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Sozialdemokratie, soziale Bewegungen und das neue politische Subjekt Politik in Zeiten der Post-Politik

Die Bundestagswahl 2017 bescherte der SPD mit 20,5 % ihr schlechtestes Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik. Das kurze Hoch mit dem damaligen neuen Vorsitzenden Martin Schulz, Tausenden von Parteieintritten und guten Umfragewerten konnte nicht in eine dauerhafte Unterstützung sozialdemokratischer Inhalte umgewandelt werden. Seitdem wird unter dem Schlagwort »Erneuerung« intensiv diskutiert, was ab jetzt alles anders laufen soll. Dabei stellt sich (erneut) die Frage, ob die SPD etwas von sozialen Bewegungen lernen kann, und, wenn ja, was. Die Beteiligung an sozialen Bewegungen wie »Nuit Debout« in Frankreich oder »Wir haben es satt!« in Deutschland scheint für politisch Interessierte attraktiver zu sein, als die Arbeit in einer Partei. Diese höhere Attraktivität ist das Ergebnis erfolgreicher Mobilisierung bei Themen, die sich häufig nicht in der parteipolitischen Agenda wiederfinden lassen. Gleichzeitig werden auch Personen mobilisiert, die überwiegend nicht der Stammwählerschaft der SPD zuzurechnen sind (so waren z. B. von den Teilnehmer/innen an der Anti-TTIP-Demonstration am 10. Oktober 2015 nur 6 % SPD-Wähler/innen, auf den G20-Demonstrationen lag der Wert nur ganz leicht darüber). Es ist keine neue Erkenntnis, dass in sozialen Bewegungen überwiegend Personen der universitär gebildeten Mittelklasse aktiv sind, eine gesellschaftliche Gruppe, die die SPD kontinuierlich für sich zu gewinnen versucht – jedoch mit geringem Erfolg. Doch warum tut sich die SPD da so schwer? Könnte sie bei diesem Punkt von den sozialen Bewegungen lernen?

Zunächst ist es durchaus kein Automatismus, dass sich das Engagement in Bewegungen negativ auf die Parteienmitgliedschaft auswirkt. Es gibt durchaus auch positive spill-over-Effekte, wenn z. B. Protestierende über das Protestereignis hinaus ihr politisches Engagement in Parteien verstetigen wollen. Allerdings profitierten hier im linken Spektrum insbesondere DIE GRÜNEN oder DIE LINKE, weniger die SPD.

Der Grund dafür liegt in erster Linie nicht in den Inhalten: Soziale Gerechtigkeit als Oberthema befürworten auch Aktivisten. Es liegt vielmehr an einem grundlegend anderen Verständnis von Politik, von politischem Handeln und von sozialem und gesellschaftlichem Wandel. Ein Verständnis von politischer Praxis, welches sozialdemokratischem Denken bisher fremd ist.

Dabei durchläuft politisches Handeln seit Längerem einen Bedeutungswandel, der sich durch die kontinuierlichen Krisendynamiken verstärkt hat, und der mit Begriffen wie »Politikverdrossenheit« oder »Post-Politik« nicht erfasst werden kann. Genauer gesagt können wir die Herausbildung eines neuen politischen Subjekts beobachten, dessen Subjektivierung sich gerade in dem kontinuierlichen Experimentieren mit politischen Handlungsformen im Alltag und in erster Linie außerhalb jeglicher Organisationsstrukturen vollzieht. Im Englischen hat sich dafür der Begriff »prefigurative politics« etabliert, der das Praktizieren von Lebensstilentwürfen bezeichnet, die den angestrebten gesellschaftlichen Wandel im Sinne eines »be the change you want to see« leben. In dieser »Politik des Alltäglichen« werden Handlungspraktiken in den Alltag integriert, um somit einen breiteren sozialen und politischen Wandel zu bewirken. Alltagshandeln wird zu Aktionshandeln. Diese Strategie der Veränderung besitzt eine lange frühsozialistische und -anarchistische Tradition und wurde zunächst u. a. von radikalen Feministinnen praktiziert. Heute wird diese politische Handlungsform nicht nur in Protestcamps oder Transition Towns (Städten im Wandel) praktiziert, sondern findet vielfältigen Ausdruck in Alltagshandlungen wie dem Food Sharing oder Containering, der Zero-Waste-Bewegung, politischem Konsum, Post-Wachstumspraktiken, Downshifting, nachhaltigem und ökologischem Lebensstil oder der Inbesitzname von Plätzen und Häusern. Dabei zählt »der Weg als Ziel«. Erreicht werden soll eine kontinuierliche Demokratisierung, Egalisierung oder Revolutionierung alltäglicher Lebensbereiche.

