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Wie Kulturschaffende aus der Ukraine ihr Leben meistern Parallelwelten

Unter den rund eine Million nach Deutschland geflohenen Ukrainer*innen gibt es auch zahlreiche Kulturschaffende. Wie kommen sie rund ein halbes Jahr nach ihrer Flucht in Deutschland zurecht? Was beschäftigt sie?

Glück im Unglück hatte Natalka Snjadanko. Die 1973 geborene Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin aus Lwiw war zufällig mit ihrer Familie auf einer kurzen privaten Reise bei Freunden in Kraków/Polen als der Krieg ausbrach: So konnte sie zusammen mit ihren beiden Kindern fliehen, ihr 18-jähriger Sohn hätte sonst in der Ukraine bleiben müssen. Männern zwischen 18 und 60 Jahren ist es nicht erlaubt, das Land zu verlassen. Ihr Mann kehrte freiwillig nach Lwiw zurück.

Nach einer atemberaubenden Odyssee über Polen und Ungarn mit Gepäck nur für ein Wochenende kam Natalka schließlich nach Deutschland und lebt nun mit ihren beiden Teenagern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Marbach am Neckar. Marbach deshalb, weil Natalka hier vom Deutschen Literaturarchiv Unterstützung erhielt. Eine Unbekannte ist Natalka in Deutschland nicht: Sie hat in Freiburg studiert, spricht fließend Deutsch, hat aus dem Deutschen unter anderem schon Franz Kafka, Herta Müller, Günter Grass, Friedrich Dürenmatt und Elfriede Jelinek ins Ukrainische übersetzt.

Das Literaturarchiv Marbach konnte ihr ein neu geschaffenes Stipendium geben und nach dessen Ablauf einen kleinen Job. Vom PEN erhielt Natalka auch eine temporäre Unterstützung. Zudem wird sie zu vielen Lesungen und Podien eingeladen.

Dass sie so gut Deutsch spricht, vereinfacht ihre Situation enorm. Nach Deutschland geflohene Ukrainer*innen dürfen zwar sofort arbeiten, aber die meist bestehende Sprachbarriere vereitelt viele Pläne vom raschen Fußfassen. Über die Deutschen sagt Natalka Snjadanko: »Die Hilfsbereitschaft der Deutschen ist ›unglaublich‹«.

Seit sie in Deutschlands berühmtestem Literaturarchiv arbeitet, forscht sie viel, zum Beispiel über Nikolai Gogol, der stets als russischer Autor wahrgenommen wurde, aber ukrainischer Herkunft ist. Ihr Hauptgebiet sind nun vergessene oder verdrängte ukrainische Schriftsteller, wie der Dichter Wassyl Stus, ein Dissident, der im Gefängnis für den Nobelpreis nominiert war und dann in sibirischer Haft ermordet wurde. Die Sowjets wollten öffentliche Aufmerksamkeit für einen Nobelpreisträger, der im Gefängnis sitzt, verhindern.

Natalka hat ein schlechtes Gewissen, weil sie ein Dach über den Kopf und sogar eine temporäre Tätigkeit hat, während die Situation vieler Kolleg*innen und Freund*innen zu Hause in der Ukraine momentan desolat ist: Sie haben keine Auftritte und dadurch kein Einkommen, weil viele Kultureinrichtungen zerstört sind. Sie leben in ständiger Angst, was den Fortgang des Krieges und ihre Sicherheit angeht. Der Dichter Ostap Slyvynski etwa kann nicht ans Schreiben denken, er ist seit Monaten im Einsatz für Geflüchtete aus dem Ostteil des Landes. Der bekannte Literaturwissenschafter, Übersetzer und Psychoanalytiker Jurko Prochasko hat 14 Menschen in seiner Wohnung in Lwiw aufgenommen. Auch in Natalkas Lwiwer Wohnung leben jetzt Geflüchtete.

