»Suprematismus«, dieser Begriff springt dem Betrachter auf der Werkbeschilderung von Shoshannah Brombachers Bild The Golem of Charlottesville ins Auge. Im ersten Moment lässt er an Kasimir Malewitschs radikale malerische Abstraktion denken. Brombachers 2020 entstandene, in Kreide und Tinte ausgeführte Zeichnung erinnert jedoch visuell zunächst eher an Marc Chagalls Schtetl-Bildwelt, lässt aber auch Assoziationen zum deutschen Expressionismus zu. Das mit »Jewish Answer to the Riots« untertitelte Werk hat einen eminent politischen Kontext: Denn Brombacher bezieht sich auf die rechtsextremen Kundgebungen und Ausschreitungen in Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia im Jahr 2017.
Und so meint der eingangs erwähnte Begriff nicht etwa eine kunsthistorische Stilrichtung. Vielmehr geht es laut Werkbeschreibung um »den nationalistischen, weißen Suprematismus« (white supremacy), gegen den sich die auf dem Blatt dargestellten Menschen und die an ihrer Seite kämpfende Golem-Figur auflehnen. Hinweise zur kunsthistorischen Einordnung oder Angaben zum verwendeten künstlerischen Medium liefert das Schild unterdessen nicht.
Brombachers Zeichnung war bis zum 3. Oktober in der Ausstellung »Rache. Geschichte und Fantasie« im Jüdischen Museum Frankfurt zu sehen. Ihr titelgebendes Thema beleuchtete die Schau anhand von Zeugnissen und Dokumenten der jüdischen Kultur- und Zeitgeschichte sowie mit Comics, Büchern, Filmausschnitten und Kunstwerken aus mehreren Epochen. Auffällig war dabei, dass die Beschreibungen der Kunstwerke fast ausschließlich auf deren Motivik und Narration fokussierten, ästhetische Fragen jedoch größtenteils ausblendeten.
Aus dieser beispielhaften Beobachtung lassen sich mehrere Fragen ableiten: Welchen Stellenwert hat Bildende Kunst in historischen Ausstellungen und Museen? Wird ihre Rolle auf die Illustration eines historischen Zeitabschnitts, eines Themas oder einer kuratorischen These reduziert? Und welche Optionen gibt es jenseits der überkontextualisierten Präsentation von Kunstwerken als historische Zeugnisse und – als anderes Extrem – der auratischen, vom geschichtlichen Kontext losgelösten Ausstellungsgestaltung in einigen Kunstmuseen? Um diesen Fragen nachzugehen, lohnt sich der Blick auf exemplarische Ausstellungen der vergangenen Jahre, die in dieser Hinsicht einen bemerkenswerten Spagat versuchten.
Die Schau documenta. Politik und Kunst war von Juni 2021 bis Januar 2022 im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin zu sehen. Ihr selbst formulierter Anspruch lautete, die Kasseler Großausstellung »in den Kontext der politischen, kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1955 und 1997« zu stellen. Dabei setzten die Kuratoren sowohl auf Kunstwerke als auch auf Filme, Dokumente, Plakate, Interviews sowie weitere kulturhistorische Zeugnisse. »Mit der documenta-Ausstellung haben wir uns als historisches Museum sehr stark in die Kunstwelt begeben«, erinnert sich die Kunsthistorikerin und DHM-Mitarbeiterin Julia Voss. Das Kuratorenteam, welchem neben ihr Lars Bang Larsen und Dorothee Wierling angehörten, sei besonders vorsichtig gewesen, denn, so ihr Anspruch: »Wir wollten nicht von vornherein den Vorwurf bekommen, dass wir den Eigenwert des Kunstwerks ignorieren.«
Deshalb stieß der Ausstellungsbesucher gleich zu Beginn auf eine Art Zweiteilung: »Auf der linken Seite hatten Sie viele Dokumente, Reproduktionen, Fotografien und Biografien, während auf der rechten Seite die Kunstwerke an einer weißen Wand nebeneinander hingen – mit einem ziemlich kleinen Schild unter dem Werk.« Es sei wichtig gewesen, den Kunstwerken Raum zu geben, betont Voss. Man habe zwar Blickachsen zwischen den Kunstwerken und den Informationen hergestellt, andererseits sei es möglich gewesen, die Kunstwerke ohne Verbindung zum Text zu betrachten. Es sei nicht darum gegangen, die Information dem Kunstwerk »überzustülpen«, so Voss, »sondern dass wir sie mit einem gewissen respektvollen Abstand dazugeben«.
