Mitten in der größten Krise Europas, angesichts eines amerikanischen Präsidenten, der mit seinem »America first« den plattesten Nationalegoismus auf die Tagesordnung setzte, zu einem Zeitpunkt, da die Welt durch Kriege und Bürgerkriege in Afrika und im Nahen Osten und durch eine Welle des Terrorismus heimgesucht wird und in vielen Ländern wie in der Türkei, in Russland, Ungarn und Polen hoffnungsvolle demokratische Entwicklungen brutal abgebrochen werden, ist vor diesem Hintergrund ein Buch mit einer kosmopolitischen Vision nicht auf absurde Weise unzeitgemäß? Die beiden Autoren des umfangreichen Plädoyers Das demokratische Weltparlament, Andreas Bummel und Jo Leinen, sind ganz offenbar der Meinung, dass das Thema gerade heute auf die Tagesordnung gehört. Und sie haben gute Argumente dafür.
Noch nie in der Geschichte der Menschheit, so ihr zentrales Argument, war es offensichtlicher, dass ein Großteil der dringendsten Probleme, vor denen wir stehen, von der Friedenssicherung über die Eindämmung der Erderwärmung bis zur Regulierung des Weltfinanzsystems und der Bekämpfung von Kriminalität, Armut und Hunger in der Welt, nur noch durch globale Kooperation und am Ende nur noch durch die Etablierung einer veritablen demokratischen Weltrechtsordnung gelöst werden kann. Und noch nie gab es so viele Menschen in so vielen Ländern wie heute, die diese Einsicht teilen. Die nationalistische Regression, die wir aktuell an vielen Stellen der Welt beobachten, ist vor diesem Hintergrund eher als Panikreaktion derjenigen zu verstehen, die die Zeichen der Zeit nicht verstehen und den Gang der Geschichte aufhalten wollen.
Im ersten Teil ihres Buches schildern die Autoren die Geschichte kosmopolitischen Denkens von der Antike bis zur Gegenwart, erörtern im zweiten die weltweiten Probleme, vor denen die Völker und ihre Regierungen heute stehen, im Zeitalter der Globalisierung und des »Anthropozäns«, also des von einigen Wissenschaftlern ausgerufenen Zeitabschnitts, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf biologische, geologische und atmosphärische Prozesse auf der Erde geworden ist. In einem dritten und letzten Teil diskutieren die Autoren die zahlreichen bereits bestehenden Ansätze zu einer globalen Rechtsordnung und die möglichen Wege zu deren Weiterentwicklung. »Das Projekt eines Weltparlaments«, so die Autoren gleich in der Einleitung des Buches, »ist unserer Ansicht nach der Schlüssel zur Realisierung einer demokratischen, solidarischen und nachhaltigen Weltordnung und darüber hinaus ein Vehikel für eine neue globale Aufklärung.«
Wie aber kommt man diesem Ziel ein paar entscheidende Schritte näher? Bisher, so die Autoren, wurden entscheidende Fortschritte auf dem Weg zu einer kosmopolitischen Friedensordnung immer nur nach Katastrophen möglich: »Das Paradigma der Souveränität war ein Ergebnis des Dreißigjährigen Krieges. Der Völkerbund als erste zwischenstaatliche Organisation mit dem Ziel kollektiver Sicherheit und das völkerrechtliche Kriegsverbot im Briand-Kellogg-Pakt waren eine Konsequenz aus dem Ersten Weltkrieg. Die Ablösung des Völkerbundes durch die Vereinten Nationen als einer universellen Weltorganisation und der europäische Integrationsprozess mit dem Gedanken geteilter Souveränität waren Folgen des Zweiten Weltkrieges. Die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs war eine verzögerte Konsequenz aus dem Holocaust und den Nürnberger Prozessen. Konkrete politische Auslöser waren in der ersten Hälfte der 1990er Jahre aber die Verbrechen und der Völkermord auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens sowie der Völkermord in Ruanda, für die der UN-Sicherheitsrat jeweils eigene Tribunale eingerichtet hatte.«
Die globale Ordnung gegen apokalyptisches Denken
Angesichts dieser Reihung von Katastrophen und durch sie ausgelösten positiven Entwicklungsschüben scheint es nahezuliegen, dass der entscheidende Fortschritt zu einer demokratischen Weltregierung nur nach einer weiteren Katastrophe zu erwarten sei. Und in der Tat werden in diesem Buch auch Stimmen zitiert, die genau dies behaupten. Eine von ihnen ist der amerikanische Politikwissenschaftler Randall L. Schweller, der entscheidende Fortschritte hin zu einer demokratischen Weltregierung nur von einem »enormen Schock«, einem »Desaster von riesigem Ausmaß«, einer »entsetzlichen Naturkatastrophe« oder gar einem neuerlichen Weltkrieg erwartet. Aber bieten solche Ungeheuerlichkeiten heute tatsächlich eine Perspektive, an die man in einer Art apokalyptischen Denkens realistische Hoffnungen knüpfen kann? Leinen und Bummel jedenfalls geben einem solchen Szenario keine Chance. Heute komme es im Gegenteil darauf an, schreiben sie, solche Katastrophen als Möglichkeit zu antizipieren und mit aller Kraft zu verhindern.
