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Die unterschiedlichen Optionen liegen auf dem Tisch Politikwechsel light oder Richtungswechsel?

Wenige Monate vor der Bundestagswahl zeigt sich, dass das Interesse der drei Parteien SPD, DIE GRÜNEN und DIE LINKE an einer gemeinsamen Koalitionsregierung nicht sehr groß ist. Die Führung der GRÜNEN hat sich schon lange fast völlig aus jeder öffentlichen Diskussion darüber ausgeklinkt. Sie hält sich alle Optionen völlig offen und konzentriert sich ganz auf ausgewählte eigene Projekte. Der Vorsitzende der SPD und Kanzlerkandidat Martin Schulz strebt vor allem eine von der SPD geführte Regierung an und sucht dafür mögliche passende Partner. Unter diesem Aspekt hat sich auch der SPD-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Thomas Oppermann, im Dezember 2016 in der NG|FH geäußert. Im Zentrum stand für ihn die Frage, wie sich die Linkspartei so verändern müsste, damit sie für eine Regierung unter SPD-Führung infrage käme. Sein Fazit: »Die Partei DIE LINKE vertritt im Bund noch immer Positionen, die sich kategorisch gegen die Einbindung in EU und NATO richten. Das kann weder für die SPD noch für DIE GRÜNEN die Grundlage einer gemeinsamen Politik sein.« Die Linkspartei ihrerseits will mehrheitlich die ewige Oppositionsbank verlassen, besteht aber auf einer Neuorientierung der Bundespolitik. Deshalb hat der jüngste Parteitag einerseits ein explizit linkes Programm verabschiedet, in außenpolitischen Fragen die Tür für Koalitionen zugleich nicht versperrt. Fundamentalopposition ist das nicht. Ein Bekenntnis zu Rot-Rot-Grün (R2G) aber sieht anders aus. Wie Sahra Wagenknecht in ihrer Antwort auf Thomas Oppermann formuliert: »Entscheidend ist (…), dass ein Regierungswechsel mit einem klaren Politikwechsel verbunden ist. Denn noch mehr Enttäuschung und Frust wird mit großer Wahrscheinlichkeit einen weiteren Rechtsruck nach sich ziehen. Das können und dürfen wir uns nicht leisten« (NG|FH 3|2017).

Hinter diesen Differenzen steht tatsächlich die Grundfrage: Bedarf es einer grundlegenden Veränderung der Politik in Deutschland – ja oder nein? Gesine Schwan hat die Frage des Politikwechsels in ihrem Beitrag zur Diskussion mit Recht ins Zentrum gerückt: »Aus sozialdemokratischer Sicht ist er (der Politikwechsel – M. B.) dringend fällig: für mehr Gerechtigkeit in Deutschland, Europa und global – das steht obenan – und damit für mehr Zusammenhalt und Solidarität. Beides sind Grundlagen für echte politische wie private Freiheit, auf die jeder ein Recht hat und die im Zentrum sozialdemokratischer Politik steht« (NG|FH 4|2017). Dieser Politikwechsel, so heißt es am Ende ihres Beitrags, »ist vor allem in der deutschen Europapolitik ohne Rot-Rot-Grün gegenwärtig nicht vorstellbar«.

Meines Erachtens ist es gerade diese Frage des Politikwechsels, die zwischen SPD und der Partei DIE LINKE, von den GRÜNEN ganz zu schweigen, nicht geklärt ist. In allen drei Parteien gibt es, wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht, zwei gegensätzliche Positionen. Die Diskussion um mögliche Koalitionen verdeckt diese Gegensätze mehr als dass sie sie erhellt. Politikwechsel hat zwei Bedeutungen. Er kann bedeuten, dass einem Weiter-so neue Akzente hinzugefügt werden. Dies ist ein »Politikwechsel light«. Politikwechsel kann aber auch bedeuten, dass die gesellschaftspolitischen Grundlagen der Politik verändert werden. Das wäre ein »Politikwechsel als Richtungswechsel«.