Ein ebenfalls prägnantes Beispiel ist die von Julia Voss und Eva Atlan kuratierte Ausstellung 1938 im Jüdischen Museum Frankfurt. Sie zeigte eindrücklich, dass Kunst immer auch von den jeweils herrschenden politischen Gegebenheiten geprägt ist. Die im November 2013 eröffnete Schau mit dem Untertitel »Kunst, Künstler, Politik« demonstrierte, wie einschneidend sich das NS-Regime auf den Kunstbetrieb auswirkte. Die Ausstellung zeigte unter anderem, wie sehr jüdische Kunsthändler, -sammler und -kritiker sowie Künstler/innen wie etwa Lotte Laserstein wegen ihrer Herkunft verfolgt wurden – und dass ihre künstlerische Laufbahn und Entwicklung nicht von den politischen Umständen losgelöst betrachtet werden kann. Zugleich präsentierte die Schau auch Werke von Günstlingen des NS-Regimes.
Julia Voss verwahrt sich gegen Versuche, Kunst aus ihren Zeitumständen herauszulösen: »Kunstwerke werden in einer bestimmten Zeit gemacht und rezipiert. Ihr Erfolg oder Misserfolg hängt auch damit zusammen. Daher kann man das nicht trennen. Das war uns bei der ›1938‹-Ausstellung sehr wichtig.« Es habe, so Voss weiter, Zeiten gegeben, »wo der Versuch, die Kunstwerke aus ihrer Zeit herauszulösen, das gängige Ausstellungsmodell war«. »Das war der White Cube.« Jetzt sei dieses Modell obsolet. Vielmehr seien Kunstmuseen, beobachtet Voss, »viel stärker dazu übergegangen, Kunstwerke auch historisch zu betrachten«. Sie näherten sich damit historischen Museen an. »Da hat sich in den letzten zehn Jahren sehr viel getan.«
Zunehmendes Interesse an Kontextualisierung
Beispielhaft verweist Julia Voss auf die 2021 im Rijksmuseum in Amsterdam gezeigte Ausstellung Slavery. Ten true stories: »Die gleiche Ausstellung hätte vor zehn Jahren noch ›Das Goldene Zeitalter‹ geheißen. Man hätte seine ganzen Prachtbestände ausgebreitet, und irgendwo im Katalog hätte es einen Essay über Sklaverei gegeben.« Diese Perspektive umzukehren und das goldene Zeitalter der niederländischen Kunstgeschichte zugleich als Hochzeit der Sklaverei zu präsentieren, bewertet Voss als »eine sehr gute, aber lange Zeit sehr ungewöhnliche Entscheidung eines Kunstmuseums«. Dass Kunstmuseen immer stärker auf Kontextualisierung und Historisierung setzen, ist aus ihrer Sicht »eine gute Nachricht für historische Museen«. Voss beobachtet überdies »ein enormes Interesse der Besucher am historischen Kontext: Woher kommt das Werk, wer hat es gemacht, in welchem Zusammenhang?«
In der jüngeren Ausstellungsgeschichte lassen sich weitere prominente Beispiele für kontextualisierende Präsentationen in Kunstmuseen anführen: Unter dem Titel Whose Expression? betrachtete das Berliner Brücke-Museum unlängst Werke von Mitgliedern der Künstlervereinigung »Brücke« wie Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff im kolonialen Kontext des Deutschen Kaiserreichs. Emil Noldes bisher nicht hinreichend beleuchtete Rolle und sein Schaffen im Nationalsozialismus stand 2019 im Mittelpunkt der vielbeachteten Schau Emil Nolde – Eine deutsche Legende im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart in Berlin. »Es war eine fantastische Ausstellung, weil sie alle Karten auf den Tisch gelegt, die ganze Architektur dieses unfassbaren Nolde-Mythos offengelegt und recherchiert hatte«, sagt Julia Voss.
»Nolde wurde früher ausgestellt, indem man Nolde gezeigt hat, die Bilder waren lediglich mit dem Entstehungsdatum beschriftet«, erläutert sie die früher übliche, unpolitische Präsentation seiner Werke. Voss erläutert weiter: »Alle hatten die Geschichte von Nolde und seinem angeblichen Malverbot – das es nie gab –, von Nolde, der angeblich von der Gestapo überwacht worden ist – was nicht stimmt –, von Nolde als einem Künstler der ›inneren Emigration‹ also, aber auch im Widerstand, der heimlich seine Bilder malt, präsent.« Inzwischen sei bekannt, dass diese Geschichte nicht stimme.
