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Ein Rückblick aus der Zukunft auf die Gegenwart Pandemien und ihre Folgen

Die Idee, wir könnten die Gegenwart aus der Zukunft rückblickend erinnern, hat etwas Verlockendes. Könnten wir das, hätten wir den Ungewissheiten dessen, was uns noch bevorsteht, ein Schnippchen geschlagen. Wir hätten die nahe Zukunft übertölpelt, indem wir sie von einer ferneren Zukunft aus in Augenschein genommen hätten. Das ist ein alter Traum der Menschheit, den auszudrücken das Tempus des zweiten Futurs zur Verfügung steht: »Wir werden erfahren haben.« Wir betrachten Gegenwart und nahe Zukunft im grammatischen Rückspiegel, während wir uns tatsächlich noch mitten in der Gegenwart befinden. Aber lässt sich diese grammatische Figur auch materialiter einlösen?

Vorzugsweise dann, wenn wir es mit hohen Wahrscheinlichkeiten zu tun haben – etwa beim Antritt einer Reise: »Sobald ich angekommen sein werde, werde ich anrufen.« Zumeist sind wir uns der Ankunft so sicher, dass wir das zweite Futur durch das Präsens ersetzen: »Sobald ich angekommen bin, werde ich anrufen.« Wir haben die Zukunft im Griff. Wir beplanen sie. Die Einträge, die wir im Kalender machen, sind Vertrauensbekundungen in die Zukunft. Und meistens gehen sie ja auch auf. Nur im zurückliegenden Jahr hat die Corona-Pandemie einen Strich durch die Einträge gemacht. Deswegen sind wir für 2021 vorsichtiger geworden – verbunden mit der Erwartung, dass es ab Herbst 2021 wieder so sein wird wie früher.

Lebenspraktisch haben wir damit Corona eingekesselt. Wir haben die Pandemie mit einem »Davor« und »Danach« umstellt, davon ausgehend, dass das »Danach« mit dem »Davor« weithin identisch sein wird. Insgeheim ahnen wir freilich, dass wir uns damit auf optimistische Annahmen eingelassen haben: dass die Impfkampagne zügig vorankommt, dass der Impfstoff bereits aufgetretene wie zukünftige Mutanten erfasst und dass die Impfwirkung über einen langen Zeitraum anhält. Alle drei Annahmen changieren zwischen Hoffnungen und Best-case-Szenarien. Sie bringen unsere Sehnsucht nach Rückkehr zur »Normalität« zum Ausdruck. Sobald wir uns freilich aus kritischer Distanz beobachten, müssen wir zugeben: Wir wissen nicht, ob Corona eine »Jahrhundertpandemie« ist, wie man gern ein seltenes Ereignis bezeichnet, oder ob sie der Türöffner zu einem »Jahrhundert der Pandemien« ist, also die erste in einer Abfolge globaler Infektionskrankheiten, die sich so schnell ausbreiten, dass sie nicht auf dem Level von Epidemien gehalten werden können. Wenn wir uns im Tempus des zweiten Futurs unserer Gegenwart versichern wollen, so gebietet die intellektuelle Redlichkeit, mit mindestens zwei Szenarien zu arbeiten: dem best case der Jahrhundertpandemie und dem worst case eines Jahrhunderts der Pandemien.

Pandemie und Beschleunigung

Gibt es historische Anhaltspunkte, die uns das Bedenken der Gegenwart aus einer rückblickenden Zukunft erleichtern können? Mit denen sich best und worst case-Szenarien konturieren lassen? Man habe die Wahl zwischen Pest und Cholera, das ist eine gebräuchliche Redewendung, um alternativlose Alternativen zu beschreiben. Will heißen: Weil Pest wie Cholera eine hohe Letalität aufweisen, beide also zumeist mit dem Tode enden, sei es letzten Endes gleich, wie man optiere: Man werde dem Tod nicht entkommen. Das ist jedoch eine individuelle und keine gesellschaftliche Perspektive, weswegen Letalität und Mortalität nicht dasselbe ist: Erstere bezieht sich auf die Sterblichkeitsrate der Infizierten, letztere auf die Todesrate einer Gesellschaft. Im kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft spielt Mortalität die größere Rolle als Letalität. In Gesellschaften treten Infektionskrankheiten nämlich fast immer in begrenzten Räumen und konzentriert auf bestimmte Zeiten auf, einige vornehmlich im Sommer, andere vor allem im Winter, und fast alle zumeist in Kriegszeiten und Kriegsräumen und weniger im Frieden. Gesellschaftlich betrachtet ist der Unterschied zwischen Pest und Cholera gravierend: Die Pest trat in Europa über Jahrhunderte immer wieder auf; im Fall von Cholera war das »nur« einige Jahrzehnte so. Das Erschreckende an Corona war und ist, dass es sich um eine Pandemie der Friedenszeit handelt. Der Friedensschluss als Mittel der Eindämmung fällt in diesem Fall also weg. Nicht der Durchzug von Heeren und die Einquartierung von Soldaten sind hier die Treiber der Infektionen, sondern es sind dies Tourismus, globaler Warenverkehr und Freizeitverhalten.