Und zwar aus dem einfachen Grund, weil im Zeitalter der vollendeten Globalisierung Katastrophen der erwähnten Art das Erdsystem als Ganzes destabilisieren könnten und ein Weltkrieg heute tatsächlich ein Weltkrieg und nicht mehr auf Teile der Welt zu begrenzen wäre. Eine katastrophale Zuspitzung etwa des Klimawandels könnte durchaus eine nicht rückholbare Zerstörung der Biosphäre zur Folge haben, ein nächster Weltkrieg könnte, weil er mit großer Wahrscheinlichkeit mit Atombomben geführt würde, eine nicht wieder gutzumachende Verwüstung des menschlichen Habitats und damit die Zerstörung der menschlichen Zivilisation überhaupt zur Folge haben. Somit bleibe uns gar nichts anderes übrig, als auf die Einsicht der Menschen, auf so etwas wie eine globale Aufklärung also, zu setzen.
Da kann man als halbwegs aufgeklärter Leser nur zustimmend nicken. Aber was ist mit den religiösen Fanatikern, die seit einiger Zeit überall auf der Welt wieder nach apokalyptischen Szenarien operieren, die die jeweils anders Denkenden und Glaubenden meinen ausrotten zu müssen, damit sie selbst das ewige Heil erlangen? Mit noch so guten Argumenten sind sie offenbar nicht zu erreichen. Und während im Westen viele erleichtert aufatmen, nun, da der Islamische Staat im Nahen Osten seine Basis zu verlieren scheint, gewinnen fundamentalistische, von Saudi-Arabien und einigen Golfstaaten großzügig finanzierte islamistische Bewegungen auf den Philippinen und in Indonesien wieder an Boden, wo vor Kurzem noch eine Kultur der Liberalität und der Duldsamkeit eine feste Heimstatt zu haben schien.
Es ist ein besonderer Vorzug dieses Buches, dass die Autoren nicht beim großen Entwurf und bei moralischen Appellen stehen bleiben, sondern in aller Ausführlichkeit die verschiedenen bereits bestehenden Ansätze zu einer vernünftigen globalen Ordnung erörtern und sie daraufhin überprüfen, inwieweit sie für das Ziel einer demokratischen Weltregierung nutzbar sind. Das gilt in erster Linie für drei bereits bestehende Einrichtungen: den UN-Sicherheitsrat und den auf der Grundlage des römischen Statuts des Internationalen Gerichtshofs 2002 in Den Haag eingerichteten Internationalen Strafgerichtshof sowie die Initiative für eine parlamentarische Versammlung bei den Vereinten Nationen, deren Koordinator einer der Autoren des Buches ist, Andreas Bummel.
Natürlich könnten Pessimisten hier einwenden, dass dem Strafgerichtshof wichtige Staaten, unter ihnen die USA, Russland und China, bisher nicht beigetreten sind und daher in vielen Fällen die beabsichtigte Verfolgung und Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gar nicht möglich ist. Auch was eine Reform des UN-Sicherheitsrats angeht, sind die Aussichten nicht eben günstig, weil die dort versammelten »Nachkriegsmächte« ihre Macht ungern mit Newcomern teilen mögen. Und die Initiative für eine parlamentarische Versammlung bei der UNO ist bisher über eine beratende Rolle bei der UN-Vollversammlung nicht hinausgekommen. Dem lässt sich allerdings entgegenhalten, dass die parlamentarische Demokratie in den USA und in Europa ja auch mit dem Geburtsfehler des Zensuswahlrechts und dem Ausschluss der Frauen begonnen hat und der europäische Rechtsstaat lange brauchte, bis er die anfänglich erhebliche Schlagseite zugunsten der Besitzenden und Gebildeten einigermaßen überwand.
Die Zuspitzung der Diskussion auf das demokratische Weltparlament erlaubt es den Autoren, einen Teil der Kritik an der Praxis der UNO und ihrer Unterorganisationen aufzugreifen und produktiv zu wenden. Denn in der Tat leidet die Arbeit der Weltorganisation, so wie sie heute verfasst ist, am Zwang zur Einstimmigkeit, der allzu oft eben dazu führt, dass wichtige Initiativen nicht ergriffen oder bis zur Unkenntlichkeit verwässert werden. Wenn die Menschen selbst und nicht ihre – allzu oft nicht einmal demokratisch gewählten – Regierungen mittels direkt gewählten Vertretern entscheiden, was im Interesse eines friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens auf der Erde zu tun ist, und gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass im Sinne des Subsidiaritätsprinzips auf der globalen Ebene nur jene Probleme geregelt werden, die wirklich nur global zu lösen sind, sodass den unteren Ebenen, vom Nationalstaat bis hinunter zu den Kommunen, ein eigenständiger Gestaltungsraum erhalten bleibt, dann ist das demokratische Weltparlament womöglich tatsächlich die Vision, für deren Verwirklichung es sich trotz aller Widerstände zu kämpfen lohnt.
Jo Leinen/Andreas Bummel: Das demokratische Weltparlament. Eine kosmopolitische Vision. J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2017, 464 S., 26 €.
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