Aber einfach ist das Leben auf Zeit in der pittoresken Schiller-Stadt nicht: Natalka empfindet ihre Umgebung als »Parallelwelt, die friedlich, gemütlich und voller netter Menschen ist«. In Kontakt mit Freund*innen und Angehörigen aus der Heimat, per Computer oder Telefon »gibt es eine völlig andere Realität, die genauso übertrieben und unglaublich erscheint, aber auf eine andere Art und Weise. Ich lebe also in zwei unwirklichen Parallelwelten und hoffe, nicht verrückt zu werden«.

Kugelsichere Westen statt Bücher

Natalkas Mann und Vater ihrer Kinder ist eingezogen worden. Zum Leben in Paralleluniversen gehört auch das: »Mit meinen Kollegen in Lwiw habe ich in den letzten Monaten nicht über Bücher und Ideen gesprochen, sondern darüber, wo wir kugelsichere Westen bekommen können«, sagt sie. »Das liegt daran, dass man einen Teil der Ausrüstung selbst organisieren muss. Das ist im Moment alles andere als einfach«.

Wenigstens diese Sorge hat die 1992 geborene Anastasiia Kosodii nicht. Ihr Partner und sie hätten sich vor dem Krieg im rechten Moment getrennt, sagt sie nicht ohne Sarkasmus. Anastasiia Kosodii ist aus dem damals bombardierten Kiew mit nur einem kleinen Koffer geflohen. Fünf Monate lang teilte sie sich eine Einzimmerwohnung in Berlin-Treptow mit einer Freundin und deren Katze. Zum Glück haben sich die drei gut verstanden.

Jetzt hat sie endlich eine eigene kleine Wohnung in Kreuzberg. Kosodii ist Regisseurin und Theaterautorin. Sie war Mitbegründerin eines progressiven Theaters in ihrer Heimatstadt Saporischschja, später wurde sie Chefdramaturgin des »PostPlay Theaters« in Kiew. In der Ost-Ukraine hat sie seit 2014 mit NGOs gearbeitet, mit vom Krieg traumatisierten Kindern, um ihnen mittels des Schauspiels eine Möglichkei zu geben, sich auszudrücken. Für Anastasiia ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Krieg bereits 2014 begann. Von 2014 bis zum Februar 2022 verloren in der Ost-Ukraine etwa 13.000 Menschen ihr Leben. Als Dramatikerin beschäftigt sich Anastasiia seit Langem mit fernen, vergessenen und verdrängten Geschichten und damit, wie sich Gewalt in die Seelen von Gesellschaften einschreibt.

Auch sie war, wie Natalka Snjadanko, bereits international erfolgreich. Sie spricht fließend Englisch, auch sie sieht sich durch ihre Kontakte zur Theaterszene in Deutschland privilegiert. Sie bekam nun Aufträge aus Berlin, München und Mannheim. Doch die Parallelwelt holt sie auch hier ein: Ihre Eltern leben in Saporischschja. Die Russen haben die Vorstädte bombardiert. Und natürlich ist sie besorgt über die Nähe des Atomkraftwerks in Enerhodar. Eine Kleinstadt, in dessen Schule Anastasiia ein Theaterprojekt mit Kindern geleitet hatte, wurde auf die gleiche Weise dem Erdboden gleichgemacht wie Mariupol. Die Schule gibt es nicht mehr.

Anastasiia hat den Weg zurück gewagt, im Sommer ihre Eltern besucht. Sie ist somit ein Beispiel für die neue Pendel-Migration, wie der soziologische Fachterminus heißt, bislang bekannt aus Südosteuropa (dem ehemaligen Jugoslawien), aber nicht aus kriegsgebeutelten Ländern wie Syrien, Irak oder Afghanistan. Die Ukraine liegt geografisch näher an Deutschland, um solch eine Migrationsform zu ermöglichen. Vom fröhlichen Tourismus, wie Friedrich Merz schwadronierte, kann jedoch nicht die Rede sein. Jede Reise findet unter Lebensgefahr statt. Wer gestern noch dachte, in Kiew sei er einigermaßen sicher, kann morgen dort schon ausgebombt werden, wie die neueren Raketenangriffe zeigen. Das große Sozialschmarotzertum, über das Merz fabulierte, ist eine Chimäre.

