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© Foto: picture alliance/dpa | Gregor Fischer

Plädoyer für eine Gesellschaft des Respekts

Es ist etwas ins Rutschen geraten in unserer Welt. Infolge der Wahl Donald Trumps im Herbst 2016, der Entscheidung der Mehrheit der Britinnen und Briten für den Ausstieg aus der Europäischen Union und insgesamt wachsender Zustimmungsraten für Rechtspopulisten in vielen reichen Nationen des Westens hat sich eine Debatte über die Frage entspannt, ob die wichtigen Parteien links der Mitte – in der Regel sind es sozialdemokratische Parteien – das Pendel nicht zu sehr in Richtung sogenannter identitätspolitischer Themen bewegt und dabei die Interessen der breiten arbeitenden Bevölkerung aus dem Blick verloren hätten. Garniert wird diese Debatte oft mit Ratschlägen von konservativer Seite wie von ganz links.

Solche Ratschläge halte ich für falsch – für unser Land und für die SPD – aus zwei Gründen. Zum einen, weil sie einen nicht überbrückbaren Gegensatz behaupten zwischen den Wertvorstellungen einer sozialen Politik auf der einen Seite sowie einer liberalen und diversen Gesellschaft auf der anderen Seite. Und, weil sie die grundlegenderen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Dynamiken ausblenden, die nicht von politischen Parteien geschaffen werden.

Richtig ist: In einer »Gesellschaft der Singularitäten«, wie sie der Soziologe Andreas Reckwitz nennt, spielen Identitäten und Lebensgefühle eine starke Rolle. Dass es zumindest eine gewisse Spannung gibt zwischen dem Lebensgefühl der polyglotten, akademischen, urbanen Mittelschicht und den traditionelleren Milieus abseits der Großstädte, kann man im Alltag und in den sozialen Netzwerken Tag für Tag erleben. Und es ist durch viele Studien für Deutschland empirisch belegt.

Die gegenwärtige Lage lässt sich jedoch nicht umfassend verstehen, wenn man nicht die vergangenen vier Jahrzehnte in den Blick nimmt. Ich wurde im Jahr 1958 geboren, dem Jahr mit dem niedrigsten Wirtschaftswachstum des damaligen Jahrzehnts. Wohlgemerkt: Es waren 4,5 % Wachstum, heute wäre das ein Boom. Es war die Zeit, in der die Leute an den »Amerikanischen Traum« glaubten und in der Bundesrepublik an »Wohlstand für alle«.

Seit den 80er Jahren sind die reichen Industrienationen neu herausgefordert. Durch die Öffnung der Märkte wird das Wohlstandsversprechen zumindest für die aufsteigenden Mittelschichten in den Schwellenländern und für die oberen Schichten in den reichen Nationen nach wie vor eingelöst. Allerdings wurden die Mittelschichten in den reichen Ländern gespalten. Viele Industriearbeitsplätze und damit Berufsstolz und soziale Strukturen sind verloren gegangen, auch wenn in Deutschland immer wieder andere hinzugekommen sind: Einige Beschäftigte stiegen in die wachsenden Kreativ- und Wissensberufe auf, teils hochqualifiziert, oft aber als Solo-Selbstständige in wenig gesicherter Existenz. Andere fanden Arbeit eher im Bereich der Care- und Servicetätigkeiten, oft vergleichsweise niedrig entlohnt. Nach dem Mauerfall erlebten viele Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands eine rasante Entwertung ihrer Biografien und Berufe. Ich selbst habe zu jener Zeit viele von ihnen und ihre Sorgen kennengelernt, als junger Anwalt habe ich Beschäftigte und Gewerkschaften im Osten juristisch vertreten. Es war ganz offensichtlich, wie sie zugleich für ihre Zukunft und die Sicherung ihrer Lebensleistung kämpften. Die Würde der Arbeit, der Stolz auf den Beruf und die Möglichkeit für alle, ein ganz normales Mittelschichtsleben zu führen – dieses Versprechen gilt spätestens seitdem nicht mehr ungebrochen.

Mich hat schon vor längerer Zeit das Buch von Michael Young The Rise Of The Meritocracy beschäftigt. Young war Sozialwissenschaftler und nach dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Vordenker der britischen Labour Party. Den von ihm erfundenen Begriff der »Meritokratie«, also einer Gesellschaft, in der die eigene Leistung der Platzanweiser ist, verstand er kritisch und nicht normativ. Viele haben das missverstanden. Ich denke, dass eine Überbetonung der Meritokratie nicht die einzige, aber wohl eine ganz maßgebliche Ursache für unsere aktuellen Konflikte ist. Während es zuvor als »Schicksal« galt, in eine soziale Klasse hineingeboren zu werden, und es den Anspruch gab, diese sozialen Schranken kollektiv zu überwinden, gilt heute der Platz in der Gesellschaft ausschließlich als Ergebnis individueller Anstrengung. Zugleich hat der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel auch die solidaritätsstiftenden Institutionen und Erzählungen geschwächt.

