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© picture alliance/dpa/Arne Dedert

Jürgen Habermas zum 90. Geburtstag Philosoph, Bürger, Europäer

Auftritte in Talk- und Personalityshows sind für ihn schlicht undenkbar, weil diese Öffentlichkeit zur Inszenierung von Imagepirouetten pervertiert, in denen Öffentliches und Privates ununterscheidbar werden. Der ebenso leidenschaftliche wie scharfsinnige Diskutant Habermas schätzt die alltagssprachliche Kommunikation sehr, hält sie aber für naiv im Vergleich zum professionellen philosophischen Diskurs, der sich im Raum von Argumenten und Gründen bewegt, um Geltungsansprüche überprüfbar zu formulieren, d. h. dem »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« den Weg zu bahnen. Das ist keine professorale Marotte, sondern hat neben theoretischen auch lebensgeschichtliche Wurzeln. Als Habermas 2004 den Kyoto-Preis, eine Art Neben-Nobelpreis, erhielt, sprach er auf Bitten hin auch über lebensgeschichtliche Wurzeln seines philosophisch-politischen Denkens. Dieses beruht auf Öffentlichkeit, Diskurs und Vernunft – eine an Kant orientierte Zentrierung, die Habermas als »Obsession« bezeichnet.

Eine dieser Wurzeln habe mit seiner Sprachbehinderung zu tun. Direkt nach seiner Geburt und wenige Jahre später wurde er Gaumenoperationen unterzogen. Zum Problem wurde seine Sprachbehinderung als Schüler, weil man ihn wegen seiner nasalen Diktion schlecht verstand und ihn das in Form von Kränkungen spüren ließ. Sicher gibt es zwischen dieser Erfahrung und dem wissenschaftlichen Werk keine direkten Verbindungen, aber die fundamentale Bedeutung gescheiterter Kommunikation ist doch ein Hinweis auf ein gewichtiges Motiv seines Denkens.

Eine andere Wurzel seines Werks ist die Erfahrung der »weltgeschichtlichen Zäsur« des Jahres 1945, die ihm besonders deutlich wurde, als er 1950 zu Beginn seines Studiums in Zürich zum ersten Mal eine intakte Stadt mit einem großen kulturellen Angebot an Kinos, Theatern, Museen und Bibliotheken erlebte.

Als weitere Wurzel seines Denkens betrachtet Habermas die potenzielle Brüchigkeit der Demokratie. Zwar gab es nach 1945 so etwas wie eine »Revolutionierung der Denkungsart im Ganzen«, aber an den Universitäten, im Justizwesen und in der Politik überlebten alte Eliten mit ihren nationalistisch imprägnierten Mentalitäten. Schon als 24-jähriger Student attackierte Habermas die »unselige Verbindung von Nationalismus und bürgerlich-hoffähigem Antisemitismus«, wie sie sich in Martin Heideggers Einführung in die Metaphysik (1935) zeigte, die dieser 1953 unverändert erneut publizierte. Darin ließ er »die innere Wahrheit und Größe« des Nationalsozialismus weiterleben, so als ob der »planmäßige Mord an Millionen von Menschen« (Habermas) nicht stattgefunden hätte. Konservative reagierten auf Habermas’ Kritik mit dem, was ihm noch oft widerfahren sollte – mit der Denunziation als »Marxist«.

Diesen Vorwurf gegen Habermas – 1957 Assistent Theodor W. Adornos am Frankfurter Institut für Sozialforschung – erhob Max Horkheimer, der Direktor des Instituts. Unter dem Titel »Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus« hatte Habermas in der Philosophischen Rundschau gerade einen Forschungsbericht veröffentlicht. Horkheimer unterstellte Habermas’ Arbeit über Marx wörtlich, er leiste damit »den Geschäften der Herren im Osten Vorschub« und preise, »wenn auch ohne Absicht, die Diktatur«. Ihm missfiel dieser Text so entschieden, dass er Adorno »die Aufhebung der bestehenden Lage« befahl, d. h. die Entlassung von Habermas. Adorno wehrte sich tapfer, konnte sich aber nicht durchsetzen. Habermas stand über Nacht mit Frau und Kind buchstäblich auf der Straße. Wolfgang Abendroth, der »Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer« sprang ein und habilitierte Habermas 1961 an der Uni Marburg mit der bis heute weltweit einflussreichen Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit.