Zudem: All diese Aufträge und Stipendien, die in erster Linie privilegierte Kulturschaffende mit guten Fremdsprachenkenntnissen erlangen können, bieten nur sehr begrenzte Zeit Unterstützung. Dann muss erneut gesucht werden, in einem fremden Land, das nicht für bürokratische Spaziergänge bekannt ist. Und: Stipendien und andere Zuwendungen werden bis auf 200 Euro mit den Sozialleistungen verrechnet.

Immerhin: Es gibt viele Projekt, zum Beispiel vom Goethe-Institut, aber auch vielen anderen Einrichtungen, zur temporären Unterstützung von ukrainischen Kulturschaffenden. Deutschland war jetzt, so überraschend der Krieg am 24. Februar 2022 begann, doch besser vorbereitet und konnte schneller reagieren als im Herbst 2015. Aber man muss, um hiervon profitieren zu können, in der Lage sein, im Ausland gleich munter kreativ tätig zu werden, sich abends in der Kulturszene zu tummeln und in die »Projektarbeit mit lokalen Trägern« stürzen zu können.

Die Programme heißen »Weltoffenes Berlin« oder »INTRO« und sind sehr gut gemeint. Der Kulturfonds Sachsen-Ukraine beispielsweise möchte der »Umsetzung von konkreten künstlerischen Projekten und Veranstaltungen dienen«. Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds hat ein Programm ins Leben gerufen, mit welchem er deutsch-tschechisch-ukrainische Projekte »unter begünstigten Bedingungen« fördern möchte. Als ein positives Beispiel möchte ich aber die »Brücke aus Papier« – ukrainisch-deutsche Schriftstellertreffen – erwähnen, die die Kulturvermittlerin, Übersetzerin und Kuratorin Verena Nolte in eigener Initiative schon seit 2015 organisiert und die erst einmal den menschlichen Austausch befördert. Das gilt auch für »Weiter Schreiben«, ein Berliner Projekt, das seit 2017 den direkten Austausch zwischen geflüchteten und hiesigen Schriftsteller*innen unterstützt.

Schwieriger gestaltet sich die Situation zum Beispiel für geflüchtete Kulturschaffende wie Oksana Stomina, Jahrgang 1972, Lyrikerin und humanitäre Aktivistin aus Mariupol. In ihrer Heimatstadt half Oksana den vielen Menschen, die im Theater Schutz gesucht hatten und versorgt werden mussten. Das Theater lag gleich um die Ecke von ihrem Haus. Am 16. März verließ Oskana ihre Wohnung, um zum Theater zu gehen. Doch an diesem Morgen stand der Bruder ihres Mannes vor ihrem Haus. Trotz der anhaltenden Bombardements hatte er sich entschlossen, mit seiner Familie einen Fluchtversuch zu unternehmen. Oksana konnte nichts mitnehmen. Wenige Stunden später wurde ihre Wohnung durch eine Bombe völlig zerstört, ebenso wie das Theater. Die Fotos des zerstörten Theaters mit dem Wort »Kinder« auf Russisch auf dem Straßenpflaster gingen um die Welt. Eine unbekannte Zahl von Menschen wurde getötet, darunter viele Frauen und Kinder.

»Es ist unmöglich, das, was ich erlebt habe, auch nur ansatzweise zu teilen. Ich erwäge, ein Buch darüber zu schreiben, ein Buch über mittelalterliche Grausamkeiten, verstärkt durch moderne Technologien«, sagt Oksana, mit der man sich per Übersetzungsapp verständigen kann. »Der Weg nach draußen am 16. März war hart, lang und voller Gefahren«, schrieb sie. »Unser Konvoi geriet unter Beschuss, sobald wir uns auf den Weg machten. Viele Autos drehten um und fuhren zurück. Aber nicht unser Auto. Wir fuhren weiter – trotz der Bombardierung. Für eine zehn Kilometer lange Strecke brauchten wir wegen der vielen russischen Kontrollposten sieben Stunden. Jedes Mal wiederholten die »Ruzis« (Rushisten oder russische Nazis) den gleichen Satz: ›Bitte schließen Sie die Fenster, damit sich die Kinder nicht erkälten‹. Im Kontext der aktuellen Ereignisse klang das übermäßig zynisch.«

