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Überlegungen in turbulenten Zeiten Passt das Ökologische zum Sozialen?

Die Herausforderungen der Nachhaltigkeit, des Ökologischen lassen sich auf dem Wissensstand von heute relativ einfach erzählen und zusammenfassen. Die Naturwissenschaften können uns die bio-physischen Grenzen des Planeten benennen, z. B. die des Klimasystems, der Ozeane, der Wälder, der weltweit verfügbaren Böden, der Wasserkreisläufe, der Biodiversität. Hier geht es nicht um »Umweltschutz« oder »-konservierung«, sondern um die grundlegende Frage, welche Bausteine des Erdsystems erhalten bleiben sollten, um bald zehn Milliarden Menschen eine gute Zukunft zu ermöglichen.

Wir können und würden viele dieser Grenzen im Verlauf des 21. Jahrhunderts überschreiten, wenn wir unsere Produktions- und Konsummuster der Gegenwart in die Zukunft fortschrieben. Wenn diese Grenzen überschritten würden, könnten Kipppunkte im Erdsystem erreicht werden: Das Monsunsystem in Asien könnte kollabieren, das Amazonas-Regenwaldgebiet könnte austrocknen, die Polkappen könnten zu schmelzen beginnen. Ein »Erdsystemwandel« ist also möglich, verursacht in diesem Jahrhundert, durch die Menschen selbst.

Das ist eine zivilisatorische Herausforderung. Wir Menschen sind zur stärksten geologischen Kraft im Erdsystem geworden. In der Wissenschaft sprechen wir in diesem Zusammenhang vom »Anthropozän« – dem Zeitalter der Menschen. Damit ist eine große Verantwortung verbunden: Wir Menschen müssen das Erdsystem auf Dauer stabilisieren und eine Wirtschafts- und Lebensweise »erfinden«, die zukünftigen Generationen Lebensperspektiven erhält. Das wird ohne einen großen Schub internationaler Kooperation nicht gehen. Wenn diese ökologischen Imperative nicht eingehalten werden, lassen sich soziale Fragen künftig nicht lösen. Eine um drei bis vier Grad wärmere Welt – das ist der Pfad auf dem wir uns augenblicklich noch befinden – würde zu Unsicherheit, Konflikten und Kontrollverlusten führen.

Die größte Herausforderung ist das kleine Zeitfenster, um die Probleme zu lösen. Bis etwa 2030 müssen die entscheidenden Weichen gestellt sein. Die wesentlichen Lösungen sind bekannt: Die Weltwirtschaft muss bis spätestens 2070, in den wohlhabenden Ländern bis etwa 2050, dekarbonisiert werden. Bis etwa 2050 muss eine globale Kreislaufwirtschaft entstehen, damit Wohlstandssteigerung auf Dauer vom Ressourcenverbrauch und dem Druck auf die Ökosysteme entkoppelt werden kann. Und wir sollten zudem unsere Lebensstile überdenken und Wohlempfinden nicht nur mit materiellen Zuwächsen gleichsetzen. Wo stehen wir in diesem Prozess? Bewegen wir uns in die richtige Richtung? Ich möchte zunächst eine optimistische Interpretation anbieten.

Seit den Anfängen der Umweltdiskussion (mit dem Bericht Grenzen des Wachstums des Club of Rome von 1972) ist viel passiert. Man kann argumentieren, dass nun die Elemente, Konzepte, das Wissen und die Wahrnehmungen vorhanden sind, um eine Transformation zur Nachhaltigkeit zu ermöglichen. Der Historiker Jürgen Osterhammel benutzt in seiner Analyse des Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert den Begriff der »Häufigkeitsverdichtungen«. Wenn immer mehr Dynamiken in die gleiche Richtung der Veränderung gehen, kann ein gesellschaftlicher Regimewechsel stattfinden. Meine Hypothese ist, solche Häufigkeitsverdichtungen in Richtung Nachhaltigkeit lassen sich heute beobachten, zumindest werden sie möglich. Da wären die Klimabeschlüsse von Paris zu nennen und die Verabschiedung der Agenda 2030 mit ihrer Vision einer nachhaltigen und inklusiven Entwicklung von 2015, seit 2014 liegen die weltweiten Neuinvestitionen in erneuerbare Energien bei über 50 % der gesamten Investitionen in die Energieerzeugung; das zukünftige Geschäftsmodell der Energieerzeugung ist erneuerbar – noch 2009 lagen fossile und nukleare Energieinvestitionen bei 80 %! Großinvestoren ziehen zudem weltweit ihre Investitionen aus fossilen Sektoren ab und setzen auf grüne Innovationen. Die deutsche Energiewende wird von dutzenden Ländern kopiert, Papst Franziskus veröffentlichte die Enzyklika Laudato Si, die sich mit Umwelt- und Klimaschutz auseinandersetzt; selbst die Weltbank, jahrzehntelang ein Bollwerk klassischer Wachstumspolitik, hat sich die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft auf die Fahnen geschrieben. Die Liste ließe sich verlängern.