Selbstverständlich bleibt auch heute der individuelle Aufstieg durch ein gutes Bildungssystem ein zentrales politisches Ziel. Wir müssen aber auch erkennen, dass der Aufstiegsimperativ zu einer Herabwürdigung all derer führen kann, die keine akademischen Abschlüsse oder Kreativberufe in den Metropolen anstreben. Das meritokratische Prinzip in einer Gesellschaft der Singularitäten blendet aus, dass wir eine arbeitsteilige Gesellschaft sind, in der wir alle aufeinander angewiesen sind. Auf den Punkt gebracht: Das Akademiker-Ehepaar mit Kindern und zwei hohen Vollzeit-Einkommen kann nur zurechtkommen, wenn es auf eine Dienstleistungswirtschaft zurückgreifen kann, in der eben auch andere Tätigkeiten ausgeübt werden, wie reinigen, liefern, kochen oder betreuen.

Jüngst hat der amerikanische Philosoph Michael Sandel den Begriff der Meritokratie kritisch aufgegriffen. Er spricht davon, dass es nicht nur um Verteilungsgerechtigkeit gehen müsse, sondern auch um Beitragsgerechtigkeit. Der in der deutschen Übersetzung etwas umständliche Begriff meint, dass jede und jeder auch den Anspruch hat, dass der eigene Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl anerkannt wird. In eine ähnliche Richtung argumentieren Verhaltensökonomen, wenn sie darlegen, dass ein verletztes Gerechtigkeitsempfinden auch Ergebnis fehlender Gegenseitigkeit ist: Hast du keinen Respekt vor mir, habe ich auch keinen vor dir.

Mein Leitbild ist eine Gesellschaft des Respekts. In einer Gesellschaft des Respekts ist einec Politik des Respekts erforderlich. Sie spielt Identitätsfragen, eine Anti-Diskriminierungspolitik und die soziale Frage nicht gegeneinander aus. Sie ist liberal und sozial. Sie ist konsequent gegen Rassismus und Sexismus. Und sie wendet sich gegen den »Klassismus« in unserer Gesellschaft, die teils subtile, teils offen verhöhnende Verachtung vieler hart arbeitender Bürgerinnen und Bürger und ihrer Lebensweisen. Daher geht es für mich um Respekt und Anerkennung auf allen Ebenen.

Respekt kann nur erwachsen aus einem Miteinander, aus Kontakten und Gesprächen, die uns in die Lage versetzen, einander zu verstehen. Doch in der jüngsten Zeit sind uns die Orte für diese Verständigung vielfach abhandengekommen. In den Filterblasen und der »Erregungsdemokratie« der sozialen Netzwerke findet eine solche Verständigung leider kaum statt.

Die notwendigen großen Transformationen unserer Zeit können aber nur funktionieren, wenn wir aus Konflikten tragfähige Kompromisse schmieden. So wurde der klimapolitisch nötige Kohleausstieg bis spätestens 2038 in einer großen Kommission beraten, um den Zielkonflikt von Arbeit, sicherer Energieversorgung und Klimaschutz aufzulösen. Wir brauchen solche Verständigungen auch im Kleinen. Der Krieg der Meinungseliten auf Twitter oder in anderen sozialen Medien ist keine Antwort auf die politische Repräsentationslücke. Oft wird gefordert, Politiker müssten wieder mehr zuhören. Das halte ich für eine Selbstverständlichkeit, zumal als früherer Bürgermeister einer großen Stadt. Doch in der Gesellschaft der Singularitäten entsteht ein »Wir« nicht aus sich selbst heraus. Die eigentliche Herausforderung für die Politik besteht im Führen und Zusammenführen, also darin, politische Ziele über den Tag hinaus zu definieren, verschiedene Interessen und Wertvorstellungen fortschrittlich zu integrieren.