Es wurde wahllos auf Autos geschossen, sodass einige Leute tote Familienmitglieder zur Grenze befördern mussten. Manchmal mussten Frauen aus den Autos zu den Soldaten. Willkürlich wurden Autos auf ein vermintes Feld geschickt. Einige Autos explodierten mitsamt den darin befindlichen Menschen, andere nicht. Oksana steht stark unter dem Eindruck der extremen Ereignisse, die sie erleben musste.

Krieg der Sprachen?

Derzeit lebt sie mit ihrer erwachsenen Tochter in München bei einer älteren Dame, die sie aufgenommen hat. Oksana ist ihr zutiefst dankbar. Aber im Paralleluniversum München tauchen immer wieder Gedanken an das Erlebte und an ihren Mann auf: Sie musste ihn zurücklassen. Er kämpfte als Soldat, kam ins Asowstal-Werk und befindet sich nun in russischer Gefangenschaft. Sie hat lange nichts mehr von ihm gehört. Eine quälende Situation. Immerhin, sie schreibt sehr viel. Auf Russisch.

Oksana Stominas Muttersprache ist Russisch, aber nur weil sie Russisch spricht, heißt das noch lange nicht, dass sie unter Putin leben wollen würde. Nichts liegt ihr ferner als das. »Putin schweißt uns zusammen«, sagt auch Andrej Kurkow, einer der bekanntesten ukrainischen Schriftsteller, der auf Russisch schreibt und der Leiter des ukrainischen PEN ist. »Die russische Sprache gehört zur Ukraine, nicht die russischsprachigen Ukrainer zu Russland«, so Kurkow, dessen Bücher jetzt in Russland verboten sind.

Auch Natalka Snjadanko beschäftigt sich mit der sprachlichen Dominanz des Russischen. »Bis heute gibt es ›Studien‹, die versuchen, die ukrainische Kultur einschließlich der Sprache als minderwertige, unterentwickelte Kultur abzutun, über die es sich nicht zu reden lohnt«, sagt sie. Und: »Jahrhundertelang wurde die ukrainische Sprache von den Russen ›Kleinrussisch‹ genannt. Es handelt sich hierbei um ein postkoloniales Syndrom, nach der sich die russische Kultur als die bessere und die wichtigere versteht im Vergleich zu den anderen osteuropäischen sogenannten ›kleinen‹ Kulturen«, so Snjadanko – sie versucht in Interviews und bei Lesungen über das »postkoloniale Syndrom« aufzuklären. Das sind die Momente, in denen die deutsche Kulturwelt und ihre ukrainische »Parallelwelt« Überschneidungen aufweisen.

Anastasiia Kosodii nutzt ihre Bekanntheit, um in Deutschland auf die Gräuel des Krieges aufmerksam zu machen. Mit einem bemerkenswert trockenen Humor und einer guten Portion Selbstironie hat sie zum Beispiel über ihre hektische Flucht vor den Bomben in Kiew geschrieben. Sie hofft, bald wieder in die Ostukraine reisen und dort die zerstörte Theaterszene ein Stück weit aufbauen zu können.

Ihre Sorgen kreisen derzeit jedoch noch um ein anderes Thema: um die zunehmend kritische Haltung vieler Deutscher gegenüber der Ukraine angesichts steigender Energiepreise und um Rechtspopulisten, die den Zuspruch zu untergraben und für sich zu instrumentalisieren versuchen Und dann noch diese bange Bitte: Hoffentlich passiert nichts mit dem Atomkraftwerk. Neulich, so Anastasiia, textete ihre Mutter aus Saporischschja, dass sie zum Friseur gegangen sei. Da war die junge Regisseurin glücklich wie lange nicht mehr: »Es klang so normal!«

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