Menü

© Pixabay

Perspektiven für die europäische Sozialdemokratie

Ob das »sozialdemokratische Jahrhundert« in Europa schon 1982 endete, wie es der Liberale Ralf Dahrendorf postulierte, oder erst mit dem Ausscheiden bedeutender sozialdemokratischer Regierungschefs zwischen 2000 und 2005, wollen wir hier nicht beantworten. Vielmehr geht es um eine Analyse der zwei Jahrzehnte seit der Millenniumswende (Untersuchungszeitraum 1998 bis 2018). Diese Zeit war sowohl geprägt durch geringe Veränderungen und relative Stabilität als auch durch allmähliche Wandlungen und dramatische Umbrüche. Gekennzeichnet ist sie durch die Komplexität der Entwicklungen, speziell in der europäischen Sozialdemokratie.

Nach einem empirischen Überblick über die Regierungslandschaft in der EU, unter besonderer Berücksichtigung der Wahlergebnisse sozialdemokratischer Parteien, wollen wir deren Verluste untersuchen, um dann den Versuch einer Bewertung zu unternehmen: Was war gesellschaftlich kaum zu beeinflussen? Wo haben die Parteien – insbesondere ihre Führungskräfte – offensichtliche Fehlentscheidungen getroffen? Abschließend wagen wir einen Ausblick auf die nähere Zukunft der europäischen Sozialdemokratie.

Betrachtet man die sozialdemokratischen Stimmenanteile in Europa zwischen 1998 und 2018, so betrug der durchschnittliche Wert bei nationalen Parlamentswahlen zu Beginn dieses Zeitraums 25,3 %, während er heute nur bei etwa 20,7 % liegt. Doch entspricht das Bild vom »kontinuierlichen Abstieg«, für den die SPD prototypisch steht, nur zum Teil der Wirklichkeit.

Grundsätzlich lassen sich drei unterschiedliche Trends feststellen: Erstens gibt es eine Gruppe von sozialdemokratischen Parteien in Europa, die im Untersuchungszeitraum erdrutschartige Verluste erlitten. So hat die niederländische Partij van de Arbeid (PvdA) Stimmeneinbußen von über 23 % hinnehmen müssen und befindet sich heute am Rande der Bedeutungslosigkeit. Ähnlich dramatische Entwicklungen zeigen sich bei der griechischen PASOK (-37,6 %), der Parti socialiste in Frankreich (-21,9 %), der Socialni demokrati in Slowenien (-24,5 %) und der SDLP in Polen (‑34,4 %). In Deutschland haben sich die Werte für die SPD exakt halbiert: von 40,9 % (1998) auf 20,5 % bei der Bundestagswahl 2017.

Eine zweite Gruppe sozialdemokratischer Parteien durchläuft ein Auf und Ab in der Gunst der Wähler/innen. Schwankungen dieser Art unterlag beispielsweise die rumänische PSD, die ausgehend von 21,5 % (1998) auf den Spitzenwert von 58,6 % (2011) anwuchs, um bis heute auf 45,7 % abzusinken. Ähnlich schwankend sind die Werte für die Sozialdemokraten in der Slowakei (von 14,7 % über 44,4 % zu aktuell 28,3 %) und Bulgarien (22,1/17,7/27,2 %).

Schließlich verzeichnet eine dritte Parteiengruppe stabile Wahlergebnisse auf hohem Niveau: in Österreich zwischen 27 und 37 % und in Schweden zwischen 28 und 40 %, die britische Labour Party erreichte mit 29 bis 43 % fast identische Werte wie der portugiesische PS (28 bis 44 %). Am besten schneiden die maltesischen Sozialdemokrat/innen ab, mit Werten zwischen 47 und 55 %. Ebenfalls »stabil«, allerdings am unteren Ende der Skala sind die Genoss/innen auf Zypern, die nur zwischen 6 und 9 % erreichten.