Eine Politik des Respekts betrifft, erstens, die materielle Wertschätzung und die Frage der Verteilung. In Deutschland verfügen wir durchaus über viele Instrumente, die Ungleichheit der Markteinkommen abzumildern. Aber wesentlich muss eine faire Entlohnung sein. In Zukunft sollte niemand weniger Lohn bekommen als zwölf Euro in der Stunde. Ein Mindestlohn hat auch positive ökonomische Effekte. Er steigert die Kaufkraft. Und wenn der Wettbewerb nicht mehr über möglichst niedrige Löhne ausgetragen wird, erhöht dies den Innovationsdruck und führt in bestimmten Branchen zur Steigerung der Produktivität. Der Mindestlohn sollte aber nur die Untergrenze sein. Auch darüber hinaus sind anständige Löhne erforderlich. Und was die Vermögen betrifft: Glaubt man den verbesserten Forschungsdaten, die auch in den neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung einfließen werden, dann verfügt das oberste Prozent der Gesellschaft über rund 30 % des Nettogesamtvermögens. Das Grundgesetz sagt, Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll auch dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

Respekt gegenüber Arbeit geht jedoch, zweitens, über das Materielle hinaus. Es geht um Wertschätzung der produktiven Tätigkeit, darum, nicht das Gefühl zu haben, austauschbar zu sein. Neben der Wahrung von Arbeitnehmerrechten geht es mir vor allem darum, den Wert der Arbeit und den Stolz des Berufs in der aktuellen Modernisierung unserer Wirtschaft im Blick zu behalten. Dies bedeutet zum Beispiel, den Strukturwandel und die Klimapolitik nicht so anzugehen, dass man den Beschäftigten, die es »treffen« wird, mit dem lapidaren Hinweis gegenübertritt, dass irgendwo und irgendwann auch neue Jobs entstehen. Nur wenn qualifizierte Facharbeiterinnen und Facharbeiter die Perspektive haben, eine neue gute Beschäftigung zu finden, gewinnen wir sie als Unterstützer für die nötige Klimawende.

Meine Kritik am meritokratischen Prinzip bedeutet, drittens, selbstverständlich auch, alles dafür zu tun, dass Kinder und Jugendliche beste Chancen erhalten. Es ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, für gute Kitas, Ganztagsschulen, eine gute Berufsausbildung und erstklassige Hochschulen zu sorgen. Unverändert bestimmt in Deutschland die Herkunft viel zu sehr den Lebensweg. Eine Kindergrundsicherung kann einen besseren Start in das Leben ermöglichen.

Der Respekt vor verschiedenen Biografien und Lebensstilen gebietet, viertens, für gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen zu sorgen. Dazu gehört für mich auch, dass Städte, die unser Land über viele Jahrzehnte zum Beispiel mit Kohle und Stahl zur wirtschaftlichen Blüte gebracht haben, inzwischen aber unter dem Strukturbruch finanziell leiden, unterstützt werden, damit sie wieder investieren und blühen können. Und wir müssen den Stadt-Land-Gegensatz überwinden. Gleichwertige Lebensverhältnisse setzen überall eine gut ausgebaute Infrastruktur voraus. Wer auf dem Land lebt und 50 Kilometer zur Arbeit fahren muss, dem hilft die Belehrung wenig, dass das Fahrrad das ökologischste Verkehrsmittel ist. Daher sollte es ein gesamtstaatliches Ziel sein, überall intelligente neue öffentliche Verkehrsangebote zu entwickeln. Spätestens bis Ende des Jahrzehnts muss zudem der Zugang zum Gigabit-Internet für alle Unternehmen und Haushalte verfügbar sein.

Und schließlich, fünftens: Gemessen an der oft verklärten Nachkriegszeit sind wir inzwischen eine viel liberalere und offenere Gesellschaft. Wir haben viele staatliche und alltägliche Diskriminierungen von Frauen oder LGBTQ-Personen hinter uns gelassen, auch wenn bei Weitem noch nicht alle. Die »Ausländer« oder »Gastarbeiter« von einst sind für die meisten im Lande längst Freunde oder Kolleginnen. Einer Gesellschaft des Respekts muss es egal sein, wen man liebt, woher man kommt und an welchen Gott man glaubt, oder ob man an nichts glaubt. Eine Politik des Respekts muss dort handeln, wo Diskriminierungen fortbestehen und gleiche Würde und gleiche Rechte nicht gewahrt sind. Sie zieht eine klare Grenze, wenn etwa die Familienehre oder reaktionäre Verschwörungsmythen über demokratische Werte und die Prinzipien unseres Grundgesetzes gestellt werden.

Eine Gesellschaft des Respekts ist eine Gesellschaft, in der fragmentierte »Identitäten« nicht an die Stelle eines Wir der Vielfältigkeit treten. Das lässt sich zwar nicht verordnen durch eine Politik des Respekts. Sie schafft aber die notwendigen Voraussetzungen für mehr Zusammenhalt und gegenseitige Anerkennung. Und darauf kommt es an.

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