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© Foto: picture alliance / Hans Ringhofer / picturedesk.com | Hans Ringhofer

Gespräch mit Jessica Rosenthal, Bundesvorsitzende der Jusos »Politik muss die Verzahnung mit der Gesellschaft stärker in den Blick nehmen«

Seit Januar 2021 ist Jessica Rosenthal Bundesvorsitzende der Jusos. Bei der Bundestagswahl im September tritt sie für den Wahlkreis Bonn als Direktkandidatin der SPD an. Sie hat Deutsch, Geschichte und Bildungswissenschaften auf Lehramt studiert und arbeitet derzeit an einer Bonner Gesamtschule. Im Gespräch mit Thomas Meyer umreißt sie, worauf es den Jusos im Wahlkampf besonders ankommt.

NG|FH: Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zu Deiner Wahl zur Juso-Vorsitzenden und zur Nominierung als Direktkandidatin. Das war ja schon ziemlich turbulent in der ersten Jahreshälfte. Für beide Herausforderungen viel Erfolg, viel Glück und Spaß, wenn möglich.

Jessica Rosenthal: Danke, am Erfolg arbeiten wir.

NG|FH: Worum geht es bei der anstehenden Bundestagswahl überhaupt im Kern?

Rosenthal: Im Prinzip geht es jetzt darum, die Weichen dafür zu stellen, dass wir jungen Menschen und unsere Kinder noch eine gute Zukunft haben können, und das in verschiedenen Dimensionen. Da ist zum einen natürlich der Klimawandel und die Frage, wie wir damit umgehen. Die Frage lautet nicht mehr, ob wir Klimapolitik machen, sondern es geht darum, wie wir sie machen, denn Klimapolitik ist auch Wirtschaftspolitik. An der Klimapolitik hängt auch der Erhalt unseres Wohlstandes, der Erhalt guter Arbeit. Deswegen ist völlig klar, dass wir diesen Wandel jetzt gestalten müssen und nicht verwalten, nicht aussitzen können, wie wir das in der politischen Kultur der vergangenen 16 Jahre erlebt haben. Wir können uns eine Union in der Regierung nicht mehr leisten, die immer mit beiden Beinen auf der Bremse steht. Das, was wir umgesetzt haben – insbesondere in der Krise –, was wir gestaltet haben, das war nur gegen massive Widerstände möglich. Dafür haben wir künftig keine Zeit mehr.

»Wir können uns eine Union in der Regierung nicht mehr leisten, die immer mit beiden Beinen auf der Bremse steht.«

Der andere Wandel, der sich vollzieht, umfasst die Veränderungen in der Arbeitswelt angesichts einer voranschreitenden Digitalisierung. Wie schaffen wir es, dass alle Menschen davon profitieren und nicht nur wenige, dass alle am Ende auch mehr Zeit haben? Das bedeutet eine viel bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Dafür braucht es zahlreiche Debatten, die wir auch angestoßen haben: Ob es nun um langfristige Arbeitszeitkonten geht, in denen man seine geleisteten Arbeitsstunden ansparen kann, oder ob es um das Recht auf Homeoffice und mehr Recht auf Nicht-Erreichbarkeit geht. Aus meiner Sicht müssen wir auch über Arbeitszeitverkürzungen sprechen.

NG|FH: Viele waren überrascht, dass als Überschrift über dem Regierungsprogramm und auch über der Rede von Olaf Scholz »Aus Respekt vor Deiner Zukunft« steht. Die guten alten Grundwerte der Sozialdemokratie tauchen da gar nicht mehr auf. Wie ist denn das Verhältnis zwischen diesem scheinbar neuen Leitbegriff »Respekt« und den sozialdemokratischen Grundwerten? Sind letztere außer Kraft gesetzt?

Rosenthal: Ich glaube kaum, dass man die Grundwerte einer Partei außer Kraft setzen kann, denn unsere gesamte Programmatik und Identität sind darauf aufgebaut. Das heißt, alles, was wir tun, erwächst aus diesen Grundwerten, natürlich auch Begriffe wie Respekt. Ich glaube, dass Respekt verschiedene Konnotationen hat. So, wie die SPD Respekt versteht, geht es ja ganz klar um Anerkennung, natürlich auch mit Blick auf den Lohn, also auf gute Arbeit. Es geht in diesem Zusammenhang aber auch um eine Haltungsfrage: Wie begegnen wir einander? Begegnen wir uns auf Augenhöhe mit gegenseitiger Akzeptanz der Haltung und Meinung anderer oder tun wir das nicht? Letztlich geht es also um Fragen der Demokratie. Aber es geht auch um Fragen der Zukunft. Das macht doch Sozialdemokratie seit 150 Jahren aus: Wir sind nicht angetreten, um Zukunft zu verwalten, sondern um sie zu gestalten.

