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© picture alliance / Rupert Oberhäuser | Rupert Oberhäuser

Politik gegen Ungleichheit ist möglich

Dierk Hirschel ist ein engagierter Gewerkschafter. Ihn erzürnt, dass ausgerechnet eine rot-grüne Regierung, den Niedergang der Sozialdemokratie bewirkt hat. Denn das ist die grundlegende These in seinem neuen Buch Das Gift der Ungleichheit: Die seit mehr als 20 Jahren zunehmende Ungleichheit mit ihren verheerenden Wirkungen und dem Niedergang der SPD rühren vornehmlich aus der falschen neoliberalen Politik, vor allem unter Gerhard Schröder: »Nicht Globalisierung und Digitalisierung sind für den schlechten Gesundheitszustand der SPD verantwortlich, sondern die Politik der Agenda 2010 und der Verzicht auf eine progressive Umwelt- und Friedenspolitik«.

Der Verfasser spricht der Politik damit eine weitgehende Autonomie gegenüber der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu, obwohl er sich in seinem Grundansatz wohl eher als Marxist begreift. Die Balance zwischen Kapitalismus und Demokratie, die den sogenannten Rheinischen Kapitalismus gekennzeichnet habe, sei durch den Neoliberalismus der Agenda 2010 zerstört worden. Denn er habe zum Abbau des Sozialstaats geführt, der die Demokratie vor der Niederlage gegenüber dem Kapitalismus bewahrt hatte. Zwar gibt es Probleme, die nationalstaatlich nicht mehr gelöst werden können. Dazu gehören der Klimawandel, die Flüchtlingsbewegungen, die Finanzmarktregulierung, Pandemien. Aber: »Von einem Kontrollverlust nationaler Politik über die zentralen Lebensbereiche – Arbeit, Wohnen, Bildung, soziale Sicherheit etc. – kann keine Rede sein.« Wenn Politiker ihre falschen Entscheidungen damit rechtfertigen, dass sie dem Sachzwang der Globalisierung folgen mussten, entstehe der Eindruck »einer ohnmächtigen nationalen Politik, die das Gemeinwesen nicht mehr steuern kann«.

In Wahrheit aber sind es ökonomische – volkswirtschaftliche – Inkompetenz und mangelnder politischer Wille, gerade auch der sozialdemokratischen Politiker – also eher persönliche Defizite –, die zur weltweiten Ungleichheit geführt haben. Deren verheerende Wirkungen sind offenkundig, aber nicht das notwendige Ergebnis von Globalisierung.

Andererseits hat der Gewerkschafter Hirschel beobachtet, wie globaler Wettbewerbsdruck die kapitalmarktorientierten Unternehmen dahin geführt hat, ihre Binnenstruktur mit marktförmigen Kontrollsystemen zu versehen. Damit hat sich die Autonomie der Beschäftigten zwar erhöht, aber sie wurden zugleich einem massiven internen Wettbewerb und Leistungsdruck ausgesetzt. Hier spielt die Globalisierung in Form der Ausweitung des Wettbewerbssystems auf immer mehr Lebensbereiche dann doch eine Rolle, die es der Gegenwehr der Gewerkschaften, nicht nur der Politiker schwer macht. Da Unternehmer einerseits auf den freien Welthandel und zugleich auf Investorenschutz setzen können, hat sich ihre Verhandlungsmacht verstärkt, zumal sie gleichzeitig in ihrem Nationalstaat ihre Lobby ausüben können.

Allerdings, so Hirschel, könnte nationale Politik doch mehr Gegendruck ausüben, z. B. gegen die Drohung von Unternehmen, ins Ausland zu gehen. Sie müsste klar machen, dass Lohnkosten in der Globalisierung eine immer geringere Rolle spielen im Vergleich zu einer guten Verkehrsinfrastruktur, zuverlässiger Energieversorgung, politischer Stabilität, Rechtssicherheit, der Qualifikation der Beschäftigten und der Größe und Lage des Absatzmarktes.

Das Beharren des Autors darauf, dass Politik mehr Handlungsspielraum hat, als sie behauptet, gilt also auch für die Gewerkschaften, deren Politik ebenfalls wichtige Auswirkungen auf die Entstehung von Ungleichheit hat. In der wissenschaftlichen Literatur darüber wird in der Tat betont, dass nicht ökonomische Dynamiken für deren Abbau sorgen – die Selbstregulierung des Marktes etwa. Im Gegenteil, Gleichheit als Überwindung der natürlichen Tendenz zur Ungleichheit ist auf wirksame ausgleichende Politik angewiesen.