Die Kernaussage von alledem ist: Wir könnten Zeitzeugen einer sich beschleunigenden Transformation hin zur Nachhaltigkeit sein. Diese Transformation ist möglich. Aber ich bin nicht naiv. Die Beschlüsse von Paris stellen bisher nur etwa 50 % dessen dar, was notwendig wäre, um tatsächlich unter einer globalen Erwärmung von zwei Grad zu bleiben. Doch alle Bestandteile der Transformation sind vorhanden; die Beschleunigung und Bündelung dieser Häufigkeitsverdichtungen wären ein lohnendes Projekt für die nächste Bundesregierung.

Doch wir stehen am Scheideweg. Während sich also endlich die »Bedingungen der Möglichkeit« (Immanuel Kant) für die Transformation zur Nachhaltigkeit herausbilden, baut sich eine ganz andere Welle der Transformation in vielen Gesellschaften auf. Ich spreche von der Gegentransformation, die sich aus Rechtspopulismus, Xenophobie, Nationalismus, Absage an internationale Kooperation, »our country first-Strategien«, Abschottung, Autoritarismus und Klimaskeptizismus speist.

Ursachen der rechtspopulistischen Gegentransformation

Trump, Orbán, Le Pen, Brexit, AfD … Nicht nur das Erdsystem kann an Kipppunkte geraten, unsere Gesellschaften ebenfalls. Sind 50 % der Bevölkerung vieler (nicht nur) westlicher Gesellschaften politisch verrückt geworden? Was muss passiert sein, damit Mehrheiten einen Donald Trump unterstützen? Wo kommt diese Wut her? Es gibt natürlich viele Treiber, unterschiedliche Bedingungen in unterschiedlichen Ländern, aber vier ineinandergreifende Ursachenkomplexe scheinen mir im Zentrum zu stehen. Die gute Nachricht ist: Gegen alle vier kann man etwas tun! Darauf komme ich gleich noch einmal zurück. Hier sind zunächst die Ursachen

Erstens: Sozio-ökonomische Gewinner und Verlierer der Globalisierung, des technologischen Wandels und immer stärker auch der Digitalisierung. Ungleichheiten nehmen in vielen Ländern zu, Abstiegsängste grassieren bis in die Mittelschichten – und zwar in einem Land wie Schweden, wo eine relativ gleichmäßige Einkommensverteilung besteht, genauso wie in den USA mit einer ungleichmäßigen Einkommensverteilung. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in vielen Ländern hoch und die Industriebrachen in den USA und in Großbritannien sind »Trump- und Brexit-Regionen«. Die Antworten der Rechtspopulisten lauten: Protektionismus, Mauern bauen, nationale Arbeitskräfte zuerst.

Zweitens: Neben den ökonomischen und sozialen Schieflagen geht es auch um Kontrollverlust. Die Finanzmarktkrisen seit 2008, Ebola, Flüchtlinge und weltweite Datenbewegungen und Abhörskandale (selbst zwischen befreundeten Staaten) lassen die Globalisierung als unkontrollierbar erscheinen, als nicht mehr steuerbar. Unsicherheit ist die Folge. Die Staaten können ihre Bürger scheinbar nicht mehr schützen. Demokratie erscheint als leeres Versprechen, wenn »die Globalisierung« außer Kontrolle ist. Damit gerät Demokratie in Gefahr.