NG|FH: Okay. Und wie ist das mit der Gleichheit? Sie ist ja ein besonderes Bedürfnis dieser Zeit. Die Ungleichheit ist gigantisch angewachsen und es ist uns ja noch nicht gelungen, diesen Trend abzubremsen oder gar umzukehren. Welche Rolle spielt also die Gleichheit?

Rosenthal: Ich bin Jungsozialistin, deswegen spielt die Gleichheit auf jeden Fall eine große Rolle.

NG|FH: Worin besteht der besondere Beitrag der Jungsozialisten zu dieser Bundestagswahl bzw. im Wahlkampf?

Rosenthal: Zum einen werden wir personell dafür sorgen, dass das ein anderer Bundestag sein wird, in dem auch die Stimmen junger Menschen eine große Rolle spielen. Es kandidieren 78 Jusos für den Bundestag. Das heißt, die politische Kultur wird sich verändern, dafür sorgen wir Jusos. Wir haben in den letzten Jahren für eine linkere Programmatik gekämpft, auf die sich 2019 die ganze Partei einigen konnte. Viele dieser inhaltlichen Aspekte stehen jetzt in unserem Zukunftsprogramm. Es geht dabei um Fragen von Gleichheit, von Umverteilung, und Fragen zur Zukunft der Arbeit. Konkret geht es etwa um die umlagefinanzierte Ausbildungsplatzgarantie, die Erhöhung des BAföGs, Studienfinanzierung als Vollzuschuss, Ausgestaltung der Ticketpreise im ÖPNV, bezahlbaren Wohnraum und Mietendeckelung – für all diese Punkte haben wir uns eingesetzt, weil besonders junge Menschen profitieren. Es geht um vermeintliche Kleinigkeiten wie die Cannabislegalisierung, aber eben auch um die großen Themen wie Vermögensteuer oder das Bürgergeld.

NG|FH: Also Ihr steht ja voll hinter dem Programm, wie die Abstimmungsergebnisse auf dem Parteitag gezeigt haben. Das war ja in der Vergangenheit nicht immer der Fall.

Rosenthal: Wir haben in den letzten zwei, drei Jahren viel verhandelt und hart gearbeitet. Und in diesem Programm manifestiert sich, dass sich die SPD seit 2019 in die richtige Richtung verändert hat.

NG|FH: Im Programm steckt also viel Juso?

Rosenthal: Für uns könnte natürlich immer noch ein bisschen mehr drin sein, aber es steckt schon eine Menge drin.

NG|FH: Kannst Du mal knapp die Hauptdifferenzen zu den Grünen und zur Linkspartei markieren?

Rosenthal: Im Verhältnis zu den Grünen sehe ich den Unterschied klar in unserem Hauptaugenmerk auf den Investitionen – gerade im Bildungsbereich – genauso wie auf die Absicherung von Arbeit. Auch die Weiterentwicklung von Arbeitsplätzen spielt bei uns eine ganz andere Rolle. Und wir haben eine andere Vorstellung davon, wie die Arbeit der Zukunft ausgestaltet sein soll. Über Themen wie Langzeitkonten habe ich bereits gesprochen. Auch auf die Arbeitszeitverkürzung und die umlagefinanzierte Ausbildungsplatzgarantie werden wir einen Schwerpunkt legen. Klimapolitik ist Grundlage für gute Arbeitsmarktpolitik. Beides erfordert einen Staat, der jetzt auch bereit ist, stark zu investieren – in die Daseinsvorsorge, die Infrastruktur, den Umbau der Wirtschaft. Genau das wollen wir tun. Außerdem machen wir in diesem Wahlkampf genau deshalb klar, dass die Union in die Opposition gehört, während die Grünen offensichtlich mit Schwarz-Grün liebäugeln.

Mit Blick auf die Linkspartei würde ich sagen, dass wir in unserer außenpolitischen Haltung seit langer Zeit eine ganz klare Linie verfolgen: Wir brauchen Europa als zentrale Anlaufstelle und wir brauchen Bündnisse für Frieden und Dialog, aber mit einer sehr großen Ernsthaftigkeit in der Aufstellung. Und wir wollen im Umverteilungsbereich wirklich vorankommen. Gut klingende Schlagzeilen reichen uns nicht, wir haben auch die Konzepte in der Schublade. Olaf Scholz sagt zum Beispiel, dass er als Kanzler in den ersten 100 Tagen die Kindergrundsicherung umsetzen würde.

NG|FH: Du hast Europa als wichtigen Differenzpunkt gegenüber der Linkspartei erwähnt. Im Regierungsprogramm ist von einem »solidarischen Europa« die Rede. Was heißt das konkret? Wo muss in der realen Politik angesetzt werden oder ist das mehr ein allgemeiner Appell?

»Wir wollen mehr Europa schaffen und daher auch die Mittelausstattung der EU entsprechend angehen.«

Rosenthal: Wir wollen auf jeden Fall auch die finanzielle Handlungsfähigkeit Europas stärken. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der am Ende auch dafür sorgt, dass diese Union auch funktionieren kann. Wir wollen mehr Europa schaffen und daher auch die Mittelausstattung der EU entsprechend angehen. Bezüglich der Geflüchtetenfrage oder bei der Bewältigung der Corona-Krise gibt es einen ganz dringenden Handlungsbedarf.

NG|FH: Respekt ist ja ein guter Begriff. Aber die Frage stellt sich, ob eine Regierung, ob Politik dafür überhaupt etwas tun kann. Denn Respekt ist ja eher eine Frage des direkten Handelns, des Verhaltens zwischen Menschen. Kann da eine Regierung viel bewirken, um den Respekt in der Gesellschaft zu verbessern, zu vermehren?

Rosenthal: Auf jeden Fall, denn Politik schafft auch ein gesellschaftliches Klima, einerseits durch die Führungsperson und andererseits durch die Art und Weise, wie sie gestaltet wird. Immer mehr Menschen wenden sich von Politik ab, weil sie nicht mehr das Gefühl haben, gehört zu werden und sich einbringen zu können. Aber Politik kann nie alleine agieren, sondern benötigt immer die gesellschaftliche Ein- und Rückbindung.

Ich glaube, dass die Verzahnung mit der Gesellschaft genau der Punkt ist, den Politikerinnen und Politiker wieder stärker in den Blick nehmen müssen, damit die Menschen nicht das Gefühl haben, Politik würde aus einem ominösen Elfenbeinturm heraus betrieben. Sie hat ganz viel mit den Menschen zu tun, die das ja auch alle tagtäglich betrifft. Wenn wir dann etwa über Umverteilungsfragen sprechen, dann ist das der Kern von Respekt. Wir haben zurzeit einen Pflegebereich, auf den wir alle angewiesen sind, den aber reihenweise Menschen verlassen, weil sie den Druck nicht mehr aushalten. Das betrifft dann ganz konkret die Arbeitsmarktpolitik: die Zahlung von Tariflöhnen oder die Schaffung vernünftiger Arbeitsbelastungsbedingungen, wenn also zum Beispiel Vollzeit nicht mehr 40 Wochenstunden bedeutet, sondern nur 30. So kann man ganz andere Bedingungen schaffen; und das muss Politik leisten, wenn sie Respekt ins Zentrum ihres Handelns stellt.

NG|FH: Welches ist Dein zentraler Aspekt?

Rosenthal: Es gibt natürlich ziemlich viele Aspekte, die mir sehr wichtig sind. Bei den Jusos steht aber ganz oben auf der Liste die umlagefinanzierte Ausbildungsplatzgarantie. Damit ist gemeint, dass jeder junge Mensch das Recht auf eine Ausbildung hat und diese auch bekommen wird. Wir wollen die Unternehmen verpflichten, ihrer Verantwortung stärker gerecht zu werden. In diesem Wahlkampf wollen wir aber auch auf eine bessere Ausstattung von Schulen hinarbeiten sowie auf die Ausweitung des Anspruchs auf BAföG und dessen Erhöhung. Damit wollen wir gerade junge Menschen erreichen.

Wir haben uns auch für einen beitragsfinanzierten ticketlosen ÖPNV stark gemacht, dazu gibt es im Wahlprogramm auch ein Modellprojekt. Das wirkt auf den ersten Blick unspektakulär, stellt aus meiner Sicht aber einen Paradigmenwechsel in der Verkehrspolitik dar und gestaltet die Verkehrswende auch tatsächlich. All diese Themen treiben uns besonders um.

NG|FH: Wie sehen denn die realistischen, ernsthaften Erwartungen für den Wahlausgang im September aus? Kann es unter den aktuellen Bedingungen einen Bundeskanzler Olaf Scholz überhaupt geben oder wäre nicht auch etwa eine Vizekanzlerschaft in einer grün-rot-roten Regierung mit einer Kanzlerin Annalena Baerbock eine Möglichkeit?

Rosenthal: Es wird Zeit, dass die SPD das Kanzleramt übernimmt. Davon bin ich fest überzeugt. Da braucht man nur die ersten zehn Seiten des Zukunftsprogramms zu lesen, um das zu erkennen. Ich möchte die Dinge, die da stehen, umsetzen. Für all die genannten Ziele braucht es die SPD im Kanzleramt, weil nur die SPD diese wichtigen Weiterentwicklungen angehen wird. Von daher gibt es für mich auch keine Alternative bei der Frage, wer im Kanzleramt sitzen sollte.

NG|FH: Bei der Bundestagswahl 2017 ist der SPD-Kandidat in Bonn mit den Erststimmen gewählt worden, die Zweitstimmen der SPD waren geringer. Kann das noch mal klappen?

Rosenthal: Ich kämpfe in Bonn um das Direktmandat. Gerade in einer Stadt wie Bonn gibt es eine rot-rot-grüne Mehrheit. Die entscheidende Frage ist: Bei wem zahlt es am Ende ein? Wenn man sich meine Gegenkandidatin von den Grünen anschaut, dann erkennt man, dass man da nur ein Thema bekommt und das ist Energiepolitik. Bei mir bekommt man Bildungspolitik, Gerechtigkeitsfragen, aber eben genauso auch Klimapolitik. Ich arbeite als Lehrerin an einer Gesamtschule. Ich sehe jeden Tag, was Corona für die Kinder bedeutet hat und ich glaube, dass es auch diese Perspektive braucht. Wenn ich mit den Eltern spreche, wird klar, dass Bildungspolitik wieder zu einem zentralen Thema werden muss. Und genau das ist mein Versprechen an die Bonnerinnen und Bonner: Bildungspolitik und damit die Zukunft unserer Kinder kommen für mich an erster Stelle. Ich denke schon, dass ich hier eine hohe Glaubwürdigkeit mitbringe. Das Direktmandat zu erringen ist natürlich harte Arbeit, aber das muss uns gelingen.

Wenn man sich die Gesamtlage anschaut, glaube ich, dass noch längst nicht ausgemacht ist, dass es auf einen Zweikampf hinauslaufen wird. Die Menschen werden sich fragen, wer das Kanzleramt – auch in diesen schwierigen Zeiten des großen Wandels – tatsächlich handwerklich gut ausfüllen kann, wer dafür die richtigen Konzepte hat. Uns muss es deshalb gelingen, mit unseren Konzepten etwa im Bildungs- und Sozialbereich zu überzeugen und diese Themen nach vorne zu schieben.

»Die Menschen werden sich fragen, wer das Kanzleramt tatsächlich handwerklich gut ausfüllen kann, wer dafür die richtigen Konzepte hat.«

NG|FH: Die Kanzlerin konnte bereits bei der Wahl 2013 sagen: »Sie kennen mich« – und damit waren alle inhaltlichen Diskussionen zugedeckt. Sie ist nun nicht mehr dabei und die Kandidatinnen und Kandidaten der anderen Parteien sind keine so glänzenden Figuren, dass sie alles überdecken. Daraus ergibt sich die Chance, dass dieses Mal die Inhalte stärker zur Geltung kommen. Von welchen Faktoren wird aus jetziger Sicht der Wahlausgang wohl letztlich abhängen? Von den Personen, vom weiteren Verlauf der Corona-Eindämmung, oder welches andere Thema wird den Ausschlag geben?

Rosenthal: Ich glaube, dass die Corona-Bewältigung auf jeden Fall eine maßgebende Rolle spielen wird. Insbesondere durch den Korruptionsskandal der Union, aber natürlich auch durch das schleppende Impftempo und vieles andere mehr, wurde wahnsinnig viel Vertrauen verspielt. Nur wenn sich letzteres beschleunigt, wird sich nach meiner Auffassung die Sichtweise auf die Regierung noch mal ändern. Klar ist aber auch, dass große Megathemen wie die Bewältigung des Klimawandels weiterhin eine besondere Bedeutung haben werden. Auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes wird ein zentrales Feld sein.

Für mich ist wichtig, dass wir vor allem auch über Bildungspolitik sprechen und über das Gesundheitswesen, denn wir haben in den letzten Monaten einmal mehr gesehen, dass wir da nicht gut aufgestellt sind. Wenn wir jetzt so allmählich aus der Pandemie herauskommen und sich der Blick auf das Danach richtet, dann muss es unser klarer Punkt sein – und das sage ich aus inhaltlicher Überzeugung, nicht aufgrund strategischer Aspekte –, dass wir Lehren daraus ziehen und vieles anders machen.

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