Dem steht der Umstand gegenüber, dass im Fall von Corona der Impfstoff in einer Zeitspanne entwickelt wurde, die um ein Vielfaches kürzer war als im 19. und 20. Jahrhundert, seitdem man Infektionskrankheiten durch eine systematische Immunisierung der Gesellschaft bekämpfte. Die Entwicklung und Produktion von Seren ist sehr viel schneller geworden; die gesellschaftliche Reaktionszeit auf die Herausforderung hat sich dramatisch verkürzt. Aber ebenso ist auch die Zeit kürzer geworden, in der wir uns von einem Ort zum andern bewegen – und mit uns Bakterien und Viren. Bei der großen Pest von 1348 dauerte es ein ganzes Jahr, bis sie von Italien nach Deutschland gelangte, während es im Fall von Corona nur wenige Wochen waren. Die Reaktion ist schneller geworden, ebenso aber auch die Reaktionserfordernis. Unser Wissen, wie man die Infektionswahrscheinlichkeit begrenzt, ist sehr viel größer als früher, aber gleichzeitig hat das Bevölkerungswachstum auch die Infektionsgelegenheiten erhöht. Das alles mahnt zur Vorsicht bei historischen Analogien. Und doch kommen wir ohne sie nicht aus, wenn wir den Rückblick aus der Zukunft auf die Gegenwart einigermaßen seriös gestalten wollen.

Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass sich beide Entwicklungen die Waage halten. Das ist keine validierte Aussage, sondern dient nur dazu, die Erwartung zu begrenzen, dass medizinische Forschung und pharmazeutische Industrie zu völlig anderen Ausgangsbedingungen geführt hätten. Wir sollten den Abstand, den wir zu früheren Zeiten haben, nicht überschätzen. Die individualisierten Gesellschaften der westlichen Welt sind nicht besonders enttäuschungsresistent. Wir können die Enttäuschung der Erwartung, ein Problem könne schnell gelöst werden, nicht gut verkraften. Enttäuschungsresistenz ist so etwas wie psychische Quarantäne. Wir fallen dann unserer Leichtfertigkeit nicht so schnell zum Opfer. Das haben viele Politiker nicht begriffen, die in Talkshowrunden hemmungslos Erwartungen bedient haben. Funktional betrachtet ist Normalisierungseuphorie die »kleine Schwester« der Corona-Leugnerei.

Was aber heißt das alles für die Beantwortung der Frage, wie wir in zehn Jahren die Pandemie erinnern werden? Die Erinnerung dürfte auf einen Bruch der gesellschaftlich vorherrschenden Mentalität hinauslaufen: Die Besorgtheit habe zugenommen, wird man sich erinnern, und das habe sich auch mit dem Erfolg der Impfkampagne nicht geändert. Zwar hätten die Menschen viel von dem nachgeholt, was sie in der Corona-Zeit absagen oder aufschieben mussten. Aber sie hätten das mit besorgtem Blick getan. Die vormalige Leichtigkeit habe sich nicht wieder einstellen wollen. Nachrichten über Virenmutationen, früher Platzfüller im Wissenschaftsteil, hätten den Status von Breaking News bekommen. Die generelle Sorge habe sich mit einer allgemeinen Gereiztheit verbunden. Der Tourismus habe das Vor-Corona-Niveau nicht mehr erreicht, zumal es in der Südhemisphäre noch über lange Zeit immer wieder zu Ausbrüchen der Pandemie gekommen sei, und auch die zuvor bei Älteren beliebten Kreuzfahrten seien deutlich zurückgegangen. Die Staaten, die Kommunen und sogar die einzelnen Haushalte hätten sich verstärkt um die Einlagerung von Vorräten bemüht, um auf Engpässe vorbereitet zu sein. Dabei hätten sich auch nachbarschaftliche Solidarverbünde beobachten lassen. Aber das alles sei uneinheitlich und widersprüchlich gewesen, denn den Partialsolidaritäten habe gleichzeitig ein generalisiertes Misstrauen gegenübergestanden. Man habe genauer hingeschaut, mit wem man es zu tun hatte. In der Summe habe sich die Gesellschaft in Solidaritätsinseln und allgemeines Misstrauen gespalten.

So könnte eine Rückerinnerung aussehen, bei der dem Szenario keine neuen Pandemieausbrüche zugrunde gelegt und die wirtschaftlichen wie fiskalischen Folgen der Jahre 2020 und 2021 allmählich wieder ausgeglichen werden. Ganz anders dürfte die Rückerinnerung aussehen, wenn es im Abstand von einigen Jahren zu neuen Pandemiewellen kommen sollte. Dann nämlich wird sich der Staat nicht mehr in der Lage sehen, mit großzügigen Hilfen die Folgen der Pandemie und der gegen sie erlassenen Beschränkungen auszugleichen. Dann wird man sich daran erinnern, dass im März 2020 eine »goldene« Ära zu Ende gegangen sei – jedenfalls für die meisten, nicht jedoch für ein paar Pandemiegewinnler. Man sträubt sich dagegen, dieses Szenario als Rückerinnerung auszufabulieren.

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