Unsere Antworten hierauf lauten: Global Governance, internationale Kooperation. Doch die Bumerangs der Globalisierung schlagen immer häufiger in unseren Gesellschaften ein – nicht mehr nur in den armen Ländern. Viele Menschen glauben nicht, dass internationale Kooperation funktioniert. Die Antworten des Rechtspopulismus lauten: »our country first«; Mauern bauen gegen »Mexikaner«, »Flüchtlinge« und alle, »die uns ausnutzen«.

Drittens: Abgekoppelte Eliten. Demokratie basiert auf der Grundidee, dass alle angemessen zum Gemeinwesen und -wohl beitragen. Dies gilt erst recht für unsere sozialen Demokratien, für unser Verständnis von Wohlfahrtsstaaten. Doch die Wahrnehmung ist, dass dies zunehmend nicht mehr der Fall ist. Die Beobachtung ist, dass der Gesellschaftsvertrag für sozialen Zusammenhalt und soziale Kohäsion, der nach zwei Weltkriegen in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern entstanden ist, von einem Teil der Gesellschaft einseitig aufgekündigt wird. Dies führt zu Legitimationskrisen für unsere Demokratien. Hier entsteht der Anti-Eliten-Diskurs der Rechtspopulisten.

Zwei Dinge stehen hierbei im Zentrum. Zum einen verfügen große, international agierende Unternehmen offenbar über enorme »Steuergestaltungmöglichkeiten«: Die OECD schätzt, dass den Regierungen der Industrieländer dadurch jedes Jahr 100-240 Milliarden Euro verloren gehen. Eines der innovativsten Unternehmen der Weltwirtschaft, Apple, zahlte 2004 weniger als 1 % Steuern, 2014 waren es nur noch 0,005 %. Das ist skandalös; für viele, die ihre monatlichen Steuern direkt abführen, völlig unverständlich. Zum anderen sind die »Panama-Papers« ein Symbol dafür, dass Menschen ab einem bestimmten Einkommen ihre Einkommenssteuern durch geschickte Transaktionen selbst in der Hand haben. Für sie gelten scheinbar andere Regeln als für den Normalbürger.

Hier geht es nicht um Sozialneid. Die skizzierten Praktiken verletzen jedes Gerechtigkeits- und Fairnessgefühl. Sie gehen an die Grundfesten der Demokratie: Für alle gelten verbindliche Regeln, egal, wo man in der Einkommenspyramide der Gesellschaft steht. Alle müssen zum Gemeinwesen beitragen. Aber die Abkoppelungen eines Teils der Gesellschaft gehen weiter: Eine Bürgergesellschaft braucht öffentliche Räume – doch wenn dafür die Investitionen fehlen, ziehen sich manche in ihre privaten Räume, in gated communities zurück.

Die Demokratie basiert auch darauf, dass ein gemeinsames, öffentliches Schulsystem die Menschen zusammenführt, sodass »eine Gesellschaft« überhaupt entstehen kann – doch weil die Schulen oft in keinem guten Zustand sind, schicken die Menschen, die sich das leisten können, ihre Kinder auf private Schulen.

Demokratien sind auf Verantwortungseliten angewiesen, die Aufgaben auf Zeit übernehmen und in das Rechtssystem eingebunden sind – nicht darüberstehen. Und in diesem Raum gehören viele genau zu dieser gesellschaftlichen Gruppe. Wenn sich der Eindruck ausbreitet, »die Eliten« hätten immer weniger mit anderen Teilen der Gesellschaft zu tun, dann erodieren Grundlagen der Demokratie.

Viertens: Identitätsverlust – Verlust sozialer Kohäsion. »Identität« ist zunächst etwas sehr Positives; jeder Mensch, jeder Bürger braucht das Gefühl der Zugehörigkeit, der sozialen Anerkennung, eine »Heimat« – Jürgen Habermas hat einmal von »Verfassungspatriotismus« gesprochen.