Den Gewerkschaften, seinem eigenen Wirkungsfeld, billigt Dierk Hirschel hier bessere Anstrengungen und Erfolge zu als nationaler Politik. Nicht Sozialtechnologie, sondern »Organizing«, das auf »Selbstorganisation« der Beschäftigten zielt, hat hier Erfolg, vor allem um dem Mitgliederverlust entgegenzuwirken. Der ist seinerseits allerdings auch eine Folge der globalen wirtschaftlichen Entwicklung. Der Autor schwankt hier in seinen Aussagen, ob der Mitgliederverlust gestoppt oder nur wirksam verlangsamt worden ist, was für das Potenzial gewerkschaftlicher Gegenmacht zentral ist.

Wie weit wir es überhaupt in Zukunft noch mit kollektiven, örtlich konzentrierten Arbeitsweisen zu tun haben werden, was die gewerkschaftliche Organisierung natürlich erleichtert, und nicht mit sozial, örtlich und zeitlich durch und durch flexibilisierten, wird wenig thematisiert. Hier könnte aber das künftige Haupthindernis gegen gewerkschaftliche Organisationsmacht liegen, das auch durch einen stärkeren Sozialstaat, höhere Mindestlöhne und politische Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifvereinbarungen – um die es dem Autor besonders geht – nicht ausgeglichen werden könnte.

Generell aber stellt sich die Frage, warum die von ihm skizzierte linke Politik in den letzten Jahrzehnten zu wenig demokratische Unterstützung erhalten hat. Dazu findet man in dem Buch kaum Antworten. Ist eine allgemeine Verblendung der Wählerschaft daran schuld, unfähige oder unwillige Politiker oder gibt es doch mehr systemische Schwierigkeiten? Und deckt Hirschels Utopie die Wünsche und Sehnsüchte der Bürger zureichend ab?

Dabei geht es natürlich nicht um die immer wieder erwähnten reichsten 1 bis 10 %. Es geht sowohl um die Zukurzkommenden als auch um Bürger, denen es nicht schlecht geht und die durchaus auf Solidarität anzusprechen sind. Sind sie durch eine Vision zu gewinnen, die im Wesentlichen auf kollektive gewerkschaftliche Organisation und Sozialversicherungen, auf mehr Steuern und öffentliche Güter angelegt ist, die Politik insgesamt als »Steuerung« begreift? Die hatte sich doch schon seit den 80er Jahren als nicht wirkmächtig genug erwiesen, weil sie der Individualisierung und Komplexität der Lebensverhältnisse nicht genug Rechnung tragen konnte. Daher doch die unzähligen Diskussionen zur Good Governance, in denen neue politische Subjekte und Organisationsformen erörtert wurden.

Auch die Erweiterung der seit den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts von Fritz Naphtali, Rudolf Hilferding und Viktor Agartz vorgeschlagenen Modelle zur Wirtschaftsdemokratie, die doch wesentlich im nationalstaatlichen Rahmen konzipiert waren und neben der nach 1945 weiterentwickelten Mitbestimmung die Sozialisierung der Schlüsselindustrien und ihre staatlich-volkswirtschaftliche Planung vorsahen, bietet, so scheint mir, heute keine Vision mehr, die in unseren zeitgenössisch bunten Gesellschaften eine Wählermehrheit gewinnen könnte.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob die Verstärkung und Weiterentwicklung von demokratischer Politik auf der Grundeinheit betrieblicher Arbeit aufbauen kann, ob sie sich nicht doch auf einen geografischen Bereich beziehen muss, der auch alle anderen Lebensdimensionen umfasst, etwa die Gemeinde, die sich dann mit anderen vernetzt. Dierk Hirschels Entwurf einer fortschrittlichen Politik umfasst de facto ja auch viel mehr Bereiche. Er lässt kaum eine aktuelle progressive Forderung aus.

Ihm sind viele Leser zu wünschen. Er würde evtl. noch mehr erreichen, wenn er weniger mit Fakten und Zahlen operiert und stattdessen seine These von den vertanen Möglichkeiten nationalstaatlicher Politik in der Globalisierung und deren Ursachen noch prägnanter herausgearbeitet hätte.

Dierk Hirschel: Das Gift der Ungleichheit. J.H.W. Dietz, Bonn 2020, 256 S., 22 €.

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