In diesem Prozess entwickelt sich eine neue politische Subjektivität, welche ihre politische Meinung nicht in Forderungen an Regierung und Parteien artikuliert. Das stellt Parteien vor besondere Herausforderungen. Denn trotz ihres gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruchs wird sie mit einer Abkehr von kollektiven Mobilisierungsversuchen in Verbindung gebracht, da nicht mehr darauf abgezielt wird, den Staat oder andere Eliten über kollektive Protestereignisse und »contentious politics« (Charles Tilly) zu beeinflussen, die die »normalen« Prozesse der Gesellschaft stören. Repräsentation oder Interessenaggregation in Großorganisationen wird als Prinzip abgelehnt. Deswegen werden diese Handlungsformen auch als ein weiterer Ausdruck der »Post-Politik« interpretiert. Mit diesem Begriff bezeichnen so unterschiedliche Denker wie Colin Crouch, Jacques Rancière, Chantal Mouffe oder Erik Swyngedouw (auf jeweils unterschiedliche Art) eine entpolitisierte Form der Politik, bei der politisches Steuern auf administratives Handeln reduziert wird und anstelle öffentlicher Debatten ideologiefreie Ideen und soziale Innovationen treten. Präfiguratives Handeln gilt insofern als post-politisch, als dass es als problemlösungsorientiertes Handeln auftritt, welches zwar darauf abzielt, dem Allgemeinwohl zu dienen, dabei jedoch die Existenz grundlegender gesellschaftlicher Konfliktlinien und Interessensgegensätze verschiedener gesellschaftlicher Gruppen aus dem Blick verliert: »Wir sind die 99 %« wendet sich zwar gegen eine Machtelite, die Unterschiede zwischen der arbeitslosen Bankerin und dem arbeitslosen Maurer gehen dabei allerdings verloren.

So scheint das neue politische Subjekt in einem Widerspruch verhaftet: Einerseits konstituiert es sich über die kontinuierliche Behandlung von Ungerechtigkeiten. Es begreift gesellschaftliche Strukturen als konstruiert und Ausdruck bestehender Machtverhältnisse, die es zu verändern gilt. Andererseits werden Gestaltungsansprüche depolitisiert, wenn es keine klaren politischen Adressaten gibt, die als Problemverursacher oder als Problemlöser mit Forderungen konfrontiert werden. Ungerechtigkeiten und Umweltzerstörung werden zwar klar benannt, erscheinen jedoch nicht mehr als Probleme, die vom Staat und den regierenden Parteien gelöst werden müssen oder können; vielmehr wird die Verantwortung für die Problemlösung in dem konsensorientierten Handeln von Individuen gesehen. Jeder Einzelne muss konkrete, alltagstaugliche Lösungen für Probleme finden, um die Welt zu retten und das Fortbestehen der Menschheit zu ermöglichen: Diese Aufgabe kann und darf nicht länger Politikern überlassen bleiben.