Wir Menschen sind keine Solitäre, sondern soziale Wesen. Wir brauchen funktionierende Gruppen und Gemeinwesen, um unser persönliches Glück finden zu können. Wir brauchen Zusammenarbeit und Vertrauen, um Probleme lösen zu können. Wenn das Gefühl um sich greift, dass diese sozialen Netzwerke der Zugehörigkeit zerfallen, dann entsteht »prekäre Identität«. Die Verwendung des Begriffs »White Trash« für die Teile der weißen Arbeiterschaft in den USA, die Opfer des ökonomischen Strukturwandels geworden sind, zeigt, dass hier Ausgrenzung und Verachtung stattfanden, bevor die Verachteten und Ausgegrenzten selbst ihre Wut auf »die Anderen« richteten.

In der Flüchtlingsfrage in Europa (nicht »Flüchtlingskrise«, denn die findet nicht bei uns, sondern in Nordafrika und anderswo statt) wird Ähnliches deutlich: Angst vor dem Fremden und Angst vor Verteilungskonflikten zwischen denen, die hinzukommen und denen, die schon hier sind und auch Hilfe benötigen.

Wahrscheinlich ist die mentale Furcht vor »dem Fremden« wichtiger, als die realen Verteilungskonflikte. Verglichen z. B. mit den Kosten der Bankenkrise oder den möglichen finanziellen Risiken der »Griechenlandkrise« sind die Mittel, die zum Schutz und zur Integration von Flüchtlingen in Europa aufgewendet werden müssen, gering. Dass 500 Millionen Wohlstandsbürger (bei allen sozialen Problemen, mit denen wir in unseren Ländern zu kämpfen haben) an die scheinbaren Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und ihrer Solidarität geraten, wenn eine Million Kriegsflüchtlinge sich hierher verirren, während über zwölf Millionen Flüchtlinge in Nordafrika selbst überleben müssen, ist für mich nahe an einer normativ-moralischen Bankrotterklärung Europas. Ich bin nur froh, dass die Hilfsbereitschaft in Deutschland weiter hoch ist.

Zwischen dieser »prekären Identität« und den »Abgründen des Identitären« verläuft ein schmaler Grat. Jenseits dieser Grenzen wird es bestandsgefährdend für die Demokratie: Zu der »dunklen Seite« der Identitätspolitik gehört der Wohlstandschauvinismus, der auch von Teilen der Mittelschichten gepflegt wird; die Absage an internationale Verpflichtungen und Zusammenarbeit inklusive der Bekämpfung der EU; Autoritarismus und die Anfeindung der offenen Gesellschaft; offene Ausländerfeindlichkeit, Hass und Rassismus; die Renaissance des »Völkischen« sowie die Ausgrenzung von Minderheiten bis hin zur Gewalt. Wenn der gewählte amerikanische Präsident nahezu alle diese Elemente bespielt, muss uns das beunruhigen.

Das sind die vier miteinander verschachtelten Verursachungskomplexe der rechtspopulistischen Gegentransformation. Verunsicherung, Angst und Wut entstehen nicht aus dem Nichts. Wer sich für die Geschichte interessiert, dem empfehle ich Philipp Bloms Der taumelnde Kontinent. Er beschreibt Europa im Zeitraum von 1900 bis 1914. Es ergeben sich erstaunliche Analogien: die sich beschleunigende Internationalisierung der Wirtschaft, der rasche technologische Wandel, Strukturveränderungen und Arbeitslosigkeit, der Urbanisierungsschub – entfesselte und schließlich überforderte Gesellschaften. Den zweiten Anlauf zur Bewältigung von Globalisierung und beschleunigtem technologischen und sozialen Wandel sollten wir besser bewerkstelligen als vor ziemlich genau einem Jahrhundert.