Jene, die einen Politikwechsel light unterstützen, sehen die Bundesrepublik in einer guten Lage und auf Erfolgskurs. Dieser soll stabilisiert werden, indem die Ergebnisse des wirtschaftlichen Erfolgs gerechter verteilt und mehr in die Zukunftssicherung investiert wird, nicht zuletzt für die Bildung, die die FDP als zentrales Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat, oder für ökologische Projekte seitens der GRÜNEN. All dies schließt auch die Rücknahme bestimmter Härten der Agenda 2010 ein. Das Rentenniveau wäre nicht weiter abzusenken. Nicht nur SPD und DIE GRÜNEN, sondern auch die CSU drängen darauf. Eine entsprechende Modifikation in der EU-Politik gehört dazu. Das Drängen auf eine Sparpolitik, um die öffentlichen Haushalte auszugleichen oder sogar einen Überschuss zu »erwirtschaften«, soll durch gezielte Unterstützungsmaßnahmen ergänzt werden. In der Außen- und Sicherheitspolitik sollen die kooperativen und entwicklungspolitischen Akzente verstärkt werden.

Weiter-so oder anders?

Eine solche Veränderung der Politik wäre weniger ein Wechsel derselben als ihre Anpassung. Wesentliche Schritte der sozialen Anpassung konnte die SPD schon in der gegenwärtigen großen Koalition erreichen. Die Wahl von Donald Trump in den USA und, ganz anders, die von Emmanuel Macron in Frankreich, die Ergebnisse des Brexit-Referendums und die Parlamentswahlen in Großbritannien erhöhen die Chancen für eine Anpassung auch in der Europapolitik. Je nach Ausgang der Bundestagswahlen kann dies mit intensiveren Bemühungen um ökologische Reformen einhergehen oder nicht. Diese politische Orientierung mit all ihren möglichen Nuancen wäre kein schlichtes »Weiter-so«, sondern eher ein »Weiter«, mit einem »Anders« als Beigabe – in Deutschland seit 2005 durchaus ein Erfolgsrezept. Angela Merkel hatte damals schmerzhaft gelernt, dass sie neoliberale Prinzipienpolitik beinahe den Wahlsieg gegen Gerhard Schröder gekostet hätte. Diese Lektion hat sie niemals vergessen.

Je nach Regierungszusammensetzung können sich die Akzente dieser Politik des Weiter-so und des Anders verschieben. Der Unterschied, ob die Regierung dabei von Angela Merkel oder Martin Schulz geführt wird, ist – folgt man der hier vertretenen Position – zwar nicht unwesentlich, aber auch nicht richtungsentscheidend. Die Linkspartei hat in einer solchen Konstellation deshalb keinen Platz, weil sie erstens dafür gar nicht gebraucht wird und zugleich ihr eigenes Profil verlieren würde. Es wäre der sichere Weg in die Bedeutungslosigkeit. Besondere soziale oder auch friedenspolitische Anliegen kann sie unter den Bedingungen eines Politikwechsels light wie bisher mehr oder minder wirkungsvoll aus der Opposition heraus vertreten und dadurch Politik beeinflussen. Über zwölf Jahre hindurch hat ihr dies Wahlergebnisse von 8 % und mehr beschert. Man kann dies als ewiges Ausharren als Hinterbänkler der Bundespolitik verspotten, nur sollte der Blick auf Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn vorsichtig werden lassen, dass sich dies nicht einmal auch auszahlen kann und dann Hinterbänkler im Rampenlicht stehen. Vertrauenswürdigkeit für die »altlinken« Positionen von Gerechtigkeit oder Frieden ist ein hoher Wert. Die Politik des Weiter, nur etwas anders, kann sehr erfolgreich durch CSU/CDU, FDP, DIE GRÜNEN und SPD getragen werden. Bei Strafe ihres eigenen Untergangs und des Ausfalls jeder linken Opposition zum Sozialliberalismus in Deutschland gilt dies jedoch nicht für die Linkspartei. Ihr Ziel, so zeigte auch der jüngste Parteitag, ist nicht die Beteiligung an einer Mitte-links-Regierung, sondern die Schaffung der Voraussetzungen für und die Beteiligung an einer linken Regierung in Deutschland.