Der Wunsch der Kuratoren der Nolde-Ausstellung, einige Dokumente in der Ausstellung zu zeigen, sei im Kunstmuseum jedoch auf viel Kritik gestoßen, berichtet Voss. Zu den möglichen Ursachen sagt sie: »Es gibt die alte Schule der Kunstmuseen, die es nicht gut findet, wenn historische Dokumente und Kunst zu nah aneinander rücken.« Nicht nur Kunstmuseen behalten trotz ihrer allmählichen Annäherung an Kontext und Zeitgeschichte weiterhin ihre langgehegten Eigenheiten. »Historische Museen haben eigentlich einen anderen Zugriff auf Kunstwerke«, unterstreicht Julia Voss.
Auch Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, betont, die eingangs erwähnte »Rache«-Ausstellung sei eine kulturhistorische Schau, und die Kunst sei dort »stark thematisch« von Interesse. Als Kuratorin sei sie, erzählt Wenzel bei einem Rundgang durch das 2020 nach einer mehrjährigen baulichen und inhaltlichen Neukonzeption wiedereröffnete Museum, an einer Verbindung verschiedener Betrachtungsweisen interessiert. Es gehe ihr darum, »kulturhistorische Objekte im Spannungsfeld mit Kunst« zu zeigen. So sind in der Dauerausstellung jüdische Zeremonialobjekte neben zeitgenössischen Kunstwerken zu sehen. Bei der Kombination kulturhistorischer Exponate mit Kunst bestehe, räumt Wenzel anhand der Präsentation des Bildes The Golem of Charlottesville ein, durchaus die Gefahr, »dass die Kunstwerke ihre Wirkmächtigkeit nicht entfalten«. Dennoch betont sie den Stellenwert des ästhetischen Erlebnisses in den Ausstellungen des Jüdischen Museums: »Das sinnliche Moment spielt eine große Rolle.«
Bei der Präsentation von Kunst gebe es in ihrem Museum »immer ein politisches Moment«, sagt Wenzel. »Die Geschichte der Werke ist immer Thema«, betont sie. Manchmal tritt daher die ästhetische Dimension eines Werks in den Hintergrund: So wurde etwa ein Matisse-Gemälde in der Dauerausstellung eher unauffällig in einer Vitrine präsentiert, da vorrangig die wechselvolle Besitzgeschichte des Objekts im Fokus stand. Einzelne Kabinette ließen wiederum Kunstwerke als ästhetische Objekte und Echos der historischen Themen des Museums sprechen.
Der bereits von Wenzels Vorgänger Raphael Gross mit der Schau 1938 praktizierte Ansatz, Kunst und Zeitgeschichte miteinander zu verschränken, soll auch in der nächsten Wechselausstellung des Jüdischen Museums sichtbar werden: Für November 2022 ist eine Schau über vier beinahe vergessene, aus Frankfurt stammende jüdische Künstlerinnen angekündigt. Unter dem Titel Zurück ins Licht sollen Erna Pinner, Rosy Lilienfeld, Amalie Seckbach und Ruth Cahn gewürdigt und im Zeitkontext verortet werden. Sie zählen zu der sogenannten »verlorenen Generation«, deren künstlerische Karriere vom NS-Regime jäh beendet wurde.
Dass das für Emil Nolde nicht gilt, ist bereits eingehend nachgewiesen worden. Doch wie konnte ein in den Nationalsozialismus verstrickter Künstler wie Nolde in der Nachkriegszeit zu einem verfolgten Vertreter der Moderne umgedeutet werden? Wurde gar eine ästhetische »Stunde Null« konstruiert? Julia Voss sieht die am Beispiel Nolde sichtbar gemachten Mechanismen bis in die Gegenwart walten: »Ich glaube, dass viele Debatten, in denen es darum geht, die Kunst aus ihrer Zeit herauszulösen, zum Teil ein Erbe der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit sind, wo man versucht hat, sich über die Kunstgeschichte eine Umerzählung zu geben: wie im Fall Nolde oder mit der documenta, wo sich alle plötzlich mit der Kunst der Moderne identifiziert haben.« Und weiter: »Diese Vorstellung, dass man die Kunst von den Zeitumständen trennen möchte, entspringt eher dem Wunsch, dass man in der Nachkriegszeit nicht über die kürzlich vergangene Geschichte, den Nationalsozialismus und die Gewaltverbrechen reden wollte«, so Voss.
Die Forderung, Kunst aus ihrer Zeit zu lösen, hält sie für »absolut künstlich«. Worauf kommt es also beim Kuratieren von Ausstellungen im Spannungsfeld zwischen Kunst und Zeitgeschichte an? Julia Voss spricht bildhaft von einem »Pingpong zwischen Biografie, historischem Kontext und Ästhetik«. »Die Kunst ist nicht mehr unschuldig«, bringt Mirjam Wenzel ihr Plädoyer gegen apolitisches und ahistorisches Kuratieren auf den Punkt.
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