Daraus ergeben sich für Parteien im Allgemeinen und für sozialdemokratische Parteien im Besonderen neue Herausforderungen: Wenn politischer Wandel zu kulturellem Wandel wird, dann lassen sich Ziele nicht einfach in politische Forderungen und regulative Maßnahmen übersetzen. Wenn Kritik nicht öffentlich artikuliert wird und Interessengegensätze und Klassenunterschiede unter problemlösungsorientiertem Handeln unsichtbar werden, dann können politische Parteien – die laut Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan als Ergebnis und Manifestation gesellschaftlicher Konfliktlinien gelten – die Zielsetzungen und Themen der neuen politischen Subjekte nicht in ein politisches Programm ummünzen. Ein Lernen scheint nicht möglich. Ebenso scheint es ausgeschlossen, daraus neue Parteimitglieder oder Wähler/innen zu gewinnen. Im Gegenteil, eine nicht-intendierte oder zumindest nicht-antizipierte Folge solcher Lifestylepolitiken kann eine weitere Entfremdung von den Parteien sein, da man dieser zur Artikulation politischer Positionen nicht mehr bedarf. Das verstärkt die Fragmentierung der Gesellschaft, wenn sich derartige Handlungsformen nur unter den, von Andreas Reckwitz als »Neue Mittelschicht« bezeichnete Gruppen und Personen, verbreiten, die mit den anderen Klassen keine Erfahrungsräume oder Öffentlichkeiten mehr teilen und sich in ihre exklusiven, hoch moralisierten Lifestylekokons zurückziehen.

Allerdings ist meines Erachtens diese Perspektive zu eindimensional und zu vereinfacht. Vielmehr kann das neue politische Subjekt die Politik der SPD auch positiv beeinflussen, indem es die Mitglieder dazu anregt, sich eine transformatorische Praxis anzueignen, in der neue Möglichkeiten des demokratischen Regierens gedacht und realisiert werden. Eine solche Handlungsstrategie kann aus der Passivität der GroKo-Depression herausführen. Es ist in erster Linie eben diese politisch-gestalterische Geisteshaltung, die die SPD für sich wiederentdecken sollte.

Präfigurative Praktiken waren schon immer Teil sozialer Bewegungen. Doch wohingegen die »Politik im Alltäglichen« früher einen kleinen Teil des Handlungsrepertoires sozialer Bewegungen ausmachte, erscheint sie in der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Konstellation als eine zentrale Figuration politischen Handelns. Forscher, die soziale Bewegungen untersuchen, sehen einen Grund dafür in den sich schließenden politischen Gelegenheitsstrukturen seit Beginn der Krisen in Europa, da seitdem politischer Einfluss über Protest immer weniger vielversprechend erscheint. In den Alltag integriertes politisches Handeln gilt auch als Reaktion auf die Unfähigkeit des Staates und der Parteien, dringende Probleme (z. B. die wachsenden sozialen Ungleichheiten oder die Umweltzerstörung) anzupacken und lokal, national und international zu lösen. Betrachtet man die gegenwärtigen Debatten in der SPD, so scheinen die Mitglieder selbst nicht mehr daran zu glauben, dass es eine gemeinsame normative Vision gibt, welche sich in die Regierungspraxis übersetzen lässt.

Dabei gibt es durchaus Anknüpfungspunkte: Die neue politische Subjektivität formiert sich in der Auseinandersetzung mit der Kapitalismuskritik. Neoliberale Ideologien und die Vermarktwirtschaftlichung aller Lebensbereiche wird abgelehnt. Es werden Alternativen zu ökonomisierten und zerstörerischen Lebensweisen gesucht. Dabei wird Globalisierung in ihrer kosmopolitischen Vision (»another world is possible«) durchaus befürwortet. Gleichzeitig sind die Wertehaltungen dabei vielschichtig und lassen sich nicht einfach unter Begriffen wie globalistisch-liberale Position oder Kosmopolitismus zusammenfassen und so von den kommunitaristischen Positionen abgrenzen.