Aus Sicht der Angst- und Wutbewegungen verschärft nun die grüne Transformation die allgemeine Verunsicherung und die vier Ursachenkomplexe, die den Rechtspopulismus antreiben: Die »große Transformation« zur Nachhaltigkeit bedeutet also einen beschleunigten Strukturwandel, eine Verantwortung für das Erdsystem und eine internationale Kooperationskultur. Für diejenigen, die sich schon durch Globalisierung und Strukturwandel benachteiligt fühlen, hört sich das an wie eine andere Variante des »Elitendiskurses«. Kurzum: Die Nachhaltigkeitstransformation muss sich nicht nur gegen wirtschaftsliberale Protagonisten durchsetzen, die jeder Regulierung und Gestaltung der Marktwirtschaft skeptisch gegenüberstehen, sondern auch gegen die rechtspopulistische Gegentransformation.

Was kann man tun?

Erstens: Gewinner/Verlierer der Globalisierung – Es gibt ein inklusives Modernisierungsprojekt. Der Wissenschaftliche Beirat für globale Umweltveränderungen der Bundesregierung (WBGU), den ich mit der Völkerrechtlerin Sabine Schlacke leite, hat 2011 unter dem Titel Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation zur Nachhaltigkeit eine Studie vorgelegt, um zu zeigen, wie der Übergang zu einer klimaverträglichen, nachhaltigen Weltwirtschaft gelingen kann. Sie geht auf folgende Fragen ein: Welche Sektoren müssen transformiert werden, in welchen Zeiträumen und mit welcher Geschwindigkeit, welche Technologien sind notwendig, welche Anreize sinnvoll, was kostet das alles?

Nun würde ich folgende Selbstkritik anbringen. In der 500 Seiten starken Analyse widmen wir der Frage, wie ein beschleunigter, grüner Strukturwandel sozial gestaltet werden kann, zu wenig Raum. Dekarbonisierung und Kreislaufwirtschaft müssen integrativ und systematisch mit der Frage der sozialen Inklusion verbunden werden. »Grün« ist nicht automatisch »sozial«, »grün« kann soziale Herausforderungen sogar verschärfen. Beispiele dafür sind die Lausitz, das Ruhrgebiet oder die Automobilindustrie, der das Schicksal von RWE u. a. droht, wenn sie die Zeichen der Veränderung Richtung Elektromobilität übersieht. Ich plädiere nun nicht für lauwarme Kompromisse. Das Zeitfenster zur Vermeidung eines gefährlichen Erdsystemwandels ist extrem klein – aber: Wir müssen konkrete Transformationsstrategien zur Nachhaltigkeit entwickeln, die die ökologischen und die sozialen Herausforderungen zugleich angehen und Menschen für diese Veränderungen »mit an Bord nehmen«. Nur so entsteht eine Legitimation für den ökologischen Wandel – dies gilt erst recht in Entwicklungs- und Schwellenländern.

Zweitens: Kontrollverlust – Internationale Kooperation schafft Sicherheit und soziale Kohäsion. Weil viele Menschen bezweifeln, dass globale Herausforderungen und Globalisierung durch internationale Kooperation beherrschbar werden können, sind positive Beispiele wichtig. Die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens ist eine Chance zu zeigen, dass Multilateralismus funktioniert. Die G20-Präsidentschaft Deutschlands in 2017 muss entsprechend genutzt werden. Denn eine Großbaustelle, die für Wahrnehmungen des Kontrollverlustes, der Unsicherheit, der Intransparenz, der Gerechtigkeitsdefizite verantwortlich ist, sind die internationalen Finanzmärkte. Hier müssen Fortschritte erzielt werden, um soziale Fliehkräfte zurückzudrängen. Das Primat der Politik, als Basis der Demokratie, muss wieder durchgesetzt werden.

Die Finanzmärkte müssen in vier Dimensionen an Haupt und Gliedern reformiert werden: Zum einen sind Finanzmärkte Ungleichheitsmultiplikatoren. Wer über kein Kapital verfügt, kann nicht »mitspielen«, wer »mitspielt«, wird nur unzureichend besteuert; zudem müssen Steuervermeidungsstrategien von Wohlhabenden und international agierenden Unternehmen sowie Steuerwettläufe zwischen Staaten eingedämmt werden; ferner müssen die Volatilitäten und Spekulationsdynamiken weiter reduziert werden, um zu verhindern, dass Bürger in der nächsten Finanzkrise erneut die Rettung des Finanzsystems bezahlen müssen; außerdem werden trotz des Null-Zins-Niveaus in der Weltwirtschaft immer noch zu geringe Investitionen in die Sektoren gelenkt, die für die Nachhaltigkeitstransformation notwendig wären. Hier müssen Anreizstrukturen und Regeln neu geordnet werden.