Wie die stürmische Hinwendung nicht zuletzt auch junger Leute zur SPD unter der Führung von Martin Schulz Anfang dieses Jahres zeigte, gibt es nicht nur in den USA oder Großbritannien ein Bedürfnis nach wesentlich mehr als einem Weiter und etwas anders. Linke Politik ist durchaus gefragt, kann attraktiv sein, selbst wenn ältere Männer sie verkörpern. Wie groß muss die Not sein! Schon die Betonung von Gerechtigkeit und die Hinwendung zu den Sorgen der Leute, die »auf Kante« leben oder denen die Zukunft Sorgen macht, reichte hin für das kurze Umfragehoch der SPD. Ein Schuss wirklicher Zukunft und vor allem überzeugende konkrete Antworten auf einen Politikwechsel aber blieben aus. Damit fehlte es dem Aufbruch an Kraft und er wurde unglaubwürdig. Der Abstand der SPD zu CDU/CSU hat sich wieder auf das alte Niveau vergrößert, während es CDU und CSU gelungen ist, die AfD zu schwächen und davon deutlich zu profitieren. Das Hoffnungskapital, das in Martin Schulz investiert wurde, war schnell verbrannt. Und die FDP ist der Phönix aus der Asche, erscheint neu als liberale Fortschrittspartei, während DIE GRÜNEN an den Rand gedrängt und auf ihre Kerngruppen reduziert sind. Die Chance, dass Martin Schulz die Kanzlerin Angela Merkel mit einem weitgehend gleichen Politikangebot aus dem Feld schlagen könnte, ist nahe Null. Und selbst wenn – für die Linkspartei könnte dies kein hinreichender Grund für eine Regierungsbeteiligung sein. In einer solchen Situation bliebe ihr nur eine Option: Das Angebot der Tolerierung einer Minderheitsregierung, wenn die SPD dies wollen würde und darauf angewiesen wäre, um den Kanzler zu stellen.

Jene, die auf einen Richtungswechsel der Politik drängen, sehen bei der Dominanz eines Weiter-so die EU als Ganzes und die Eurozone im Besonderen am Auseinanderbrechen. Sie gehen davon aus, dass heftige Erschütterungen durch Finanz- und Wirtschaftskrisen, Terror und Krieg, ökologische Katastrophen bevorstehen und die Gesellschaft durch die Verunsicherung und die Abwertungsängste größerer Teile der Bevölkerung zerrissen werden kann. Ein »Muddling-Through« kann Zeit kaufen, wie Wolfgang Streeck überzeugend nachwies. Doch der Sprengstoff für die Zukunft, so die Annahme der Befürworter eines Richtungswechsels, wird dabei weiter aufgehäuft, während die Präventionskräfte geschwächt werden.

Die Grundzüge einer Politik des Richtungswechsels sind oft diskutiert worden. Die vier Grundsäulen sind Gerechtigkeit, Sicherheit, Einstieg in den sozialökologischen Umbau der Gesellschaft und eine sehr offensive Politik der Solidarität und gemeinsamen Entwicklung in der EU und gegenüber ihren Nachbarn im Osten Europas, dem Kaukasus, dem Nahen und Mittleren Osten sowie Nordafrika. Eine solche Politik beginnt mit Umverteilung – von den privaten Haushalten hin zu den öffentlichen und von oben nach unten. Wer die Umverteilungsfrage nicht stellt, meint es weder mit Gerechtigkeit noch dem Umbau ernst. Ohne eine massive Umverteilung lassen sich die Fundamente der Sicherheit – Bildung, Gesundheit, Pflege, Integration, Kultur und auch Polizeipräsenz in der Fläche – nicht im notwendigen Maße ausbauen. Gerade komplexe und fragmentierte Gesellschaften sind auf den Reichtum des Öffentlichen angewiesen. Gemessen wird eine solche Politik auch daran, dass sie ein Rentensystem schafft, dass nicht nur armutsfest ist, sondern den erreichten Lebensstandard wieder zu sichern vermag. Dies ist keine Frage für die Alten, sondern für die Jungen, die fest davon ausgehen, dass auch 48 % des Durchschnittseinkommens als Rentenniveau, wie sie die SPD jetzt diskutiert, für viele von ihnen Armut bedeuten werden.