Allerdings ist es schwierig für eine Partei, die aus dem industriellen Klassenkonflikt hervorgegangen ist, an die gegenwärtige Form der Kapitalismuskritik anzuknüpfen. Denn das Verhältnis zum Kapitalismus der präfigurativ Aktiven ist durchaus ambivalent. Auf der einen Seite teilt das neue politische Subjekt Erfahrungen der Prekarisierung mit Arbeiterschaften weltweit. Auf der anderen Seite macht die gegenwärtige Form des Kapitalismus mit seinen technologischen, zunehmend digitalen Innovationen und dem maßgeschneidert »alternativen« Konsum präfigurative Handlungspraktiken überhaupt erst möglich. Mehr noch, alternative Lebensentwürfe können die Ausbeutungsdynamiken des gegenwärtigen Kapitalismus befruchten, dem es dank einer künstlerisch-kreativen Elite immer wieder gelingt, nicht-ökonomische Handlungsalternativen in Mehrwert und Gewinnmaximierung zu übertragen. Als Reaktion darauf formiert sich in den »ausgeschlossenen« Teilen der Bevölkerung Widerstand, der die politische Subjektivierung in der beschriebenen Form radikal ablehnt, da er finanzielle und kulturelle Unterschiede nivelliert. Politische Parteien scheinen dabei nur die passive Rolle des machtlosen Beobachters innezuhaben. Für die SPD, so scheint es, ist der dauerhafte Abstieg unter die 20 % unaufhaltsam, denn jede Erneuerungsdebatte unterliegt einem Adressierungsfehler an eine Zielgruppe, die es in dieser Form – zumindest in sozialen Bewegungen – kaum mehr gibt.

Was also könnte die SPD dennoch von gegenwärtigen progressiven Bewegungen lernen? Erwartet man konkrete inhaltliche Impulse von sozialen Bewegungen, so wird man enttäuscht. Die SPD scheint in ihrem habitualisierten Erneuerungsdiskurs festgefahren, ohne jedoch in der Lage zu sein, Erneuerung jenseits von Personalfragen in parteipolitische Alltagspraxis zu übersetzen. Dabei lässt sich gerade aus dem emanzipatorischen Potenzial präfigurativer Ansätze lernen. Etwas Neues zu schaffen ist kein klar zu definierender, linearer oder jemals endender Weg. Es ist ein Prozess des »Machens« und »Schaffens«, eine kontinuierliche Suche nach den adäquaten politischen Lösungsformen. Politik bedarf eines andauernden Einbeziehens in eine transformatorische Praxis, die auch immer wieder den Streit und den Konflikt sucht. Inhaltlich sollte sich Politik in der beständigen Bestätigung der Gleichheit und Gerechtigkeit äußern, wobei sie diese Werte nicht nur für die Zukunft in leeren Worthülsen proklamiert, sondern diese in allen Bereichen immer wieder in die Gegenwart holt. Für die SPD bedeutet dies das kontinuierliche Eingehen auf Konflikte, innerhalb der Partei, innerhalb der Großen Koalition und in der Öffentlichkeit – nicht in Form von (Selbst-)Vorwürfen und Kompromisslosigkeit, sondern in Form einer politischen Authentizität, die kontinuierlich Gerechtigkeit und Zusammenhalt zu erreichen sucht, und diese Werte stets verteidigt. Authentizität fehlt der SPD gegenwärtig am stärksten. Nicht nur das Reden über, sondern das glaubhafte Leben von Gleichheitsprinzipien im politischen Alltag, z. B. im Umgang miteinander, statt innerparteilicher Machtkämpfe, oder auch die Formulierung von Politikmaßnahmen statt dem Erliegen von Lobbyinteressen wären Schritte in die richtige Richtung. Versuche, Alternativen zu Sachzwängen zu suchen und demokratische Möglichkeiten immer wieder neu zu denken und zu entdecken, ist eine Option, Gestaltungsmacht in Anspruch zu nehmen. Es eröffnet Wege kontinuierlicher Erneuerung als ein Prozess, der in den gegenwärtigen modernen Gesellschaften niemals abgeschlossen sein kann. Wird das neue politische Subjekt dieser Handlungsoptionen gewahr, so kann es sein, dass sich die spill-over-Effekte von sozialen Bewegungen auf die SPD auch in Form steigender Mitglieder oder Wähler äußern.

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