Drittens: Abgekoppelte Eliten – Erneuerung der solidarischen Gesellschaft. In diesem Zusammenhang sind zwei Dinge vordringlich: Da ist zum einen die Steuerpolitik. Eine Erbschaftssteuerpolitik und transparente Finanzmärkte, die Steuervermeidungsstrategien erschweren, sind »technische« Antworten auf die Abkoppelung von Eliten, mit denen signalisiert werden kann, dass alle Bürger angemessen zum Allgemeinwesen beitragen. Noch wichtiger aber ist, dass es um unser Gesellschaftsbild geht, um eine »Haltung«, um die kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft: Gemeinwohlorientierung, Verantwortungsgemeinschaft, sozialer Ausgleich als Grundlage der Demokratie – Erhard Eppler hat das als »solidarische Gesellschaft« bezeichnet. Hierauf müssen wir uns wieder und neu verständigen, um soziale und politische Fliehkräfte einzudämmen. Den Gegenentwurf sollten wir ad acta legen, er ist nicht demokratietauglich: Shareholder-Gesellschaft, Marktdemokratie, Marktgesellschaft.

Viertens: Prekäre Identität und Ausgrenzung – Perspektiven, Hoffnung, Zukunft schaffen. Gegen Verunsicherung, Angst und Wutpolitik helfen Perspektiven, Hoffnung und die Schaffung von Zukunftsräumen. Drei Dimensionen seien an dieser Stelle genannt

  • Wohlstand und Entwicklung: Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, 2015 von den Nationalstaaten innerhalb der Vereinten Nationen verabschiedet, ist ein multilateraler Glücksfall in turbulenten Zeiten. Sie könnte für die Weltwirtschaft, für nationale Gesellschaften, auch für Deutschland einen Rahmen für einen Gesellschaftsvertrag für inklusive und nachhaltige Entwicklung darstellen. Die Agenda 2030 kann zugleich zu einem Modernisierungs-, Gerechtigkeits- und Friedensprojekt werden. Wer dieses Dokument liest, könnte vermuten, Willy Brandt und Erhard Eppler hätten persönlich daran mitgeschrieben.
  • Europa: Bei allen Schwierigkeiten bleibt die Europäische Union das ambitionierteste und erfolgreichste Kooperationsprojekt zwischen Staaten in der Menschheitsgeschichte. Was könnte im Zeitalter explodierender grenzüberschreitender Interdependenzen wichtiger sein? Wie soll Frieden funktionieren, ohne eine gemeinsame Kultur der Kooperation? 2030 werden wir Europäer nur noch 5 % der Weltbevölkerung ausmachen. Wir müssen uns zusammenraufen, um den globalen Wandel mitgestalten zu können. Für unsere Kinder wünsche ich mir eine europäische Bürgergesellschaft. Der Schwung für ein gemeinsames Europa muss neu entfacht werden.
  • Die offene Gesellschaft, Vielfalt, Demokratie, Anerkennung, kulturelle Diversität, Weltoffenheit: Wir hatten gedacht, das wäre alles selbstverständlich. Wir müssen aber wieder darum streiten.

Turbulente Zeiten wie Krisen sind Knotenpunkte der Entwicklung, die Risiken implizieren, aber auch Chancen eröffnen. Wir sollten angesichts von Rechtspopulismus, Xenophobie und »our country first«-Bewegungen nicht wie ein Kaninchen auf die Schlange starren, sondern Allianzen schmieden um nachhaltige und inklusive Gesellschaften zu schaffen und eine internationale Gemeinschaft, die auf Kooperation basiert.

(Dies ist die überarbeitete und gekürzte Fassung eines Festvortrags, den der Autor anlässlich des 90. Geburtstags von Erhard Eppler am 9. Dezember 2016 im Stuttgarter Landtag gehalten hat.)

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