Auf der Grundlage von gerechter Umverteilung und Sicherheit können dann auch anders die Zukunftsfragen besprochen werden. Die ökologische Sanierung des gesamten Gebäudebestandes der Städte und Kommunen, eine Energiewende, die die Produktion und Versorgung in die Hände der Kommunen, der Regionen, sich miteinander vernetzender Genossenschaften legt und nach der Atomkraft auch aus der Kohle aussteigt, eine Verkehrswende, die den Weg zu einer autoarmen und mobilitätsreichen Gesellschaft der Zukunft öffnet, Internetbibliotheken mit dem freien Zugang zum Wissen der Gegenwart und der Vergangenheit usw. Deutschland sollte Geld für umfangreiche Experimente mit neuen Produktions- und Lebensweisen bereitstellen, beginnend beim Grundeinkommen (wie in Finnland), dem entgeltfreien ÖPNV (wie in Estlands Hauptstadt Tallinn) bzw. klimaneutralen Kommunen (wie es Ludwigsburg anstrebt). In Zeiten der Unsicherheit sind Vielfalt und Experimente die entscheidenden Voraussetzungen, um für die Zukunft zu lernen und in Krisen schnell und intelligent reagieren zu können.

Diese Ansätze sind auch EU-weit von Bedeutung. Den Jahrzehnten der Integration Europas über die Märkte, sprich durch Konkurrenz der Standorte, Jahrzehnten einer negativen Integration also, müssen jetzt Jahrzehnte folgen, in denen die positive solidarische Integration im Vordergrund steht. Eine Währungszone ohne aktive Umverteilung, die die Entwicklungspotenziale der Schwächeren stärkt, kann keinen Bestand haben. Eine Union formell gleicher Staaten, wo die Starken die Schwächen abhängen, muss zerfallen. Das immer wieder beschworene Friedensprojekt EU lassen wir uns nur 1,2 % des Bruttosozialprodukts kosten. Das kann nicht funktionieren und rechnet sich auch für keinen, wie die Friedrich-Ebert-Stiftung immer wieder aufgezeigt hat. Und Anrainerstaaten, in denen die Menschen die Hoffnung auf ein würdiges Leben verloren haben, zerfallen in Bürgerkrieg und Terror, angeheizt durch externe Parteien und Militärinterventionen. Die europäische Politik hat die Konsequenzen aus dieser Lage längst nicht gezogen. Die bisherige Krisenpolitik hat den Zusammenbruch der Eurozone zwar verhindert, aber keine solidarische Entwicklungsdynamik ausgelöst.

Es liegen also zwei Optionen auf dem Tisch: ein beruhigendes Weiter-so mit fälligen Anpassungen und der Hoffnung, es werde schon gut gehen, oder aber die Einleitung eines Richtungswechsels. Die Übergänge sind fließend, aber nicht beliebig. Der Unterschied zwischen beiden Ansätzen kann nicht verdeckt werden. Der Richtungswechsel fordert anders als ein Politikwechsel light ungeheure Anstrengungen, muss hart erkämpft werden, verlangt große zusätzliche Aufwendungen. Doch er könnte auch Hoffnung machen und die Lust auf Neues – Hoffnung und Lust, wie sie in Deutschland zuletzt Willy Brandt mit seinem Wort »Mehr Demokratie wagen« und der Entspannungspolitik zu geben vermochte. Wenn sich SPD, Grüne und Linkspartei darauf verständigen würden, würde ich meinen Genossinnen und Genossen dringend empfehlen, weit über den eigenen Schatten zu springen. Noch aber kann ich nicht erkennen, dass es bei den möglichen Anwärterinnen und Anwärtern für einen solchen Aufbruch die innere Überzeugung, den Kampfeswillen und die überzeugende moralische Autorität gibt, die dafür notwendig und unverzichtbar sind. Aber wenn die Welt derart aus den Fugen ist, dann ist nicht nur Schlimmes, sondern auch unerwartet Gutes möglich. Es sind Zeiten, in den wir gefordert sind, die Chancen zu ergreifen – für eine gerechtere und friedlichere Welt. Eines sollte daraus geschlussfolgert werden: Der Dialog zwischen SPD, den GRÜNEN und der Partei DIE LINKE miteinander und mit vielen gesellschaftlichen Kräften ist aktueller denn je. Jähe Wendungen sind wahrscheinlich.

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