne, wer Bürgermeister sei, nicht zugleich örtlicher Parteivorsitzender sein. Denn: Eine solche Vereinigung von Staats- und korrespondierenden Parteifunktionen werde meistens dazu führen, dass der betreffende Würdenträger in seiner Person schon einen Ausgleich zwischen den Forderungen seiner Partei und den Verhältnissen seines Amtes vornimmt und beide dann identifiziert. Kirchheimer wusste: Organisatorische Maßregeln ersetzen nicht die inhaltlich-programmatische Aufstellung einer Partei, aber sie können sie mehr oder weniger erleichtern. Insofern lohnt die Lektüre seiner Schriften in beiderlei Hinsicht – theoretisch wie praktisch auch heute noch.

Hubertus Buchstein (Hg.): Otto Kirchheimer – Gesammelte Schriften. Band 1: Recht und Politik in der Weimarer Republik. Nomos, Baden-Baden 2017, 572 S., 59 €.

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