Trotz der Unterschiede bei den Wahlergebnissen in den einzelnen Mitgliedstaaten lassen sich auch gruppenübergreifende Entwicklungen feststellen. Besonders positiv sticht heraus, dass es im Untersuchungszeitraum fast überall – außer in Lettland und Estland – Regierungen mit sozialdemokratischer Beteiligung bzw. unter sozialdemokratischer Führung gab. Diese 18 Premierminister bzw. Kanzler hatten meist klangvolle Namen und ihre Regierungszeiten wirken bis heute nach: z. B. Tony Blair, António Guterres (heute UN-Generalsekretär), Lionel Jospin, Wim Kok, Göran Persson, Poul Nyrup Rasmussen, Gerhard Schröder und Konstantinos Simitas – leider durchweg Männer!

Die Kehrseite dieser beeindruckenden Auflistung ist die Ballung der Amtszeiten im ersten Drittel des untersuchten Zeitraums, in dem die Wahlergebnisse mit gut 28 % im Durchschnitt auch ihren Höchststand erreichten. Während es um die Jahrtausendwende in 14 der (aktuell noch) 28 EU-Mitgliedstaaten einen sozialdemokratischen Regierungschef gab, ist diese Zahl zwei Jahrzehnte später auf fünf (plus den linken griechischen Ministerpräsidenten) gesunken. Seit 2010 wurden Regierungen unter Führung von Parteien aus der Familie der Sozialdemokratie in Europa in fünf Staaten abgelöst: Italien, Kroatien, Litauen, Österreich und Tschechien.

Insgesamt weisen bei den Veränderungen der sozialdemokratischen Wahlergebnisse über den gesamten Untersuchungszeitraum 27 der 28 EU-Mitgliedstaaten einen negativen Wert auf. Allein in Malta ist ein kontinuierlicher Positivtrend zu verzeichnen, ein relatives Plus in neun weiteren Staaten.

Es gibt eine Vielzahl an unterschiedlichen Erklärungsansätzen für die insgesamt prekäre Situation der SPE-Familie. Folgende Entwicklungen sind unserer Ansicht nach besonders hervorzuheben: Zum einen durchläuft die europäische Parteienlandschaft, auch im Kontext breiterer gesellschaftlicher Entwicklungen, einen Prozess der Individualisierung. Traditionelle gesellschaftliche Milieus lösen sich auf, klassische Parteibindungen verschwinden, was speziell die Sozialdemokratie (be-)trifft. Dies bringt auch eine organisatorische Ausdifferenzierung mit sich. Durch die Gründung zahlreicher Protestparteien sowie politischer Vereinigungen, vor allem auf der rechten Seite, ändert sich nicht nur die numerische Zusammensetzung nationaler Parlamente.

Die Ausdifferenzierung der Parteiensysteme führt auch zu immer komplizierteren Formen und Abläufen der Regierungsbildung. In Deutschland reicht nach manchen Umfragen selbst ein Bündnis aus SPD und CDU/CSU nicht mehr für eine stabile Mehrheit. Dasselbe gilt für eine Reihe anderer EU-Mitgliedstaaten. Dreierbündnisse entwickeln sich von einer Ausnahme zur Regel, häufigere Kompromisse verwischen Parteiprofile und wecken zugleich mehr Illusionen für scheinbar einfache »Lösungen«.

Nicht zuletzt ist das vermeintliche »Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts« auch in einer Aneinanderreihung selbstverschuldeter Fehler in den Parteien begründet, basierend auf einem oftmals scheinbar aus der Zeit gefallenen Narrativ. Ob bei der Socjaldemokracja Polska (SDPL) in Polen, der Magyarországi Szociáldemokrata Párt (MSZDP) in Ungarn, dem PS in Frankreich oder auch der SPD in Deutschland – eine Vermengung kollektiver Skandale und individueller Fehlentscheidungen, meist an der Spitze, gepaart mit einem Mangel an Überzeugungskraft für unsere Werte, hat zu teils extremen Abstürzen in der Gunst der Wähler/innen geführt.

Führt der Weg also in die politische Bedeutungslosigkeit oder erlangt die europäische Sozialdemokratie wieder ihre alte Strahlkraft und wird zu einem treibenden Faktor für ein starkes Europa? Zwischen diesen beiden Extremen ist der Weg der linken Parteien nicht konkret vorhersehbar. Um die Verschiebungen in der europäischen Parteienlandschaft positiv zu gestalten, sehen wir mehrere Akzentuierungen als wesentlich an.