Habermas verabschiedete sich von Teilen der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno) und der aus dem historischen Kontext der Entstehung in »dunkler Zeit« (1944/47) verständlichen, aber in ihrer Rigidität haltlosen Vernunftkritik, die der Vernunft den Boden entzieht, und verzichtete auch auf assoziative und spekulativ aufgeladene Metaphern, vom »Nichtidentischen« bis zur »Versöhnung«, mit denen Adornos Spätwerk Negative Dialektik (1966) für die Philosophie einen Rest von privilegiertem Status behauptete. Mit Habermas wurde die Philosophie bzw.die Kritische Theorie von ihrer geschichtsphilosophischen Last sowie ihrem auratisch aufgeblähten Sprachgestus befreit und aus der abgehoben-spekulativen Sphäre auf den Boden einer Wissenschaft unter anderen Wissenschaften zurückgeholt. Habermas bestand auf der historischen Situierung der Vernunft und auf deren Fähigkeit zu radikaler Selbstreflexion, mit der sie vermeintlich Verbürgtes und herkömmliche Wahrheitsansprüche diskursiv relativierte, also im Sinne Kants Wissen von Glauben trennte. Der Motor der Selbstreflexion der Vernunft ist auf rationale Beschränkung gerichtet, die sich von postmoderner Beliebigkeit ebenso abgrenzt wie von den zu dekorativen Girlanden gewordenen begrifflichen Beständen der älteren Kritischen Theorie. Rationale Selbstbeschränkung zehrt von radikaler Kritik und dem Vertrauen auf eine nicht überladene, aber auch nicht verflachte Vernunft.

Habermas vertritt »einen skeptischen, aber nicht-defaitistischen Vernunftbegriff« gegenüber post- oder hypermodernen Positionen, wie er selbst formulierte. Seine sprachtheoretisch-diskursive Wende der Kritischen Theorie bewegt sich im Rahmen von pragmatischen Bedeutungs- und Handlungstheorien, für die Wahrheit und Vernunft nicht zeitlos sind und sich auch nicht im Bewusstsein von Subjekten herstellen lassen, sondern nur im intersubjektiven Austausch von Argumenten und Gegenargumenten in Sprach- bzw. Diskursgemeinschaften.

Ungeachtet der weltweiten Anerkennung des Philosophen trafen Habermas in der Bundesrepublik immer wieder scharfe Attacken von Konservativen und Rechten, obwohl er selbst nicht zu »salopp hingeworfenen Zeitdiagosen« neigt: »Ich gehöre nicht zu den Intellektuellen, die mal eben aus der Hüfte schießen«, bekannte er vor gut einem Jahr (El País, 29.3.2018). Ganz im Gegenteil zu dem Fernsehintellektuellen Peter Sloterdijk, der die Kritische Theorie 1999 für »tot« erklärte und Habermas zum »Starnberger Ajatollah«, der »Fatwas« ausspreche und dienstbare Büttel für intellektuellen Rufmord durchs Land schicke. Er legte die Diffamierung nach: »Das ist das Schicksal der Söhne großer Faschisten. Unter dem Nazismus hat der Vater von Habermas eine wirklich große Rolle gespielt, über die man öffentlich besser nicht redet.« In Wahrheit war Habermas’ Vater ein Subalterner – Major der Wehrmacht (in Frankreich eingesetzt, also sehr gut erforscht) und im Zivilleben Leiter der Industrie- und Handelskammer Köln/Wuppertal in Gummersbach.

