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Zum 100. Geburtstag von Johannes Bobrowski Poetische Landnahme im Osten

Als 1998/99 bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart eine sechsbändige Ausgabe seiner gesammelten Werke erschien, konnte man hoffen, Johannes Bobrowski, dieser bedeutende Lyriker und Erzähler, würde in naher Zukunft wiederentdeckt. Diese Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt; sein Werk ist zunehmend in Vergessenheit geraten. Dabei war er der seltene Fall eines Autors, der in beiden deutschen Staaten hohes Ansehen genoss: 1962 wurde ihm der Preis der Gruppe 47 verliehen, den vor ihm Günter Grass und Martin Walser erhalten hatten; drei Jahre später folgte der Heinrich-Mann-Preis der Ostberliner Akademie der Künste. Zahlreiche Autoren haben sich auf Bobrowski bezogen: Hans Magnus Enzensberger und Christa Wolf, Paul Celan und Franz Fühmann, und noch ein nachgeborener Lyriker wie Durs Grünbein stand unter seinem Einfluss. Und Herta Müller sagte: »Das ist eine Sprache, die verwundet beim Lesen. Ich wär’ sehr neugierig, wie lange er an solch einem Text gearbeitet hat, weil bei ihm jedes Wort so weit in die Tiefe geht. Und wie er jedes dieser Wörter leben konnte, denn die sind gelebt, in allem, was sie sagen können.«

Bobrowskis großes Thema war – er selbst hat es so definiert: »Deutschland und der europäische Osten. Eine Geschichte aus Unglück und Verschuldung, seit den Tagen des Deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buch steht.« Erlebnisse und Eindrücke aus Kindheit und Jugend wurden für ihn zum wesentlichen stofflichen Fundus, aus dem er schöpfen konnte. Geboren 1917 in Tilsit, lernte er bei seinen Großeltern, die als Bauern im Memelgebiet lebten, die komplexen Spannungsverhältnisse im Zusammenleben verschiedener Nationalitäten kennen. Dann kamen die Deutschen und brachten den Krieg. Bobrowski wurde Soldat, geriet in russische Gefangenschaft und musste als Bergmann im Donezbecken arbeiten. Als er 1949 entlassen wurde, entschied er sich für die DDR und zog nach Friedrichshagen bei Berlin. Fern der offiziösen Vereinnahmung durch die SED-Propaganda beschäftigte ihn das Verhältnis der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarn. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie miserabel dieses Verhältnis damals gerade zwischen der DDR und Polen war, wundert man sich über die Dreistigkeit, mit der Bobrowski immer wieder auch in offiziellen Anthologien der DDR-Zeit mit dem Ziel gutnachbarschaftlicher Beziehungen vereinnahmt wurde

Die ersten lyrischen Versuche waren noch durch die Dichtung Peter Huchels beeinflusst, der Bobrowskis frühe Gedichte in der Zeitschrift Sinn und Form druckte. Der junge Lyriker fühlte sich in der geistigen Tradition von Friedrich Gottlieb Klopstock, Siegfried Lenz und Georg Trakl, hielt zugleich an Friedrich Hölderlin fest: »Wachs und werde zum Wald! (…) Sei die Sprache der Liebenden!« Seine Gedichte verstand Bobrowski als Beitrag zur Versöhnung mit den Völkern der osteuropäischen Länder. Mit ihnen wollte er einen »sarmatischen Diwan« schaffen. Die Sammlungen Sarmatische Zeit (1961) und Schattenland Ströme (1962) schlugen einen ganz eigenen und unverkennbaren Ton an, Bobrowskis »poetische Landnahme«. Immer wieder beschrieb und beschwor er das Bild der osteuropäischen Landschaft, wo deutsche und slawische Kulturen und Sprachen einander begegneten und durchdrangen. Seine Leser in Ost und West verstanden diese Art Dichtung mitunter als »Naturlyrik«. Aber das war ein Missverständnis. Sarmatien war für Bobrowski ein poetisch-geografisches Medium. Mit den Mitteln der Poesie versuchte er den vergessenen Kosmos dieses riesigen Gebiets östlich der Weichsel wiederzubeleben – eine Lyrik der Erinnerung und des Sich-Bewusstwerdens von (schuldbeladener) Vergangenheit, zuletzt in der Gedichtsammlung Wetterzeichen, die zwei Jahre nach dem Tod des Dichters erschien. Auch seine beiden Romane handeln von diesem Thema. In Levins Mühle zeigt Bobrowski am Beispiel eines dörflichen Rechtsstreits, wie sich die Verhaltensweisen verschiedener Volksgruppen zu einer unheilvollen Mixtur aus Misstrauen und Aggression zusammenbrauen. In Litauische Claviere geht es um die Ereignisse an zwei Tagen des Jahres 1936, an denen die Deutschen in einem Festspiel die Preußenkönigin Luise, die Litauer ihr Vytautasfest feiern. Nationalistische Überheblichkeit und das Bemühen um eine Verständigung werden einander gegenübergestellt. Bobrowski lehnte die deutsche Teilung immer ab

Der Dichter aus Tilsit, der kurz vor seinem Tod die Litauischen Claviere beendet hatte, starb 1965 im Alter von nur 48 Jahren. Über seine letzten Jahre, in denen er von der Stasi überwacht wurde, schrieb sein Freund und Kollege Christoph Meckel: »Die Melancholie hörte nicht mehr auf, sie wurde lastend und bedrückte den Freund, der den Menschen kannte, bevor er ins Schlingern geriet (…). Sein Dasein rutschte ab in Hektik und Trauer. Der Alkohol betäubte ihn, und der Ruhm zog ihn immer weiter von sich weg.« Bobrowskis Gedichte waren gegen das Vergessen gerichtet, wie das großartige, 1960 entstandene Gedicht »Holunderblüte«.

Holunderblüte

Es kommt

Babel, Isaak.

Er sagt: Bei dem Pogrom,

als ich Kind war,

meiner Taube

riß man den Kopf ab.

Häuser in hölzerner Straße,

mit Zäunen, darüber Holunder.

Weiß gescheuert die Schwelle,

die kleine Treppe hinab –

Damals, weißt du, die Blutspur.

Leute, ihr redet: Vergessen –

Es kommen die jungen Menschen,

ihr Lachen wie Büsche Holunders.

Leute, es möcht der Holunder

sterben

an eurer Vergeßlichkeit.

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