Von größter Bedeutung in einer sich wandelnden (Arbeits-)Welt ist die (Neu-)Definierung und Hervorhebung des sozialdemokratischen Narrativs. Ausgehend von den geschichtlichen Wurzeln der europäischen Arbeiterbewegung in einem nicht minder bewegten Jahrhundert der industriellen Revolution, der »Ausbeutung des Proletariats« und der Sozialistengesetze müssen wir heute Mut haben, den sozialdemokratischen Markenkern als historisches Kontinuum progressiv zu interpretieren.

Die konkrete Zuspitzung könnte lauten: soziale Gerechtigkeit und Sicherheit und das Versprechen Aufstieg durch Bildung; gleiche Freiheit: »Stärkung des Rechts« gegen das Recht des Stärkeren; Frieden durch Verständigung und Abrüstung; Schutz der Umwelt durch tief greifende Maßnahmen beim Klimawandel, auch durch Versöhnung von Ökonomie und Ökologie im Austausch mit der nachfolgenden Generation; Gestaltung der Digitalisierung, Zukunft der Arbeit als Arbeit der Zukunft 4.0.

Den Rahmen bildet die europäische Einigung, sie ist ein Prozess sui generis, nicht nur ein »Projekt«! Seit 1866 ist die europäische Einigung Programm der SPD, seit 1925 mit klarem Verständnis: Das wichtige nationale Interesse in jedem Land ist das gemeinsame Europa – und jedem Land kann es nur dann gut gehen, wenn es den Nachbarländern nicht schlecht geht.

Geschichte und Gegenwart zeigen: »Der Feind steht rechts«. Diese Worte Philipp Scheidemanns aus dem Jahre 1918 richten sich auch heute gegen diejenigen, welche eine andere Republik und nicht nur eine andere Politik wollen: von der AfD in Deutschland und der FPÖ in Österreich, über den Rassemblement National in Frankreich und die Lega in Italien, bis hin zur PVV in den Niederlanden, die »Goldene Morgenröte« in Griechenland und die PiS in Polen – die Geisteshaltung des Nationalismus ist bestimmt von Fremdenfeindlichkeit und der Illusion, dass alles wieder so wird, wie es früher (niemals) war. Sozialdemokraten sollten dagegen stehen – an jedem Tag, an jedem Ort und jeder Hassparole und jeder Lüge widersprechen. Das hat zur Konsequenz, dass die gesamte SPE-Familie, aber insbesondere die SPD in Deutschland eine Mehrheit diesseits der Konservativen/Christdemokraten anstreben muss. Eine Anpassung an den rechten Mainstream wäre falsch und würde uns schwächen. Rot-rot-grüne Bündnisse müssen auch eine Perspektive sein. Machtoptionen bleiben eine unverzichtbare Strategie.

Programmatik und Positionierung erfordern Personen. Die Sozialdemokratie hat den Anspruch, eine große Projektionsfläche für Wünsche und Erwartungen vieler Menschen zu bilden. Wie einst der Erfolg von Willy Brandt beschrieben wurde: »Den Linken ein Linker, den Rechten ein Rechter«. Menschen wollen Klarheit – sie wollen aber auch Gegensätzliches zur selben Zeit. Dieses ist nur zu leisten durch Wahrhaftigkeit im dialektischen Sinne, nämlich über die Einheit der Gegensätze; pragmatische Programmatik (»der Weg ist das Ziel«) mit einem Schuss linkem Populismus; und überzeugt wie überzeugend persönlich vorgelebt, das heißt Authentizität in Verantwortung.

Wir haben eine Chance: Die Zustimmung zur EU ist heute so hoch wie zuletzt 1983! Das Ende des »sozialdemokratischen Jahrhunderts« muss nicht das Ende der europäischen Sozialdemokratie bedeuten. Unsere Verpflichtung: Mehr Zusammenarbeit in und zwischen den sozialdemokratischen Parteien der EU wagen – und besser umsetzen. Unsere Chance besteht darin, dass 80 % der Wähler/innen es sich vorstellen können, SPD zu wählen. Es tun aber nur 20 %. Diese Lücke müssen wir schließen!

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben