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Steffen Reiche hat seine Erinnerungen vorgelegt Politiker und Pfarrer aus Leidenschaft

Im Pfarrhaus von Schwante (Brandenburg) fand am 7. Oktober 1989 die Neugründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) unter maßgeblicher Mitwirkung von Steffen Reiche statt. Reiche hat diesen Prozess samt aller Vor- und Nacharbeiten nun in seinem autobiografischen Essay Tief träumen und hellwach sein ausführlich beschrieben. Eingehend hat er sich – anders als andere sozialdemokratische Politiker, die vor ihm ihre Erinnerungen vorlegten, z. B. Friedrich Schorlemmer, Richard Schröder und Markus Meckel – mit der Begründung der protestantischen Denknähe zur Sozialdemokratie befasst. Eine Alternative dazu, etwa CDU oder PDS, schien ihnen allen undenkbar zu sein.

Die politisch prekären Verhältnisse in der real existierenden DDR, die sich erst mit den Veränderungen in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow langsam auch in breiten Kreisen bemerkbar machten, hatten für die Evangelische Kirche auch zunehmende »Vorteile«: Auch die Nicht-Pastorensöhne und -töchter, die zu keinem Universitätsstudium zugelassen wurden, wählten sehr oft das Theologiestudium an kirchlichen Hochschulen, das tat auch Steffen Reiche, den sie nicht an der Babelsberger Filmhochschule immatrikulieren wollten.

Was für Theologiestudenten im Westen Deutschlands Pflicht- und Prüfungsfach war, das Studium der neueren Kirchengeschichte, war für einen Pfarrer in der DDR die existenzielle Grundlage. Nämlich die Lehre aus dem Kirchenkampf der Bekennenden Kirche gegen die Nazidiktatur auf der Basis der Theologischen Erklärung von Barmen (1934), die von Karl Barth, der in sich einen Theologen und Sozialdemokraten vereinigte, formuliert worden war.

Dass auch in der Bundesrepublik evangelische Theologie und Sozialdemokratie oft eng beieinander lagen und liegen, zeigen die Beispiele Jürgen Moltmann (»Theologie der Hoffnung«) und der Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber und Heinrich Bedford-Strohm. Nachdem Reiche auf dieser Basis seine Entscheidung für das Theologiestudium gefällt hatte, wurde er »stolz und fröhlich« denn »ich wusste, das ist das freiste Studium, was es in der DDR gab«, schließlich konnten Pfarrer »frei reden und denken«.

In diesem Kontext wurden ihm zwei Bücher bedeutsam (die heute selbst in der Politologie weitgehend in Vergessenheit geraten sind): Die Revolution entlässt ihre Kinder von Wolfgang Leonhard (1955) und die Kleine Geschichte der DDR von Hermann Weber (1980), aus Sicht eines Westlers. Die Relevanz gerade dieser Schriften für einen mit praktischer Politik befassten Theologen erstaunen doch.

Im aktuellen Essay von Reiche gibt es für Studierende der Politikwissenschaften aufschlussreiche Kapitel. Wie geht es zu im Ringen um parteipolitische Schwerpunkte und allemal um die Machtpositionen in Partei und Regierung? Der Autor erzählt darüber im (subjektiven) Detail. Seine Obsiege waren hart erkämpft, schließlich war er Gründer und einige Jahre SPD-Landesvorsitzender, zumal Minister und eine Legislaturperiode Cottbusser Bundestagsabgeordneter, bis man ihn schließlich »ausgrenzte«.

Lange – m. E. zu detailversessene – Abschnitte des Buches befassen sich im Einzelnen mit Aufbau und personellen Internas der SPD in Brandenburg. Zusammen mit Manfred Stolpe prägte er den Begriff des »Brandenburger Weges«, um »das Beste für das Land zu entwickeln«. Mit Fug und Recht ist das gelungen, wie er zufrieden bilanziert.

Die Erinnerung des heute 60-jährigen Pfarrers in Berlin-Nikolassee ist wohl auch Ausdruck eines nimmermüden politischen und evangelischen Lebenselixiers: »Tief träumen und hellwach sein.« Mit diesem Motto blickt er eben nicht nur auf einen ihm wichtigen Lebensabschnitt zurück, sondern auch nach vorn.

Steffen Reiche: Tief träumen und hellwach sein. Politiker und Pfarrer mit Leidenschaft. Ein autobiografischer Essay. J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2020, 264 S., 24 €.

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