Es war 14:14 Uhr, als Klaus Mann am 30. Januar 1933, einem Montag, von der Machtübernahme der Nationalsozialisten erfuhr. Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler sowie die Vereidigung des neuen Kabinetts durch den Reichspräsidenten waren gut zwei Stunden zuvor erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich im Zug von Berlin nach Leipzig befunden, wo er für den Nachmittag mit Erich Ebermayer zur Arbeit an einer Bühnenfassung von Antoine de Saint-Exupérys Roman Nachtflug verabredet war. Kaum hatte Klaus Mann den Bahnsteig in Leipzig betreten, hielt ihm sein Freund die druckfrische B.Z. am Mittag unter die Nase. An Arbeit war nicht mehr zu denken. Beide ahnten, dass für die Dramatisierung eines französischen Romans durch zwei homosexuelle Nazi-Gegner an deutschen Theatern absehbar kein Platz mehr sein würde.
Sie sollten Recht behalten. Dass der Machtantritt der Nazis eine historische Zäsur darstellte, ist in der Rückschau eine Selbstverständlichkeit. Den Zeitgenossen war dies freilich nicht im gleichen Ausmaß bewusst – und konnte es auch nicht sein. Ihr Erfahrungsraum war geprägt von rasch wechselnden Regierungen und einer politischen Radikalisierung, deren gewalttätiger Austrag das Straßenbild prägte. Dennoch festigte sich bei den aufmerksamen Beobachtern schnell die Einsicht, dass es diesmal anders war – mit weitreichenden Folgen sowohl für die Literatur in Deutschland als auch die Leben der Schriftstellerinnen und Schriftsteller.
Der Literaturkritiker Uwe Wittstock beschreibt in seinem Buch Februar 1933 die rund sechs Wochen ab Hitlers Regierungsantritt. Sein Anspruch ist nicht eine strukturierte Gesamtschau der Ereignisse, sondern die – oftmals anekdotische – Betrachtung individueller Perspektiven und Handlungsweisen. Dabei geht er chronologisch vor, jedes Kapitel ist mit dem Datum des entsprechenden Tages versehen. Manchen seiner Protagonisten, Ludwig Renn oder Nelly Sachs etwa, gestattet er nur einen Kurzauftritt; andere – u. a. Else Lasker-Schüler, Oskar Maria Graf, Erich Maria Remarque – begleitet er über die Wochen hinweg und skizziert so lesenswerte Miniporträts in einer persönlich und politisch dramatischen Zeit.
Der Schwerpunkt liegt auf den auch heute noch gelesenen Autoren wie Heinrich und Thomas Mann, Alfred Döblin und Carl Zuckmayer; daneben berücksichtigt Wittstock aber auch weniger bekannte Zeitgenossen, wie die Journalistin und Schriftstellerin Kadidja Wedekind oder den kommunistischen Verleger Willi Münzberger, was das Panorama der deutschen Literatur Anfang der 30er Jahre zwar nicht vervollständigt, doch aber um relevante Facetten ergänzt.
Exemplarisch sichtbar werden die Unterschiede zwischen den Dichtern und (wenigen) Dichterinnen während der Sitzungen der Literaturabteilung der Preußischen Akademie der Künste. Auch wenn die Zusammenhänge bereits mehrfach geschildert wurden, erweist sich die Chronologie der Ereignisse als erhellend. Sie zeigt, wie um die Richtung der institutionalisierten Literaturvertretung in Deutschland gerungen wurde. Und wie sich anfänglich zurückhaltend-tastende Positionen binnen weniger Tage im Angesicht der ebenso schnellen wie umfassenden Etablierung des NS-Machtapparats in vermeintliche Überzeugungen wandelten.
Während Heinrich Mann, Alfred Döblin und Ricarda Huch die Unabhängigkeit der Akademie zu bewahren suchten und sich alsbald in der äußeren oder – im Fall Ricarda Huchs – inneren Emigration wiederfanden, witterten Akteure der zweiten oder dritten Reihe wie der Dramatiker Hanns Johst ihre Chancen und stiegen zu hohen NS-Funktionären auf. Auch die fatale Verirrung des diabolisch-genialen Gottfried Benn nahm hier ihren Anfang, als er, um seinen Akademieposten kämpfend, sich den neuen Verhältnissen andiente. Dies war eine Loyalitätsbekundung, die, wie Benn bald feststellen musste, auf Einseitigkeit basierte, da die Nazis – in der Rückschau zu seinem Glück – den Autor der Morgues nie als einen Literaten ihres Gustos anerkennen würden. Auch hier rückt Wittstock neben den bekannten Akteuren jene ins Licht, die heute weitgehend vergessen sind, an die zu erinnern jedoch lohnt – wie den Architekten und Berliner Stadtbaurat Martin Wagner, der als Einziger öffentlich seine Stimme gegen den erzwungenen Ausschluss unliebsam gewordener Akademiemitglieder erhob.
Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster
Wenngleich Wittstock keinen analytischen Zugang wählt, lassen sich neben dem karrieristischen Opportunismus à la Johst und Benn noch mindestens drei weitere Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster unter den 1933 in Deutschland lebenden Literaten ausmachen (nazistische Blut-und-Boden-Schreiberlinge spart Wittstock zu Recht aus): Da sind zum einen die politisch Hellsichtigen, viele von ihnen Juden, denen schnell klar wurde, was die Stunde für sie geschlagen hatte.
Sie hatten sich in der Vergangenheit gegen den Nationalsozialismus positioniert und mussten den unmittelbaren Zugriff der SA fürchten, weswegen sie keine andere Möglichkeit sahen, als Deutschland zu verlassen; zu dieser Gruppe gehörten neben Klaus und Erika Mann, Bertolt Brecht und Helene Weigel auch Joseph Roth und Gabriele Tergit. Was ein Verbleiben in Deutschland bedeutete, zeigen die Schicksale von Carl von Ossietzky und Erich Mühsam, die 1934 bzw. 1938 im Konzentrationslager ermordet wurden.
Weiterhin gab es die Reihe der Zögerlichen, jene, die sich selbst, obwohl grundsätzlich antinazistisch, als unpolitisch definierten und darauf hofften, auch unter dem neuen Regime weiterarbeiten und ihre deutsche Leserschaft erreichen zu können. Ihr bekanntester Vertreter ist Thomas Mann, der zwar fortan in der Schweiz lebte, den endgültigen Bruch mit Deutschland aber bis 1936 hinauszögerte.
Und schließlich all jene, die in Deutschland blieben und sich dorthin zurückzogen, was später »inneres Exil« genannt wurde: Erich Kästner, der sich auf das Verfassen von Kinderbüchern konzentrierte und Material für einen Roman über das »Dritte Reich« sammelte, der nie geschrieben wurde; die unerschrockene Ricarda Huch, die in Heidelberg und dann Jena am dritten Band ihrer Deutschen Geschichte arbeitete; oder Oskar Loerke, der seinen Sekretärsposten in der Akademie aufgeben musste und beim S. Fischerverlag als Lektor Unterschlupf fand.
Wittstock führt vor Augen, wie rasend schnell die Vereinnahmung von Staat und Gesellschaft durch die Nazis im Frühjahr 1933 vonstattenging. Zwischen dem Antritt Hitlers als Reichskanzler und der Verabschiedung der »Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat«, die die Bürgerrechte außer Kraft setzte, liegen gerade einmal etwas mehr als vier Wochen. Was sich in dieser Zeit in deutschen Literaturkreisen ereignete, die persönlichen Dramen ebenso wie die opportunistischen Ränkespiele, dokumentiert sein Buch.
Geschickt nutzt er dafür Montagetechniken, die politische Ereignisse wie den Reichstagsbrand mit dem individuellen Erleben der Protagonisten verknüpfen, und obendrein die Parallelität bestimmter Ereignisse in nahezu skurriler Weise zutage treten lassen: Etwa, wenn am Abend des 10. Februar 1933 Hitler im Berliner Sportpalast geifernd die deutsche Volksgemeinschaft beschwört, während Thomas Mann im Audimax der Münchner Universität Richard Wagner in eine europäische Tradition mit Tolstoi, Zola, Ibsen und Nietzsche einreiht.
All diese Entwicklungslinien mitsamt ihrer zahlreichen Akteure verknüpft Uwe Wittstock geschickt mit der umfassenden politischen und gesellschaftlichen Gleichschaltung Deutschlands durch die Nazis – und entwirft so ein in jeder Hinsicht einzigartiges und zugleich erschreckendes Panorama der deutschen Literaturszene in den Februar- und Märzwochen 1933.
Uwe Wittstock: Februar 1933. Der Winter der Literatur. C.H.Beck, München 2021, 288 S., 24 €.
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