Habermas wandte sich immer gegen die Verschwisterung von Wissenschaft und akademisch drapiertem Nationalismus. Von seiner Hegel-Preis-Rede (1974) bis zu seiner Position im »Historikerstreit« (1986) und seinen jüngeren Schriften zur »postnationalen Konstellation« (1998) zieht sich ein roter Faden: die Kritik an der »völkischen Auffassung der Nation« und »nationalen Identitäten« als quasi-natürlichen, zeitlos existierenden Gegebenheiten. In egalitär und demokratisch verfassten Staaten geht es jedoch nicht länger – so Habermas – um dynastische Herkunftslegenden, ethnische Abstammungsgeschichten und anderes Geklingel, sondern um Menschen- und Bürgerrechte, egalitären Zugang zu Nahrung, Gesundheit, Bildung, Arbeit und Wohnung sowie politische Partizipation.

Es gibt keine demokratisch akzeptable Begründung dafür, diese Rechte und den Zugang zu den Basisressourcen in einem multinational, multireligiös und multiethnisch bevölkerten Staat national, religiös oder ethnisch zu organisieren, ohne Minimalstandards des Grundgesetzes zu unterlaufen. Habermas entfaltete in seinem rechtsphilosophischen Buch Faktizität und Geltung (1992) starke Argumente dafür, warum auf national orchestrierte Ausschließungsparolen (»Leitkultur« etc.) verzichtet werden muss. Damit will sich das im Halbdunkel befangene Denken seiner rechten Gegner nicht abfinden. Sie denunzierten Habermas’ Kritik als opportunistisches »Dabeisein beim Dagegensein« (FAZ, 13.10.2001 und 18.6.2014), während Linke wenigstens wissen, »daß sie lernen müssen – wenn auch noch nicht genau, was« (Habermas).

Habermas verabschiedete sich längst vom »vollmundigen Tenor« – wie er 1998 formulierte –, mit dem er noch 1968 in Erkenntnis und Interesse die Emanzipation als das der Geschichte eingeschriebene Telos beschwor. Nach der Tilgung solcher geschichtsphilosophisch inspirierter Denkfiguren wird aber »die diskursive Verflüssigung« (Habermas) von fortexistierender Macht, Ungerechtigkeit und Gewalt durch Wissenschaft und Kritik nicht obsolet. Die Begründungsstrategie für das Interesse an Emanzipation hat Habermas in Faktizität und Geltung umgestellt auf Teilhabe und damit gegen den konservativen Zeitgeist an den »radikalen Gehalten des demokratischen Rechtsstaates« festgehalten. Erstens: Gleiches ist gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Und zweitens müssen sich Bürger als virtuelle Autoren von Recht verstehen, damit dieses zum richtigen Recht wird. Mit diesen Ansprüchen an Recht, Rechtsstaat und Demokratie provoziert Habermas heute alte Carl-Schmitt-Ernst-Forsthoff-Arnold-Gehlen-Seilschaften wie junge postmoderne.

Gegenüber post- oder hypermodernen Positionen, die nicht nur die Geschichtsphilosophie verabschiedeten, sondern mit dieser alle Theorien und Wahrheitsansprüche, zielt Habermas auf selbstreflexive Ansprüche von Vernunft und Wahrheit.

Habermas findet weltweit viel und hochverdiente Anerkennung. Das intellektuelle Niveau der Angriffe auf Habermas ist dagegen hierzulande in den letzten 50 Jahren ständig gesunken. In Südkorea, Japan, China und im Iran wird heute über Habermas sachkundiger diskutiert als unter deutschen Konservativen und Rechten.

Kommentare (1)

  • dietmar sigl
    dietmar sigl
    am 13.11.2020
    Jürgen Habermas' universeller Anspruch an die soziologisch-philosophische Durchdringung der Grundlagen menschlicher Existenz und ihrer Relationen ist in seiner diskursiven Kodierung qua Aufhebung der subjektiven Linienführung in genuiner Selbstverständigung eo ipso intuitiv präzise identifizierbar und erfahrbar.
    In Hinblick auf die non-reflexive Effektivität der sich wie in Kants Versuch der Kritik der Reinen Vernunft manifestierenden Ubiquität abgebildeten Wahrnehmung der historisch bedingten Notwendigkeit des demokratisch-rechtsstaatlichen Implikats von Faktizirät und Geltung finder die Komplexität der diesbezüglichen Anwendungsprozesse der inhärenten Diskursvorlagen ihren integraler Impetus.

    Happy Birthday Prof. HABERMAS

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